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Als Gestaltungsmomente sind im Wesentlichen zwei über die ganze Novelle hinweg zu beobachten:
1. die Bindung der Handlung durch sich wiederholende Motive
2. die Kennzeichnung des Geschehens durch Ironie.
Der Gebrauch von Motiven, die wie in der Musik als 'Leitmotive' eingesetzt werden, ist für Thomas Manns Erzählweise von Anfang an so charakteristisch, dass man meinen könnte, er habe ihn in die Literatur eigentlich eingeführt. Das allerdings ist nicht der Fall. Er kommt in der deutschen Erzählliteratur auch z.B. bei Theodor Fontane schon vor, wie mit der ständigen Rede des alten Briest vom 'weiten Feld' in Erinnerung zu rufen ist. Thomas Mann hat dieses Darstellungsmittel aber virtuos entwickelt und es unverkennbar zu einem Merkmal seines Stiles gemacht. Angeregt hat ihn dazu auch nicht die Literatur, sondern die Musik, wie er immer wieder betont hat, nämlich Richard Wagner, in dem er stets einen großen Epiker sah und liebte. Weiter heißt es in dem Aufsatz "Über die Kunst Richard Wagners" von 1911:
Das Motiv, das Selbstzitat, die symbolische Formel, die wörtliche und bedeutsame Rückbeziehung über weite Strecken hin, - das waren epische Mittel nach meinem Empfinden, bezaubernd für mich eben als solche; und früh habe ich bekannt, daß Wagners Werke so stimulierend wie sonst nichts in der Welt auf meinen jugendlichen Kunsttrieb wirkten ...
Auf die Handhabung dieses Kunstmittels wird deshalb im weiteren besonders geachtet.
Der ironische Erzählgestus, das zweite Charakteristikum von Thomas Manns Stil, ist zwar auch mit seinem Namen untrennbar verbunden, hat sich aber in seinem Werk erst im Laufe der Zeit herausgebildet. Die frühen Novellen und auch die "Buddenbrooks" sind noch keineswegs durchgängig in dieser Form erzählt, sondern weisen noch umfangreiche Textpartien ohne ironische Elemente auf. Erst oder erstmals in "Tristan" zeigt sich der ironische Stil voll entwickelt, ohne dass ihn Thomas Mann in den nachfolgenden Werken deshalb immer beibehält. Sicherlich hat sein Vorherrschen in dieser Geschichte also auch mit dem Sanatoriums-Milieu zu tun, das seinen Spott - wo immer er es kennengelernt hat - in besonderer Weise herausforderte. Auch später der "Zauberberg" lebt ja ganz wesentlich von dem spöttischen Blick auf diese geschlossen-andersartige Welt.
Die Thomas Mann'sche Ironie besteht nicht in der klassischen Form darin, dass das Gegenteil dessen gesagt wird, was gemeint ist, sondern sie ergibt sich aus einem Wechsel von Mehr und Weniger, von Über- und Untertreibung, Verharmlosung und Dramatisierung, Abwertung und Aufwertung oder welcher Differenz immer gegenüber dem, was 'üblicherweise' zu den verhandelten Sachen gesagt werden würde. Dieses Prinzip setzt - wie bei der Karikatur - die Kenntnis dessen, was tatsächlich der Fall ist, bei dem Leser voraus, lässt ihn damit aber teilhaben an dem Blick eines überlegenen Beobachters, der durch nichts oder kaum etwas zu beeindrucken ist.
Benutzte Literatur: Seiler, Ironischer Stil und realistischer Eindruck
                  1986
Angesichts der Vielzahl ironischer Wendungen in dieser Geschichte werden nachfolgend nur die markantesten benannt, es lassen sich jederzeit weitere Belege für sie finden.
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Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 1 des Novellentextes ... mit Grotten, Laubengängen und kleinen Pavillons aus Baumrinde ergötzlich ausgestattet ...
Da 'ergötzlich' zu 'ausgestattet' nicht passt, d.h. sich hier ein emphatischer mit einem sachlichen Begriff verbindet, kann das Lob nicht ernst gemeint sein: der Geschmack der Gartenanlage wird in Zweifel gezogen.
Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 2 des Novellentextes ... alle diese Individuen, die, zu schwach, sich selbst Gesetze zu geben und sie zu halten, ihm ihr Vermögen ausliefern, um sich von seiner Strenge stützen lassen zu dürfen.
Natürlich liefern Patienten dem Arzt nicht ihr Vermögen aus, schon gar nicht, um sich von seiner Strenge stützen zu lassen, sondern die Behandlung, durch die sie gesund zu werden hoffen, ist nur teuer. Der größtmöglichen Geldausgabe wird also nur ein sehr geringer Effekt zugestanden und damit der ganze Sanatoriumsbetrieb schon fast als ein Schwindel hingestellt.
Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 3 des Novellentextes ... sie klettert in den Wäscheschränken umher, sie kommandiert die Dienerschaft und bestellt unter den Gesichtspunkten der Sparsamkeit, der Hygiene, des Wohlgeschmacks und der äußeren Anmut den Tisch des Hauses, sie wirtschaftet mit einer rasenden Umsicht ...
Lauter Übertreibungen: Wäscheschränke sind nicht so groß, dass man in ihnen 'umher klettern' kann, das Tischdecken verdient die Unterscheidung von 'Gesichtspunkten' nicht, und 'rasende Umsicht' ist eigentlich ein Widerspruch in sich selbst. Fräulein von Osterloh ist also jemand, der sich mit einer eigentlich banalen Aufgabe außerordentlich wichtig tut.
Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 4 des Novellentextes Herrschaften mit Herzfehlern ... Nervöse in allen Zuständen ... Ein diabetischer General ... Herren werfen auf jene unbeherrschte Art ihre Beine, die nichts Gutes bedeutet.
Lauter mokante Herabsetzungen: Menschen mit Herzfehlern sind keine 'Herrschaften', 'Nervöse' sind eigentlich keine Kranken, ein 'diabetischer General' ist weniger ernst zu nehmen als ein pensionierter General mit Diabetes, und das unbeherrschte Werfen der Beine kann sicherlich nie etwas Gutes bedeuten. - Alle Kennzeichnungen, besonders die der 'unbeherrschten Beine', werden noch mehrfach wiederholt, sodass sie auch Motiv-Charakter haben.
Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 5 des Novellentextes In stiller Nacht wird der wächserne Gast beiseite geschafft ... mit allen Errungenschaften der Neuzeit ausgestattet ...
Der 'wächserne Gast' ist eine respektlos Beschönigung, während umgekehrt die 'Errungenschaften der Neuzeit' dem Hochwert-Vokabular von Anzeigen und Hausprospekten entsprechen.
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Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 6 des Novellentextes Sogar ein Schriftsteller ist da, ein exzentrischer Mensch, der den Namen irgendeines Minerals oder Edelsteines führt und hier dem Herrgott die Tage stiehlt ...
Erster Hinweis auf Spinell nach Art eines sich entwickelnden Motivs, sodass der Name, als er in Abschnitt 4 genannt wird, gewissermaßen nur dessen letzter Ton ist.
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Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 6 des Novellentextes ... noch ein zweiter Arzt vorhanden, für die leichten Fälle und die Hoffnungslosen. Aber er heißt Müller und ist überhaupt nicht der Rede wert.
Hier wird vorbereitet, was es zu bedeuten hat, wenn nach der 'Tristan'-Nacht Doktor Müller die Behandlung von Gabriele Klöterjahn übernimmt. - Mit dem 'Aber' wird der Allerweltsname 'Müller' zum Inbegriff der Unbedeutendheit und in karikaturistischer Zuspitzung auch noch gesagt, dass dieser Arzt 'nicht der Rede wert' sei.
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Sprung zu Abschnitt 2 Absatz 1 des Novellentextes ... und es entspann sich eine erste, für beide Teile orientierende Konversation.
Da über den Inhalt dieser 'Konversation' nichts gesagt wird, handelt es sich um weiter nichts als den Austausch einiger Begrüßungsformeln, d.h. es liegt eine ironische Übertreibung vor.
Sprung zu Abschnitt 2 Absatz 3 des Novellentextes ... wenn auch nicht zu leugnen ist, dass Herr Klöterjahn es anstandslos auf deutsch hätte sagen können.
Es ist nicht bloß zu leugnen, dass Herr Klöterjahn sich auf deutsch hätte ausdrücken können, sondern es wäre das Nächstliegende gewesen, d.h. seine Sprechweise wird ironisch beschönigt.
Sprung zu Abschnitt 2 Absatz 4 des Novellentextes als ob die beiden Braunen ... mit rückwärts gerollten Augen angestrengt diesen ängstlichen Vorgang verfolgten, voll ängstlicher Besorgnis ...
Eine ironische Übertreibung, da dies den Pferden selbstverständlich völlig egal ist.
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Sprung zu Abschnitt 2 Absatz 6 des Novellentextes Dies blaue Äderchen über dem Auge beherrschte auf eine beunruhigende Art das ganze feine Oval des Gesichts.
Das 'blaue Äderchen' ist ein Motiv, das in den Abschnitten 6, 7 und 8 noch ein halbes Dutzend Mal wiederholt wird - immer als ein Zeichen für Gabriele Klöterjahns Schwäche und künstlerische Sensibilität.
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Sprung zu Abschnitt 3 Absatz 1 des Novellentextes ... ein befremdender Kauz, dessen Name wie der eines Edelsteines lautete, verfärbte sich geradezu ...
Die Wiederholung der Namensankündigung, die jetzt schon nicht mehr von 'irgendeinem Mineral oder Edelstein' spricht, sondern von einem bestimmten.
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Sprung zu Abschnitt 3 Absatz 2 des Novellentextes ... und hatte dortselbst vor zwiefacher Jahresfrist dem Großhändler Klöterjahn ihr Jawort fürs Leben erteilt.
Eine übertrieben förmliche Ausdrucksweise, die die Art und Weise ironisch verstärkt, in der über Gabriele Klöterjahn im Sanatorium gesprochen wird.
Sprung zu Abschnitt 3 Absatz 4 des Novellentextes ... ein unbedeutendes bisschen Blut; aber es wäre doch besser überhaupt nicht zum Vorschein gekommen ...
Eine wiederum untertreibende Bemerkung, da es nicht bloß 'besser' nicht zum Vorschein gekommen wäre, sondern den Unterschied zwischen Krankheit und Gesundheit bedeutet.
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Sprung zu Abschnitt 3 Absatz 4 des Novellentextes ... als ein Kurgast von 'Einfried', ein Schriftsteller von Beruf ...
Ein drittes Mal klingt das 'Spinell-Motiv' an, jetzt nur noch auf seinen Schriftsteller-Beruf hinweisend. Erst danach, in Abschnitt 4, wird der Name genannt und er selbst vorgestellt.
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Sprung zu Abschnitt 3 Absatz 4 des Novellentextes ... ihn auf dem Korridor in ziemlich unerlaubter Weise mit einem Stubenmädchen scherzen sah, - ein kleiner, humoristischer Vorgang ...
Eine ironische Untertreibung, da natürlich weder das 'unerlaubte Scherzen' noch dessen Kennzeichnung als 'kleiner, humoristischer Vorgang' den Sachverhalt der sexuellen Belästigung zutreffend wiedergeben.
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Sprung zu Abschnitt 4 Absatz 2 des Novellentextes Spinell hieß der Schriftsteller, der seit mehreren Wochen in 'Einfried' lebte ...
Neben der kostbaren Seite der Bedeutung soll vielleicht auch eine abwertende in dem Namen anklingen, nämlich der 'Spinner'.
Sprung zu Abschnitt 4 Absatz 2 des Novellentextes ... große, kariöse Zähne und Füße von seltenem Umfange ... Einer der Herren ... hatte ihn hinter seinem Rücken 'der verweste Säugling' getauft; aber das war hämisch und wenig zutreffend ...
Da diese Merkmale noch mehrfach wiederholt werden, sind sie für Spinell auch Leitmotive. Für den 'verwesten Säugling' hat das gleichzeitig einen ironischen Zug, da der Erzähler einerseits diesen Spitznamen für 'wenig zutreffend' erklärt, ihn andererseits aber doch mitteilt. Während er also Spinell in Schutz zu nehmen vorgibt, beteiligt er sich schadenfroh an seiner Verspottung. Das ist Autor-Ironie: der Erzähler ist hier gewissermaßen auf einer menschlichen Schwäche zu ertappen.
Sprung zu Abschnitt 4 Absatz 3 des Novellentextes Er war ungesellig und hielt mit keiner Seele Gemeinschaft. ... "Wie schön!", sagte er dann, indem er den Kopf auf die Seite legte, die Schultern emporzog, die Hände spreizte und Nase und Lippen krauste.
Auch diese Kennzeichnungen wiederholen sich nach Art von für Spinell angeschlagenen Motiven.
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Sprung zu Abschnitt 5 Absatz 7 des Novellentextes Dieses wiederholte 'Ich weiß nicht' deutete an, dass Doktor Leander keine großen Stücke auf den Schriftsteller hielt und jede Verantwortung für ihn ablehnte.
Die Hinzufügung, dass Doktor Leander mit seinem 'Ich weiß nicht' seine geringe Meinung von Spinell zum Ausdruck bringen will, ist ganz unnötig, d.h. sie richtet sich als Überdeutlichkeit spöttisch gegen den Erzähler. Es sieht so aus, als traue dieser seinem eigenen Darstellungsvermögen nicht. Aber natürlich steht hinter diesem Spott wiederum der Autor Thomas Mann, der von Fall zu Fall auch den Erzählvorgang ironisch kenntlich macht.
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Sprung zu Abschnitt 5 Absatz 13 des Novellentextes Er hielt gar keine großen Stücke auf den Schriftsteller.
Eine nochmalige übertriebene Deutlichkeit, die man gleichzeitig allerdings auch als das Innenbild Doktor Leanders auffassen kann, der bei jeder Berührung mit Spinell dieselbe Empfindung hat.
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Sprung zu Abschnitt 6 Absatz 8 des Novellentextes ... Auch die Rätin Spatz lachte und fand es merkwürdig; aber sie sagte nicht, dass sie es verstünde. ... Auch die Rätin Spatz wollte es erklärt haben. ... Auch die Rätin Spatz nannte es Selbstüberwindung.
Die wie ein Echo sich anschließende Kennzeichnung der Reaktion der Rätin Spatz wertet deren stereotypes Nachplappern ironisch auf, da ihm jeweils in ein eigener Satz zugestanden wird.
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Sprung zu Abschnitt 6 Absatz 24 des Novellentextes "Ich weiß nur ein Gesicht, dessen veredelte Wirklichkeit durch meine Einbildung korrigieren zu wollen sündhaft wäre" ... "Ja, ja, Herr Spinell. Nur dass Fräulein von Osterloh doch ziemlich abstehende Ohren hat."
Hier macht sich Gabriele Klöterjahn über Spinell lustig oder wehrt seine Huldigung, bevor er sie ganz aussprechen kann, ironisch ab - auch sicherlich mit der Besorgnis der Ehefrau, die sich auf ein so verfängliches Gesprächsthema wie ihre Schönheit mit einem anderen Mann nicht einlassen will.
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Sprung zu Abschnitt 7 Absatz 29 des Novellentextes "Wie schön!" sagte Herr Spinell und zog die Schultern empor. "Saßen Sie und sangen?" "Nein, wir häkelten meistens." - "Immerhin ... Immerhin ... "
Mit dem 'Immerhin' macht sich der Erzähler über Spinells Schönheits-Maßstab per Übertreibung lustig: Singen als Ausdruck der Schönheit selbst, Häkeln wenigstens als Beschäftigung im Dienste des Schönen. Später wird das dann vollends ins Lächerliche gezogen. Auf Spinells Brief-Behauptung 'Sie sangen' erwidert Klöterjahn: 'Sie sangen gar nicht! Sie strickten. Außerdem sprachen sie, soviel ich verstanden habe, von einem Rezept für Kartoffelpuffer' (siehe unter Abschnitt 11, Absatz 18). Der von Spinell vorgenommenen Ästhetisierung wird die banalste praktische Lebensorientierung entgegengesetzt.
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Sprung zu Abschnitt 7 Absatz 55 des Novellentextes " Es ist nicht das erste Mal, dass ich Sie von der Gesundheit Ihres kleinen Anton sprechen höre, gnädige Frau. Er muss ganz ungewöhnlich gesund sein?"
Auch dies ist eine ironische Übertreibung: man ist entweder gesund oder ist es nicht, ungewöhnlich gesund kann man nicht sein. Der Logik des Dialogs nach könnte sich Spinell hier über Gabriele Klöterjahn lustig machen und sie würde das mit ihrer bestätigenden Antwort noch nicht einmal bemerken. Das würde jedoch zu beiden nicht passen. Es ist deshalb zu folgern, dass sich auch in diesem Falle der Erzähler über die betreffende Konstellation verdeutlichend lustig macht.
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Anders als sonst wird in diesem Abschnitt weitgehend unironisch erzählt, nur am Anfang gibt es einige mokante Formulierungen. Der Grund: Spinells 'Tristan'-Begeisterung soll nicht ins Lächerliche gezogen werden, zu ihr hat Thomas Mann die ihm sonst eigene ironische Distanz nicht. Natürlich wäre es ein Leichtes gewesen, die ganze Opernwiedergabe fragwürdig erscheinen zu lassen: durch eingestreute übertriebene Ausrufe, durch Bemerkungen zu verdrehten Augen, einem knarrenden Stuhl, gelegentlich falsch angeschlagenen Tönen usw., doch all dies unterbleibt. Die Tristan-Verehrung adelt Spinell, sie scheint sogar in der Überbeanspruchung Gabriele Klöterjahns nicht verkehrt. Bevor es zu den betreffenden Vorgängen kommt, wird die Sanatoriums-Gesellschaft allerdings noch einige Male in der gewohnten Weise karikiert.
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 1 des Novellentextes ... und die Herren mit den unbeherrschten Beinen waren ganz außer Rand und Band.
Die leitmotivisch gekennzeichneten 'Herren mit den unbeherrschten Beinen' werden hier mit einem weiteren ironischen Attribut belegt: sie sind 'außer Rand und Band'. Die umgangssprachliche Wendung für das Verhalten von Kindern passt zu 'Herren' natürlich überhaupt nicht.
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 2 des Novellentextes Dass aber auch Herrn Klöterjahns Gattin erklärte, daheim bleiben zu wollen, verstimmte allseitig.
Das nüchtern summarische Urteil - 'verstimmte allseitig' - stellt eine ironische Verminderung der behaupteten allgemeinen Verstimmung dar, es nimmt sie nicht wirklich ernst.
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 6 des Novellentextes Die 'Schweren' lagen in ihren Zimmern und litten.
Auch hier wird mit der lakonischen Mitteilungsform das Leiden der Schwerkranken ironisch heruntergespielt: es scheint so wenig von Belang zu sein wie das Zittern von Frierenden oder das Gähnen von Müden.
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Abgesehen davon, dass aus Wagners "Tristan und Isolde" bestimmte Partien des zweiten Aufzuges zitiert werden (siehe unter ZITATE), ist auch die Szene im Salon selbst der Liebesnacht-Szene des zweiten Aufzugs der Oper nachgebildet. So wie König Marke mit seinem Gefolge unter Hörnerschall zur Jagd aufbricht, bricht die Sanatoriums-Gesellschaft mit 'Schellenklang und Peitschenknall' zu ihrer Schlittenpartie auf, und so wie dort Tristan und Isolde nebst deren Dienerin Brangäne zurückbleiben, bleibt hier Spinell mit Gabriele Klöterjahn und der Rätin Spatz zurück. Diese lässt dann die beiden Wagnerianer im Salon wiederum genauso allein, wie Brangäne das Liebespaar allein lässt, und auch noch das Auftauchen der Pastorin Höhlenrauch kann mit dem zweiten Akt der Oper in Beziehung gesetzt werden. Es beendet die Liebesnacht-Szene, so wie in der Oper die Rückkehr der Jagdgesellschaft sie beendet, und hier wie dort nimmt das Geschehen für das überraschte Paar - oder jedenfalls für einen der Partner - seinen tödlichen Verlauf.
So weit, so kunstvoll, doch mehr als das ist es auch nicht. Alle darüber hinaus in der Sekundärliteratur hergestellten Parallelen zwischen dem Geschehen bei Thomas Mann und dem Geschehen bei Wagner vernachlässigen, dass die Geschichte um Detlev Spinell nicht die 'Tristan'-Geschichte ist. Spinell hat nicht für Klöterjahn um Gabriele Eckhof geworben, sie sich nicht in einem solchen Zusammenhang in ihn verliebt, überhaupt ein Liebesverhältnis zwischen ihr und Spinell sich nicht entwickelt, und schließlich stirbt nicht zuerst er und sie ihm aus Liebe nach, sondern sie stirbt allein und er bleibt am Leben. Hier irgendwelche Beziehungen zu "Tristan und Isolde" zu unterstellen und dann Thomas Manns Leistung darin zu sehen, dass er alles anders gemacht hat, ist abwegig.
Benutzte Literatur: Young, Montage and Motif  in Thomas Mann's 'Tristan', 1975
Auch literarische Travestien nämlich müssen, um noch welche zu sein, der Vorbild-Geschichte in den Hauptzügen folgen, und das ist hier nicht der Fall. Damit aber sind irgendwelche Handlungsparallelen zwischen der Novelle und der Oper im wahrsten Sinne des Wortes nebensächlich, sie tragen zum Verständnis der Novelle nichts bei. Nur ein Element gibt es, in dem sich die beiden Werke auch dem Sinne nach berühren, und das ist der Liebestrank, insofern er bei Thomas Mann wiederkehrt in der gemeinsamen Hingabe an die Musik Richard Wagners. So wie bei Wagner und überhaupt im Tristan-Mythos der Liebestrank Tristan und Isolde unabweislich zueinander führt, so sind Detlev Spinell und Gabriele Klöterjahn in der Aufnahme der Wagner-Oper einander zugetan, und auch sie sind es jenseits aller Vernunft. Man könnte geneigt sein, Spinell wegen seiner 'Verführung' Gabrieles zum Klavierspiel für gewissenlos zu halten, aber das ist nicht gemeint. Die Musik Richard Wagners ist Schicksal, und wenn Gabriele an ihr stirbt und Spinell nicht, so besagt das nur, dass sie dieser Musik noch stärker verfallen ist als er. Klöterjahn und der kleine Anton sind sie nie wirklich etwas angegangen, sie gehörte der Musik, und so stirbt sie auch, indem sie 'ein Stückchen Musik' vor sich hin summt (siehe Abschnitt 11, Absatz 24). Dies ist es, was Spinell veranlasst, am Ende ihres Klavierspiels vor ihr niederzuknien, und dies auch ist es, was Thomas Mann auf jede Ironie ihr gegenüber verzichten lässt. Wahres Künstlertum ist für ihn niemals lächerlich, und selbst der Halbkünstler Spinell, wo er - wie hier - in diese Sphäre hineinreicht, steht damit auf einer höheren Stufe. Das ist die eigentliche Aussage dieser Szene, nicht irgendeine Aus- oder Umdeutung von Wagners "Tristan und Isolde".
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Sprung zu Abschnitt 9 Absatz 9 des Novellentextes Rosig und weiß, sauber und frisch gekleidet, dick und duftig lastete er auf dem nackten, roten Arm seiner betressten Dienerin, verschlang gewaltige Mengen von Milch und gehacktem Fleisch, schrie und überließ sich in jeder Beziehung seinen Instinkten.
Dies ist ein schönes Beispiel für Thomas Manns Eigenart, die Wirklichkeit in Kontrasten zu erfassen, wie es besonders für sein frühes Werk charakteristisch ist. Die erste Hälfte der Beschreibung besteht aus positiven Elementen - rosig, sauber, duftig -, die zweite aus übertrieben negativen: verschlang gewaltige Mengen von gehacktem Fleisch, schrie, überließ sich seinen Instinkten. Das ist mitunter sogar für erzählerisches Unvermögen erklärt worden: Thomas Mann sei nicht in der Lage, die Wirklichkeit angemessen wiederzugeben, sondern verfehle sie nur andauernd und überlasse es dem Leser, sich selbst das rechte Mittel davon zu bilden.
Benutzte Literatur: Rothenberg, Das Problem des Realismus bei Thomas Mann, 1969
Tatsächlich handelt es sich jedoch auch hier um Ironie, nur nicht gegen die behandelten Erscheinungen, sondern um Selbstironie des Erzählers. So virtuos, wie das andauernde 'Verfehlen' der richtigen Proportionen gehandhabt wird, kann es nur Absicht sein, d.h. der Erzähler macht sich gewissermaßen über sein eigenes Unvermögen dabei lustig. Allerdings geht die Ironie nicht so weit, dass man ihn grundsätzlich deshalb nicht mehr ernst zu nehmen vermöchte. Sein Auftreten erinnert vielmehr an die Auftritte gewisser Zirkusartisten, die sich zu Clowns machen. Indem sie die geforderten Übungen in lächerlich unbeholfener Weise verfehlen, verspotten sie zwar den theatralischen Aufwand, mit dem solche Artistik für gewöhnlich inszeniert wird, vollbringen im Verfehlen aber selbst oft die größten artistischen Leistungen.
Benutzte Literatur: Seiler, Ironischer Stil und realistischer Eindruck, 1986
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Sprung zu Abschnitt 10 Absatz 9 des Novellentextes Erinnern Sie sich des Gartens, mein Herr, des alten, verwucherten Gartens hinter dem grauen Patrizierhause? ...
So wie Spinell die ihm durch Gabriele Klöterjahn geschilderte Szene ins Märchenhafte übertreibt, karikiert sich hier noch einmal sein durch und durch lebensferner Ästhetizismus. Zugleich verspottet Thomas Mann damit aber auch das Jugendstil-Milieu überhaupt, das immer darauf aus war, sich die gewöhnlichsten Dinge dekorativ zu verschönen.
Benutzte Literatur: Rasch, Thomas Manns Erzählung 'Tristan', 1964
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Sprung zu Abschnitt 12 Absatz 2 des Novellentextes Hierauf ging er zum Schreibtisch, holte ein kleines Flakon und ein Gläschen aus einem Fache hervor und nahm einen Kognak zu sich, was kein Mensch ihm verdenken konnte.
Mit dem banal formulierten Nachtrag werden das Flakon, das Gläschen und der Kognak den Normalbegriffen angenähert: Spinell trinkt wie jeder andere auf seine Erschütterung hin einen Schnaps. Das hat einen ironischen Effekt, da es seine Vornehmheit als Fassade kenntlich macht, es macht ihn aber auch menschlicher und damit dem Leser sympathischer.
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Sprung zu Abschnitt 12 Absatz 4 des Novellentextes Durch einen seelischen Vorgang, dessen Analyse zu weit führen würde, gelangte Herr Spinell zu dem Entschlusse, sich zu erheben und sich ein wenig Bewegung zu machen, sich ein wenig im Freien zu ergehen.
Auch hier tritt die vornehm formulierte Ankündigung eines bestimmten Entschlusses in einen ironischen Kontrast zu dem Sachverhalt, dass Spinell lediglich zu einem Spaziergang aufbricht. Dem 'seelischen Vorgang' wird deshalb auch weiter keine Aufmerksamkeit geschenkt.
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Sprung zu Abschnitt 12 Absatz 10 des Novellentextes Da aber geschah das Grässliche, dass Anton Klöterjahn zu lachen und zu jubeln begann ...
Mit der Schlusswendung, dass das Lachen des Kindes Spinell in die Flucht schlägt, wird ein letztes vernichtendes Urteil über ihn und seinen Ästhetizismus gesprochen: er kann vor der einfachsten Menschlichkeit nicht bestehen.