Gestaltungsmerkmale Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
[Abschnitt 1]
Die verhältnismäßig lange Zeit, die Storm an dieser Novelle gearbeitet hat, mag dazu beigetragen haben, dass hier weniger bloß eine Stimmung ausgemalt als vielmehr ein Problem nach und nach zum Ausdruck gebracht wird. Der Spott Fontanes, man sehe Storm in den frühen Novellen beständig bibbern und zittern (Briefkonzept an Paul Heyse vom 19. Mai 1859), ist hier jedenfalls unangebracht. Die Geschichte ist hintergründiger, als sie im ersten Lesen erscheint, und sie ist gerade darin, dass sie das Entscheidende nur halb offenbart, von einer ganz unsentimentalen Kargheit.
Schon die Eingangspassage, die Storm erst in einem späten Stadium der Arbeit hinzugefügt hat (siehe das Manuskriptblatt unter ENTSTEHUNG), macht deutlich, dass es um mehr als nur um Erinnerung geht. Denn die Frage, ob es eine Tat war oder nur ein Ereignis, wodurch das Ende herbeigeführt wurde, deutet auch auf eine Schuld hin. Die Voranstellung dieses Gesichtspunktes aber kann nur heißen, dass es sich um eine Schuld des Erzählers und nicht um die einer anderen Person handeln wird.
Dies stellt auch David A. Jackson fest. Der Text suggeriere, so seine Bewertung, dass ein Schuldgefühl sowie auch ein Bedürfnis, sich und seine Leser von seiner Unschuld zu überzeugen, ihn [Marx] antreiben. Gleichzeitig werden aber natürlich Vorgänge mitgeteilt, die ein anderes Urteil nahe legen.
Benutzte Literatur: Jackson,  Theodor Storm, 
                  2001
[Abschnitt 2]
Sprung zu Abschnitt 2 Absatz 4 des Novellentextes Der letzte männliche Sprosse war als fünfzehnjähriger Knabe auf eine gewaltsame Weise ums Leben gekommen ... in die Trinkgrube gestürzt und ertrunken.
Ein Tod durch Ertrinken beendet auch schon das Leben des letzten männlichen Nachkommen der van der Rodens, des älteren Bruders von Anne Lene. Storm, um für seinen Erzähler nicht in den Verdacht künstlerischer Absichten aufkommen zu lassen, vermeidet aber jeden Hinweis darauf, dass auch Anne Lene später ertrinkt.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 2 Absatz 5 des Novellentextes ... in der gedämpften Helligkeit, die durch die offene Seitenwand aus der angrenzenden Loodiele hereinfällt, steht ein Mädchen meines Alters.
Dass Anne Lene genauso alt ist wie der Erzähler, steht hier als Mitteilung nicht zufällig. Es bedeutet nach den damaligen Begriffen, dass er später für ein Liebesverhältnis für sie kaum infrage kommt.
Sprung zu Abschnitt 2 Absatz 5 des Novellentextes "So", sagt sie endlich und atmet dabei aus Herzensgrunde, "so, nun bist du bald begraben!"
Für Jackson will der Erzähler mit dieser Szene zu verstehen geben, dass Anne Lene schon als Kind vom Tod fasziniert gewesen sei, während sie 'in Wirklichkeit' besage, dass sie sich schon als Kind einsam und verlassen gefühlt habe. Eine solche Widersprüchlichkeit ist jedoch im Text nirgendwo angelegt, d.h. es bleibt dem Leser überlassen, ob er dieses Kinderspiel überhaupt und - wenn - wie er es deuten will.
Benutzte Literatur: Jackson,  Theodor Storm, 
                  2001
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 2 Absatz 7 des Novellentextes Aber ich fürchte mich; ich habe gesehen, dass das hölzerne Haus auf dünnen Pfählen über dem Wasser steht.
Hier allerdings wird wieder sichtlich vermieden, darauf hinzuweisen, dass dieser Pavillon Anne Lene später zum Verhängnis geworden ist, wie es die Erzählsituation eigentlich nahelegen würde. Der Erzähler soll aber als Arrangeur seiner Geschichte nicht in Erscheinung treten, und so werden solche Vorausblicke unterlassen.
[Abschnitt 4]
Sprung zu Abschnitt 4 Absatz 2 des Novellentextes Ich merkte es kaum, als Anne Lene ihre Arme um meinen Hals legte und mich küsste, während ihre Tränen mein Gesicht benetzten.
Diese Bemerkung hat - als Erinnerung ausgesprochen - etwas Unrichtiges. Wenn der Erzähler die Umarmung und den Kuss Anne Lenes damals 'kaum gemerkt' hat, sollte er beides vergessen haben. Da er sich aber erinnert, sollte er sich vielleicht auch erinnern, dass es seiner Freude, "nun fortwährend in Gesellschaft des anmutigen Mädchens zu sein", damals Auftrieb gab, oder umgekehrt, dass es ihn verwirrte, bestürzte, noch lange beschäftigte usw. Indessen steckt hinter dieser Unstimmigkeit wohl keine Absicht. Storm hat nur für einen Moment außer Acht gelassen, dass er perspektivisch und nicht als Außenbeobachter erzählt. Das unterläuft ihm auch an anderen Stellen. Auch dass der Erzähler seine Kindesgestalt wiederholt als 'klein' bezeichnet - kleiner Kopf, kleine Hände usw. -, ist ein solcher perspektivischer Fehler. Ein Kind nimmt sich nicht in dieser Weise als niedlich wahr.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 4 Absatz 6 des Novellentextes Wir betraten diese Räume mit einer lüsternen Neugierde, obgleich wir wussten, dass nichts darin zu sehen sei als ... das leere Bettgestell der verstorbenen Besitzer.
Sprung zu Abschnitt 4 Absatz 6 des Novellentextes Anne Lene und ich drangen gern aufs Geratewohl in diesen Blütenwald hinein, um uns den Reiz eines gefahrlosen Irregehens zu verschaffen; und nicht selten glückte es, dass wir uns nach der feuchten Laube im Winkel des Gartens hinzuarbeiten meinten ...
Sprung zu Abschnitt 4 Absatz 6 des Novellentextes Dann sahen wir durch die erblindeten Fensterscheiben nach dem zärtlichen Schäferpaar hinüber das noch immer ... auf der Mitte der Wand im Grase kniete, und rüttelten vergebens an den Türen ...
Auf die andeutend sexuellen Momente dieser Beschreibung hat richtig Karin Tebben hingewiesen, nur allerdings mit der fragwürdigen Akzentuierung, dass der Erzähler hier wieder als ängstlicher Don Juan sichtbar werde, der der Annäherung an seine Angebetete ausweiche (zu Tebbens Aufsatz siehe unter ZITATE). Was Storm mit dieser Beschreibung erfasst, ist jedoch etwas anderes: die erwachende sexuelle Neugier dieser 13-, 14-jährigen, die - sich ihres Begehrens noch nicht bewusst - die gemeinsamen Streifzüge als eine geheimnisvolle Verlockung erleben.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 4 Absatz 7 des Novellentextes Anne Lene war, ehe ich mich dessen versehen, ein erwachsenes Mädchen geworden, während ich noch kaum zu den jungen Menschen zählte.
Diese sehr altersgerechte Feststellung, dass das gleichaltrige Mädchen plötzlich erwachsener ist als er, der Erzähler, macht klar, dass er an eine Liebesbeziehung zu seiner vormaligen Spielgefährtin nun kaum mehr denken kann.
[Abschnitt 5]
Sprung zu Abschnitt 5 Absatz 01 des Novellentextes ... waren wir mit einem ganzen Schauer von Schimpf- und Neckworten überschüttet worden; weder meine rote Schülermütze noch meine damals allerdings 'ins Kraut geschossene' Figur war verschont geblieben.
Der hier als unfertig und unreif verspottete Marx erfährt deutlich, was Anne Lene ihm in ihrer Entwicklung voraus hat, da sie von den Arbeitern eher 'unbewusste Huldigungen' empfängt.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 5 Absatz 11 des Novellentextes Mich übermannte bei dem Anblick meiner jungen hilflosen Freundin der Zorn ...
Sobald aber Anne Lene in Bedrängnis gerät, vergisst er seine Unfertigkeit und übernimmt der 'jungen hilflosen Freundin' gegenüber die Rolle des Beschützers. Das zeigt, wie er eigentlich zu ihr steht und dass er ihr gern näher wäre, als es ihm der Entwicklungsunterschied zu dieser Zeit zu erlauben scheint.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 5 Absatz 15 des Novellentextes Aber nach einigen Tagen war das Diamantkreuz von Anne Lenes Hals verschwunden, und ich habe dieses Zeichen alten Glanzes niemals wieder von ihr tragen sehen.
Das Bewusstsein, dass ihre Eltern ihren Wohlstand nicht schuldlos erworben haben, lässt Anne Lene auch auf das Tragen des einzigen Schmuckstückes verzichten, das sie an ihre Vorfahren noch bindet. Die Familientradition bietet ihr fortan keinen Halt mehr.
[Abschnitt 6]
Sprung zu Abschnitt 6 Absatz 02 des Novellentextes Obgleich die seit meiner Knabenzeit in mir keimende Neigung für Anne Lene, da sie keine Erwiderung gefunden, niemals zur Entfaltung gekommen war ...
Hier wird noch einmal deutlich ausgesprochen, dass mehr als Freundschaft Anne Lene bis zu diesem Zeitpunkt für Marx nicht empfunden hat. Abgesehen von ihren kindlichen Sympathie-Bezeugungen werden auch keine Vorgänge mitgeteilt, die das widerlegen könnten. Auch in ihre Verlobungsabsicht braucht sie ihn deshalb nicht einzuweihen, denn für Heiratspläne kommen sich beide ohnehin nicht infrage. Er kann ans Heiraten noch längst nicht denken, und sie kann hoffen, eine bessere Partie zu machen, als es Marx als Arzt einmal für sie wäre. Folglich sieht er in ihrer Verlobung auch keinen Vertrauensbruch, sondern es ist nur der Bräutigam, der ihm nicht gefällt.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 6 Absatz 03 des Novellentextes Es war in diesem lässigen Anschauen etwas, das mich in einen ohnmächtigen Zorn versetzte ...
Der lüstern-taxierende Blick, der hier gemeint ist, ruft die Eifersucht des Erzählers auf, aber er macht auch die schlechten Absichten des jungen Adligen sichtbar. Er liebt Anne Lene nicht, sondern will sie nur besitzen, so wie er sich in der nachfolgenden Szene eine Mücke hascht und sie genussvoll quält.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 6 Absatz 4 des Novellentextes Zufällig aber hatte ich bemerkt, dass die Krone des kleinen Baumes wie von einem Pulsschlage in gleichmäßigen Pausen erschüttert wurde, und es überkam mich eine Ahnung dessen, was hier geschehen sein könne; zugleich ein Reiz, Anne Lene fühlen zu lassen, dass sie mich nicht zu täuschen vermöge.
Die 'Ahnung', was geschehen sein könnte, wird zur Gewissheit erst am Ende, als Anne Lene zu Marx sagt: "Er hat so Unrecht nicht gehabt; - wer holt sich die Tochter aus einem solchen Hause!" (siehe ABSCHNITT 8). Der Junker hat ihr also eröffnet, dass er bereit sei, sie irgendwann zu heiraten, ihr aber auch zu verstehen gegeben, dass sie sich dann nicht allzu widerspenstig verhalten dürfe. Dass Marx in diesem Moment nur ihre Aufregung registriert und weiter nicht nachfragt, wertet Karin Tebben als Don-Juan-Haltung: menschliche Gleichgültigkeit bei gleichzeitiger Hervorkehrung männlicher Überlegenheit (siehe unter ZITATE). Das jedoch liegt gewiss nicht vor. Anne Lene scheint nicht bereit, ihn einzuweihen, und ihr wirklich helfen könnte er auch nicht, und so sind es alsbald wieder die 'Leiden und Freuden des Studentenlebens', denen er sich überlässt. Die Banalität dieses Sachverhaltes, gefasst in diese banale Formulierung, lässt allerdings erkennen, dass er ein schlechtes Gewissen hat. Vermutlich hat er jene Situation weniger vergessen als verdrängt, in dem dunklen Gefühl, dass er sich doch mehr um sie hätte kümmern sollen.
[Abschnitt 7]
Sprung zu Abschnitt 7 Absatz 05 des Novellentextes Ich fühlte plötzlich, wie viel von ihrem Bilde in meiner Erinnerung erloschen sei. So lieblich hatte ich sie mir nicht gedacht ...
Der Zeitabstand hat Marxens Zuneigung zu Anne Lene nicht verringert, sie gefällt ihm immer noch. Obwohl er sein Studium jetzt beendet hat und bei ihr die Verlobung sich aufzulösen scheint, hält er eine Werbung um sie allerdings wohl noch immer nicht für möglich.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 7 Absatz 09 des Novellentextes Sie schien das Ziel ihrer Wanderung erreicht zu haben; denn sie kehrte bei diesen Worten um, und wir gingen mit dem Boten nach dem Hofe zurück.
Der Spaziergang diente offensichtlich nur dazu, dem Postboten entgegen zu gehen, der 'zweimal in der Woche' mit Briefen aus der Stadt kommt. Mit anderen Worten: Anne Lene hofft für ihre Verlobung noch auf eine Wende zum Besseren.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 7 Absatz 14 des Novellentextes Plötzlich, wie von einem raschen Entschluss getrieben, stand sie auf und legte beide Hände fest um meinen Hals; sie wollte zu mir sprechen, aber ihre Tränen brachen unaufhaltsam hervor, und so drückte sie den Kopf gegen meine Brust und weinte eine lange Zeit.
Es liegt nahe, Anne Lenes Absage an ihre Verlobung auf die Wiederbegegnung mit Marx zurückzuführen - erst recht, als sie ihm dann wie für ein Geständnis weinend um den Hals fällt. Besagt dies aber mehr, als dass sie ihm ihren Kummer anvertraut? Soll es auch eine Art Liebeserklärung sein? Marx fasst es jedenfalls nicht so auf, er lenkt das Gespräch in sachliche Bahnen, und auch in der nachfolgenden Zeit, in der er 'häufig den Weg nach dem Staatshof ' sucht, kommt es anscheinend zu keiner weiteren Aussprache.
[Abschnitt 8]
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 14 des Novellentextes "Marx", sagte sie, indem sie den Strickstrumpf auf den Tisch legte, "warum bist du auch so lange fort gewesen"
Für die alte Wieb ist offenbar ausgemacht, dass Marx als Bewerber um Anne Lene in Frage gekommen wäre, wenn es die unglückliche Verlobung mit dem Junker nicht gegeben hätte, und da sie Anne Lene aus tagtäglichem Zusammensein kennt, spricht daraus auch wohl deren Meinung. Nach den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts ist eine missglückte Verlobung allerdings kein grundsätzliches Heiratshindernis, es sei denn - und das soll hier wohl erschlossen werden -, es hat bereits ein sexuelles Verhältnis gegeben.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 20 des Novellentextes Als ich aufsah, stand Anne Lene in der Tür ... und sagte: "Willst du nicht tanzen, Marx? Ich bin oben gewesen; die kleine Juliane sucht dich mit ihren braunen Augen schon in allen Ecken!"
Da Marx mit der 'kleinen Juliane' nichts zu tun hat, ist klar, was Anne Lene mit ihrer Bemerkung bezweckt: sie möchte selbst von ihm zum Tanzen aufgefordert werden. Dass sie ihm das nicht einfach freundschaftlich sagt, lässt ihre Befangenheit erkennen - offenbar hält sie doch noch eine Liebesbeziehung für möglich.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 38 des Novellentextes ... denn als wir die Treppe zu dem dunkeln Flur hinabstiegen, war mir, als wenn ich mit einem glücklich geraubten Schatz ins Freie flüchtete.
Von Anne Lenes Hingabe beim Walzertanz ermutigt, will Marx das Gespräch unter vier Augen mit ihr suchen.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 39 des Novellentextes ... aber das beunruhigende Bewusstsein einer eigennützigeren Bitte, die ich für günstigere Zeiten im Grunde meines Herzens zurückbehielt, raubte mir den Atem ...
Auf welche 'günstigeren Zeiten' Marx für sein Liebesgeständnis oder seinen Heiratsantrag noch wartet, ist unerfindlich. Man kann nur folgern, dass er einfach nicht Frauenkenner genug ist, ihr Entgegenkommen beim Tanz sowie ihre Bereitschaft, allein mit ihm hinaus ins Dunkle zu gehen, richtig zu deuten.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 40 des Novellentextes "Sieh, Anne Lene", sagte ich, "die Erde schläft - wie schön sie ist!" - "Ja, Marx", erwiderte sie leise, "und du bist noch so jung!" - "Bist du denn das nicht mehr?"
Spätestens mit dieser Antwort gibt Marx zu verstehen, dass er sich seiner Sache nicht sicher ist. Sonst hätte er sagen müssen, dass sie genauso jung sei, genauso viel Zukunft in dieser Welt habe. Aber er traut sich wohl nicht zu, sie aus ihrer Enttäuschung herauszuführen, auch vielleicht nicht, weil er spürt, dass sie ihm an Lebenserfahrung so viel voraus hat.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 44 des Novellentextes Ein Gefühl der Öde und Verlorenheit überfiel mich; fast ohne es zu wissen, stieß ich Anne Lenes Namen hervor und streckte beide Arme nach ihr aus. - "Marx, was ist dir?", rief sie und wandte sich nach mir um. "Hier bin ich ja!" - "Nichts, Anne Lene", sagte ich, "aber gib mir deine Hand; ich hatte das Meer vergessen, da hörte ich es plötzlich!"
Offensichtlich fühlt Marx sich in dieser Welt selbst nicht geborgen, ist selbst auf Halt und Hilfe angewiesen. Ihre Reaktion ist denn auch deutlich:
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 47 des Novellentextes Sie hatte ihr Gesicht zu mir gewandt und sah mich traurig an; mitleidig, ich weiß noch jetzt nicht, ob mit mir oder mit sich selbst.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 51 des Novellentextes "O Anne Lene", rief ich ... "Gib mir die Hand, ich weiß den Weg zur Welt zurück!" - "Nein", rief sie ... "Es trägt uns beide nicht."
Mit seinem buchstäblich in letzter Minute angedeuteten Heiratsantrag - dem auch sinnbildlichen Anhalten um ihre Hand - kann Marx Anne Lene nicht mehr überzeugen. Nicht nur der Pavillonboden trägt sie beide nicht, auch seine Lebenskraft reicht aus ihrer Sicht für zwei nicht aus, genügt nicht, den ihr vor Augen stehenden Untergang ihrer Familie abzuwenden. Eine Epoche ist zu Ende, die Zukunft gehört anderen Menschen, robusteren als sie es selbst, als aber auch der schüchterne Marx es ist.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 53 des Novellentextes Ein Brett des Fußbodens schlug in die Höhe ... Ich wollte Anne Lene sehen, aber ich sah sie nicht.
Im Erstdruck der Novelle in der ARGO unternimmt Marx nach Anne Lenes Verschwinden erst einmal gar nichts, sondern wartet nur wie gelähmt ab. Es heißt dort:
Ich mühte mich vergebens einen Entschluß zu fassen oder auch nur mich von der Stelle zu bewegen. Mir war, als renne in meinem Kopfe etwas davon, das ich um jeden Preis wieder einholen müsste, wenn ich nicht wahnsinnig werden wollte. Und während meine Gedanken diesem Unding nachjagten, verrann die Zeit. - Wie lange ich so gestanden, weiß ich nicht. Ein durchdringender Schrei, der in mein Ohr gellte, brachte mich endlich wieder zur Besinnung. Ich war es selbst, der so geschrieen hatte. Ich hörte vom Hause her die Tanzmusik, aber ich hatte noch keinen Willen.
Dann schließt sich die Textstelle mit dem Erscheinen der alten Wieb und der gemeinsamen Suche an, bei der Anne Lene schließlich gefunden wird. Marxens Untätigkeit erregte aber den Unmut eines Potsdamer Kollegen, des Kriegsgerichtsrates Schnee, und veranlasste Storm, die Buchfassung um die Passage mit dem Sprung ins Wasser und dem vergeblichen Tauchen nach der Verschwundenen zu erweitern. An Hermann Schnee, den Sohn, schreibt er am 16. September 1859: Sag dem alten Schnee, dass der Marx im Staatshof in einen recht resoluten Burschen umgearbeitet ist.
Benutzte Literatur: Laage, Kommentar zu "Auf dem Staatshof",
                  1988
Aus heutiger Sicht versagt Marx in dieser Situation allerdings immer noch kläglich. Anstatt sofort Wiederbelebungs-Versuche einzuleiten, traut dieser promovierte Mediziner seiner 'jungen Kunst in diesem Falle nicht' und jagt zu Pferd in die Stadt, um einen Arzt zu holen. Unzweifelhaft soll dies jedoch keine Infragestellung seines Sachverstandes bedeuten. Von Erster Hilfe wusste man zu Storms Lebzeiten - auch wenn entsprechende Anleitungen schon aufkamen - noch wenig, und ganz im Dunkeln verliert sich, ob für die Zeit der Handlung so etwas schon vorauszusetzen ist.
[Abschnitt 9]
Sprung zu Abschnitt 9 Absatz 1 des Novellentextes Ich aber bin niemals wieder dort gewesen.
Ist es angebracht, über diesen lakonischen Schluss hinaus nach den Motiven oder den Absichten des Erzählers zu fragen? David A. Jackson tut dies, wenn er in dessen Rückblick weiter nichts als den Versuch sieht, sich von seiner Schuld am Tod Anne Lenes freizusprechen. Seine Grübeleien darüber, schreibt er, ob sie ausgeglitten sei oder ob sie Selbstmord begangen habe, sind Ablenkungen. Die Wahrheit, die er verdrängen will, ist, dass er selbst in hohem Maß an diesem tragischen Ausgang schuldig ist.
Benutzte Literatur: Laage, Kommentar zu "Auf dem Staatshof",
                  1988
Sich in dieser Weise den Erzähler als Person vorzustellen, also nicht bloß ein Rahmungselement in ihm zu sehen, könnte allerdings noch ganz andere Fragen heraufbeschwören. Hat Marx, der dies als seine Jugendgeschichte mitteilt, aus Anne Lenes Unglück etwas gelernt? Konnte er seine Schüchternheit später überwinden? Hat Anne Lene ihn zu Recht für lebensuntüchtig gehalten oder konnte er sich dann als Arzt noch bewähren? Würde man hier ernsthaft nach Antworten suchen, käme man zu dem Ergebnis, dass Marx die gegenüber Anne Lene bei weitem rätselhaftere Figur ist. Doch das führt zu nichts, es ist abwegig, und so ist es auch abwegig, ihm ein Verdrängen seiner Schuld, eine Beschönigung seines Fehlverhaltens oder gar unlautere Absichten nach Art eines Don Juan nachzusagen.
Die einzige Person, die hinter diesem Erzähler aufzufinden ist, ist der Autor, ist Theodor Storm, und für ihn sich nach Motiven und Antrieben zu fragen, ist auch nicht fruchtlos. Wovon handelt die Geschichte, die hier erzählt wird? Sie handelt im Prinzip von einer Liebe, in der die übergroße Zurückhaltung des Mannes eine Frau unglücklich gemacht hat. Um auf eine solche Konstellation in Storms Leben zu stoßen, braucht man nicht lange zu suchen. Es ist seine Liebe zu der zehn Jahre jüngeren Dorothea Jensen, die ihr entspricht, eine Liebe, die zu Beginn seiner Ehe seine häuslichen Verhältnisse auf das Äußerste belastet hat und die nur dadurch ihr Ende fand, dass die junge Frau Husum verließ. Wie Storm einem Freund achtzehn Jahre später schrieb, ist sie dann allein und oft in drückender Abhängigkeit verblüht, während sein Gefühl für sie den vollständigen Todesschlaf schlief. (Brief an Hartmuth Brinkmann vom 21. April 1866, siehe auch unter ENTSTEHUNG zu der Novelle 'Der Schimmelreiter').
Damals - 1866 - hat er sie nach dem Tod seiner ersten Frau jedoch noch geheiratet, aber als er "Auf dem Staatshof" schreibt, ist an eine solche Wiedergutmachung nicht zu denken. Er weiß nur, dass sie unverheiratet geblieben ist und in Armut verkümmert. Sich zu seiner Liebe zu ihr zu bekennen, hätte bedeutet, dass er sich von seiner Frau und seinen Kindern hätte trennen zu müssen, und das bringt er nicht über sich. Seine Gehemmtheit aber kehrt wieder in Marxens Gehemmtheit, um die Hand Anne Lenes anzuhalten, in der Tiefe auch von dessen Wesen gibt es etwas, das es ihn nicht wagen lässt. Wer aber würde hier von Schuld sprechen? So wenig es eine moralische Pflicht gibt, die Ehefrau zugunsten der Geliebten zu verlassen, so wenig gibt es eine Pflicht, einer geliebten Frau seine Liebe auch zu gestehen, und weil es dazu in dieser Novelle nicht kommt, nimmt das Unglück für die Frau seinen Lauf. Ein Schuldgefühl kann das aber immer zur Folge haben, und bei Storm war es so stark, dass er ihm wieder und wieder Ausdruck verlieh.
Darüber hinaus spiegelt sich in der Haltung des Erzählers aber noch eine zweite Seite von Storms Lebensgefühl wider. Es ist sein Abstand zu den Erfolgsmenschen, zu denjenigen, die wie Claus Peters und seine Frau 'glänzen von Gesundheit und Wohlbehagen'. Dass der Erzähler zu ihnen nicht gehört, ist keine Frage, doch weiß er sich ihnen aus einem nicht weiter berührten Grund offenbar überlegen. Für Storm ist es - wie anders - sein dichterisches Werk, aus dem er dieses Selbstbewusstsein schöpft. An seine Eltern schreibt er Ende März 1859, der Dichter werde zu Recht mit dem vornehmen Mann verglichen, der im schlichten Kleid in die Gesellschaft tritt, der aber nur den Rock aufzuknöpfen braucht, um den darunter befindlichen Stern zu zeigen. Auch bei ihm habe dieser unsichtbare Stern auf der Brust seine Wirkung nicht verfehlt. Marx in der Novelle "Auf dem Staatshof" weiß von sich dasselbe. Bei allen Skrupeln über sein Verhalten merkt man ihm die Gewissheit an, dass nur er dieses Verhalten richtig beurteilen kann, er, dem wie Goethes Tasso ein Gott zu sagen gab, wie er leide.