[Abschnitt 2]
Die kleine Stadt, in der meine Eltern wohnten, lag hart an der Grenze der Marschlandschaft ...
Da Storm in einem Brief an seinen Vater erklärt hat, die Schauplatz-Bestimmung beruhe auf einer
Anschauung des alten Eiderstedtschen Staatshofes
aus der Zeit, ... wo wir einmal von Friedrichstadt mit jungen Leuten beiderlei Geschlechts eine Tour dahin machten (siehe unter
ENTSTEHUNG), wird zumeist diese Gegend als
Schauplatz der Handlung benannt. Der Text bietet dafür jedoch keine Anhaltspunkte. Auch der Name 'Staatshof' ist nicht signifikant genug, einen bestimmten
Ort über ihn zu erschließen. Mit 'Marschlandschaft' wird also nur die nordfriesische Küstenregion als Handlungsraum angegeben.
... von einem Heck zum andern ...
Heck = Einzäunung.
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Hier bin ich in meiner Jugend oft gegangen ...
Auch die Zeit der Handlung wird mit diesem Rückgriff nur angedeutet, es muss sich aber - vom Erscheinungszeitpunkt rückgerechnet -
um das frühe 19. Jahrhundert handeln.
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... unter einer düsteren Baumgruppe von Rüstern und Silberpappeln ...
Rüster = Ulme; im allgemeinen wird nur das Holz der Ulme als 'Rüster' bezeichnet.
Das Haus war auf einer mäßig hohen Werfte nach der Weise des Landes gebaut, eine sogenannte
Heuberg, in welcher die Wohnungs- und Wirtschaftsräume unter einem Dache vereinigt sind; aber die Graft, welche sich ringsumher zog...
Werfte = Warft, eine für das Haus aufgeworfene Erhebung gegen Hochwasser.
Heuberg = Haubarg. Dass man Wohnteil, Stallungen und Scheune in einem einzigen Hause unterbrachte, erklärt sich aus
der begrenzten Fläche, die auf einer Warft immer nur zur Verfügung stand.
Graft = Wassergraben.
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Der Haubarg von Simonsberg nahe Husum.
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... in Besitz der nun gänzlich ausgestorbenen Familie van der Roden, aus der während der beiden letzten Jahrhunderte eine
Reihe von Pfennigmeistern und Ratmännern der Landschaft und Bürgermeistern meiner Vaterstadt hervorgegangen sind.
van der Roden = Der Name bezeichnet nicht etwa ein adliges Geschlecht, sondern ist - wie oft noch heute im
Holländischen - lediglich ein Herkunfts-Name.
Pfennigmeister und Ratmänner der Landschaft = Steuereinnehmer und Gerichtsherren in den Selbstverwaltungsgebieten
von Schleswig.
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... während ich meinen kleinen Kopf über die Lehne des Wagenstuhls recke ...
Wagenstuhl = die Sitzbank der offenen Kutsche
... und ich sehe eine alte Frau ... mit besonders weißer Fräse auf der Schwelle stehen ...
Fräse = gestärkte, hochstehende Halskrause.
Noch rieche ich auf dem dunkeln Hausflur den strengen Duft der Alantwurzel ...
Alantwurzel = Wurzel der Gattung Inula, einer Staude mit einer nach Kampfer und Pfefferminz
riechenden Wurzel, deren Extrakt auch zum Desinfizieren benutzt wurde.
... in der gedämpften Helligkeit, die durch die offene Seitenwand aus der angrenzenden Loodiele hereinfällt ...
Loodiele = Tenne, Raum zum Entladen der Fuhrwerke.
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... die bunten Schäferbilder, die drinnen auf die Wände gemalt sind ...
Schäferbilder = typische Wandmalerei des Rokoko, so wie die anderen Kennzeichnungen des Milieus als
Hinweis auf eine schon der Kindheit des Erzählers entrückte Zeit zu verstehen.
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Schäferbild aus dem mittleren 18. Jahrhundert.
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[Abschnitt 3]
... und ließ den Hof unter der Aufsicht des früheren Bauknechtes Marten ...
Bauknecht = niederdeutsch 'Buknecht', ein Großknecht mit den Aufgaben eines Verwalters.
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... die goldenen Schaumünzen ... oder oben auf dem Aufsatz der Schatulle die beiden Pagoden von chinesischem Porzellan ...
Schaumünzen = Medaillen, Gedenkmünzen.
Pagoden = Nippesfiguren von chinesischen Götzen, oft mit beweglichen Händen und Köpfen, ebenfalls eine Rokoko-Mode.
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Am Tage darauf ... hielt dann die schwere Klosterkutsche vor unsrer Haustreppe ...
Klosterkutsche = keine bestimmte Kutschenart, sondern wahrscheinlich die Mietkutsche eines Klosters
(der Begriff wird nicht nur von Storm, sondern auch z.B. 1849 von Justinus Kerner in seinem 'Bilderbuch aus meiner
Knabenzeit' gebraucht).
Wenn dann die Enveloppen und Tücher abgelegt waren ...
Enveloppen = Überkleider (franz.), also Umhänge, Tücher u.a.
... und erhielten unsern Anteil an den 'Eiermahnen' und 'Bieschen' ...
'Eiermahnen' und 'Bieschen' = Gebäckbezeichnungen, vielleicht 'Eiermonde' und 'Biskuit-chen'.
... als sei ich niemals unglücklicher in den Versuchen gewesen, meinen Kaffee aus der Ober- in die Untertasse umzuschütten.
Ober- und Untertasse = Mit dem Umschütten in die tiefe Untertasse wurde der Kaffee abgekühlt
und aus dieser - wie aus einer Schale - auch getrunken. Das Zeremonielle daran hatte seinen Grund vor allem in der Kostbarkeit
des Kaffees: mehr als eine Tasse wurde oft nicht ausgeschenkt. Mit der zunehmenden Üblichkeit des Kaffeetrinkens verlor
sich dieser Brauch und die Untertasse wurde ein flacher Teller.
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... die föhrenen Tische waren gescheuert ...
föhrene Tische = Tische aus Fichten- oder Kiefernholz.
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"Willst du nicht kommen, Marx?", fragte sie
endlich, "Großmutter hat gesagt, wir sollten einmal die Menuett wieder miteinander üben." Wir hatten
... diese altfränkischen Künste ... mit besonderer Sorgfalt eingeübt.
die Menuett = heute: das Menuett, ein im 17. Jahrhundert in Frankreich
aufgekommener Gesellschaftstanz in langsamem Dreivierteltakt, der bis ins 19. Jahrhundert hinein regelmäßig am
Anfang eines Tanzabends stand. Nach unseren Begriffen handelte es sich dabei allerdings weniger
um einen Tanz als um eine Tanzvorführung, da immer nur ein Paar tanzte und danach zur Seite
trat, um dem nächsten Paar Platz zu machen. Die einzelne Tanzsequenz dauerte nur zwischen
einer und zwei Minuten. Das Paar verneigte sich zunächst vor den Anwesenden und absolvierte
dann teils neben-, teils miteinander verschiedene Figuren, bei denen es hauptsächlich
auf die zierliche Setzung der Füße, elegante Verbeugungen und Knickse und ein gefälliges
Durchschreiten der Tanzfläche ankam. Der Vorschrift nach musste sich das Paar dabei so bewegen, dass die
Schrittfolge ein "Z" oder umgekehrtes "S" ergab.
Demonstration eines Menuetts durch Paige Whitley-Bauguess (New Bern, USA)
altfränkisch = altmodisch, - mehr ein Urteil aus der Mitte des 19. Jahrhunderts als eins der Handlungszeit.
... ich machte mein Kompliment, wie der Tanzmeister es mich gelehrt hatte ...
Kompliment = zeremonielle Verneigung.
... da glitten die kleinen Füße in den Korduanstiefelchen über den Boden ...
Korduan = weiches Ziegenleder.
... während wir hin und her chassierten ...
chassieren = Tanzbewegung in gerader Linie.
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Ich avancierte; aber Anne Lene kam mir nicht entgegen ...
avancieren = Tanzbewegung auf die Partnerin zu.
[Abschnitt 4]
... der weiße Sand lag so unberührt auf der Diele, und drüben der Spiegel war mit weißen
Damasttüchern zugesteckt.
weißer Sand = Die Fußböden wurden früher in Norddeutschland nach dem Scheuern mit
Seesand bestreut.
Spiegel zugesteckt = Das Verhängen der Spiegel zeigt einen Todesfall im Hause an, beruhend auf dem
Aberglauben, dass ein Abspiegeln des Todes weiteren Tod nach sich
ziehen würde.
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... seinen unzertrennlichen Begleiter, den Springstock, auf der Schulter ...
Springstock = längerer Stock zum 'Übersetzen' über einen Wassergraben.
... während Anne Lene auf dem Fußbrett um die Hecken ging ...
Fußbrett = Holzsteg zum Überqueren der Gräben.
... zwischen den hohen Sträuchern hing das Gespinst der Jungfernrebe ...
Jungfernrebe = Wilder Wein (Quinaria)
... in der schwülen Sommerzeit, wenn Jasmin und Kaprifolien blühten ...
Jasmin = umgangssprachliche Bezeichnung für den gemeinen Pfeifenstrauch.
Kaprifolie = Geißblatt, eine holzige Rankpflanze.
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Blüte des 'falschen Jasmin'.
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Geißblattblüte
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[Abschnitt 5]
Nach der Sitte des Landes, die bei der schweren Arbeit den Leuten in jeder Weise gestattet, sich die Brust zu lüften ...
sich die Brust lüften = frei von der Leber weg reden, sich keinen Zwang antun.
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Als wir auf die Werfte kamen, fanden wir die alte Wieb in Zank mit einer Bettlerin vor der Haustür stehen ...
Die Geschichte der Bettlerin ist so unklar gehalten, dass man ein bestimmtes Unrecht ihr gegenüber nicht
erschließen kann. Erkennbar ist nur, dass sie ein vaterloses oder uneheliches Kind war, dem als amtlicher Vormund Anne Lenes
Großvater bestimmt worden war. Alleinerziehende Frauen, wenn keine geeigneten männlichen Verwandten für die Vormundschaft zur
Verfügung standen, bekamen regelmäßig einen solchen amtlichen Vormund zugewiesen. Dem Amtmann van der Rhoden wird
angelastet, sie in dieser Eigenschaft um ihr mütterliches Erbgut betrogen zu haben - ein rechtlich allerdings
bereits zurückgewiesener und wohl auch von niemandem geglaubter Vorwurf. Will man sie nicht als schlichte Lügnerin
abtun, könnte man sich ihren Zorn so erklären, dass vielleicht ein Haus, das ihrer Mutter gehört hat, ihr nach deren
Tod und ihrer Volljährigkeit nicht zugesprochen wurde, weil es hoch verschuldet war. Falls der Amtmann selbst zu den
Gläubigern gehört hätte, könnte es darauf hinausgelaufen sein, dass er sein Geld gerettet und sie der Armut
überlassen hat. Storm, der als Amtsrichter solche Fälle sicherlich kannte, will die rechtlichen Einzelheiten hier
nicht ausbreiten, sondern nur andeuten, dass die van der Rhodens rücksichtslos auf ihren Vorteil bedacht waren - so
wie es Anne Lene auch versteht und mit dem Ablegen des Familienschmucks missbilligt.
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... dein Vater ist ein ehrlicher Mann; was läufst du mit der Dirne in der Welt umher!
Dirne = damals noch in der Bedeutung von 'Mädchen' und nicht etwa beschimpfend gemeint.
Die Bezeichnung hat hier allerdings etwas Gleichmacherisches, da die Bettlerin keine Rücksicht auf die höhere
soziale Stellung Anne Lenes nimmt.
[Abschnitt 6]
Ich war von dem Herrn Kammerjunker als ein junger bürgerlicher Mensch von vornherein mit einer mir sehr empfindlichen Oberflächlichkeit behandelt worden ...
Kammerjunker = ein Adliger, der Ehrendienste an einem Fürstenhof zu verrichten hat. - Dass
dies hier gemeint ist, erscheint aber zweifelhaft. Vermutlich liegt nur eine ironisch-übertriebene Kennzeichnung
dieses Adligen vor, weil andernfalls Anne Lene von vornherein keine geeignete Partie für ihn wäre.
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... unsre Familie saß in der Ligusterlaube beim Nachmittagskaffee, wozu außer dem alten Syndikus auch der Kammerjunker sich eingefunden hatte.
Liguster = eigentlich eine Heckenpflanze, aus der eine ganze Laube zu ziehen viel Aufwand bedeutet.
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Ein Torgang von Liguster
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Syndikus = Bevollmächtigter zur Besorgung von Rechtsgeschäften, hier wahrscheinlich der Stadtsyndikus.
... um im Hause die Bunzlauer Kanne aufs neue zu füllen ...
Bunzlauer Kanne = eine aus der niederschlesischen Stadt Bunzlau stammende Kanne aus Steingut, wie sie
zusammen mit anderem Bunzlauer Geschirr im 19. Jahrhundert weit verbreitet war.
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Bunzlauer Kanne
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[Abschnitt 7]
Etwa zwei Jahre später um Ostern kehrte ich als junger Doctor promotus in die Heimat zurück.
Doctor promotus = 'zum Doktor befördert' , also promoviert.
... dass das fortdauernde Sinken der Landpreise den Verkauf des Staatshofes nötig machen werde ...
Sinken der Landpreise = Ein Hinweis auf die Auswirkungen der 'Kontinentalsperre', mit der Napoleon von 1806
bis 1814 den Handel mit England unterbunden hatte. Der Export landwirtschaftlicher Güter dorthin kam dadurch zum
Erliegen und fügte den norddeutschen Ländern schweren wirtschaftlichen Schaden zu. Dass der Nachfolge-Besitzer
des Staatshofes nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft durch die Lieferung von Mastochsen nach England zu
Wohlstand kommt (siehe
ABSCHNITT 9), macht diesen
Zusammenhang ein zweites Mal deutlich.
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... vor uns auf dem Haffdeich sah man gegen den braunen Abendhimmel einzelne Fuhrwerke wie Schattenspiel ...
Haffdeich = Binnendeich. Da der Deich noch westlich - gegen den Abendhimmel - liegt, findet der Spaziergang ein ganzes
Stück von der Küste entfernt statt.
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... vernahm man die kurzen Laute der Brachvögel, die unsichtbar in den Furchen lagen; mitunter flog ein Kiebitz schreiend vor uns auf ...
Brachvogel = Großer Brachvogel, lebt in feuchten Wiesengebieten.
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Ein Großer Brachvogel
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Kiebitz = in Norddeutschland heimischer größerer Sumpfvogel, so benannt nach seinem
wie 'Kivit' sich anhörenden Ruf.
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Ein Kiebitz
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Da ich in das Boskett an der nördlichen Seite kam ...
Boskett = 'Wäldchen' (franz.), kleines Gehölz mit Buschwerk und einzelnen Bäumen, das im
Unterschied zum Nutzgarten den Parkteil des Haubarg-Grundstücks bildet.
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... am Butterfasse, wo sie abwechselnd mit der alten Wieb den Stempel führte ...
Stempel = Stampfer, mit dem der Rahm in einem Butterfass durchgearbeitet wird.
[Abschnitt 8]
... ich will dir einmal eine ordentliche Motion machen!
Motion = Bewegung ('Motion' ist deutsch auszusprechen).
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... werde ihm den Staatshof kaufen, sobald er zum Aufstrich komme ...
Aufstrich = Versteigerung.
... als wir später in Begleitung des Hofmanns zwischen den Baulichkeiten herumgingen ...
Hofmann = der Hofverwalter Marten.
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... indem er an den dicken Goldberlocken seine Uhr aus der Tasche zog.
Berlocken = Anhänger an der Uhrkette, gern von Schwestern oder Verehrerinnen den jungen Herren geschenkt.
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... ist nichts übrig gewesen als die schweren Hypotheken.
Hypotheken = Schulden, mit denen ein Grundbesitz belastet ist.
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... wir mussten uns mit einem Walzer begnügen ... Ich trat mit Anne Lene in die Reihe.
Walzer = Der Walzer, auch als 'Deutscher Tanz' bezeichnet, entsprach schon ziemlich dem heute noch
getanzten Wiener Walzer, nur dass das Tempo noch geringer war und noch in einer Gruppe getanzt wurde.
Die Paare stellten sich im Kreis auf und drehten sich zu zwei Dreiviertel-Takten jeweils einmal links herum um sich selbst,
während sich alle gleichzeitig auf dem Kreisbogen ein Stück weiter bewegten. Der Herr fasste die
Dame dabei um die Taille und sie legte ihm die Hände auf die Schultern. Die Kreisbildung
geriet aber leicht in Unordnung und jedes Paar suchte sich dann seinen eigenen Weg.
Der Deutsche Tanz von Mozart (1759-1791), "Die Leyerer", imitiert im mittleren
Teil mit Geigen die Leyer, die bei volkstümlichen Tanzbelustigungen oft das einzige Instrument war.
Wolfgang Amadeus Mozart: Die Leyerer (KV 611) - Orpheus Chamber Orchestra / DEUTSCHE GRAMMOPHON.
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Es ging so leicht zwischen den übrigen Paaren hin; ihre Augen glänzten; sie lächelte, und ihr Mund war geöffnet,
sodass die weißen Zähne hinter den feinen roten Lippen sichtbar wurden; ich glaubte es zu fühlen, wie die
Lebenswärme durch ihre jungen Glieder strömte.
Die Intimität des Walzers, anders als das Zeremonielle des Menuetts, hatte im 18. Jahrhundert noch
sittliche Bedenken erregt, weil die Frau sich dem Manne allzu sehr körperlich annähert. Da man sich
im 19. Jahrhundert den Tanzpartner mehr und mehr selbst aussuchen kann, macht jetzt aber gerade das
den Reiz des Tanzens aus.
[Abschnitt 9]
... er liefert die größten Mastochsen zum Transport nach England ...
Mit dieser Bemerkung erfasst Storm eine typische wirtschaftliche Entwicklung des mittleren 19. Jahrhunderts:
England als erstes europäisches Industrieland war mehr und mehr auf den Import landwirtschaftlicher
Produkte angewiesen.
Für Winfried Freund ist darüber hinaus auch der Abriss des alten Haubarg und die Trennung des
Wohnhauses von den Wirtschaftsgebäuden ein Ausdruck der sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse:
Der Haubarg war architektonisches Sinnbild der großbäuerlichen Lebenseinheit von Arbeit und Ertrag,
von bewirtschaftendem Menschen und bewirtschafteter Natur. Unablösbar einbezogen in diese Einheit waren
menschliche Selbstdarstellung und Erfüllung. Die Trennung in Wohn- und Wirtschaftsbereich ist Ausdruck der
neuen unternehmerischen Wirtschaftsgesinnung. Mit ihr beginnt sich der Zusammenhang von Natur, Arbeit und menschlicher
Selbstverwirklichung aufzulösen.

Die Aura von 'guter alter Zeit', die damit den früheren Zuständen verliehen wird, ist allerdings problematisch.
Storm lässt keinen Zweifel daran, dass es das Gewinnstreben der Vorfahren Anne Lenes war, das den Besitz der
van der Rodens ruiniert hat: neunzig Höfe waren ihnen nicht genug, es sollte das Hundert voll gemacht werden (siehe
ABSCHNITT 2). Eine Verklärung dieser patrizischen Vergangenheit liegt
ihm also fern. Was der Erzähler im Verschwinden des Haubargs bedauert, ist in erster Linie das Verschwinden der Welt
seiner Jugend - und das Aufkommen von Menschen, die vor der Vergangenheit keinen Respekt mehr haben.