[Abschnitt 1]

Die verhältnismäßig lange Zeit, die Storm an dieser Novelle gearbeitet hat, mag dazu beigetragen haben,
dass hier weniger bloß eine Stimmung ausgemalt als vielmehr ein Problem nach und nach zum Ausdruck gebracht wird. Der
Spott Fontanes, man sehe Storm in den frühen Novellen
beständig bibbern und zittern (Briefkonzept an
Paul Heyse vom 19. Mai 1859), ist hier jedenfalls unangebracht. Die Geschichte ist hintergründiger, als sie im ersten
Lesen erscheint, und sie ist gerade darin, dass sie das Entscheidende nur halb offenbart, von einer ganz
unsentimentalen Kargheit.

Schon die Eingangspassage, die Storm erst in einem späten Stadium der Arbeit hinzugefügt hat (siehe
das Manuskriptblatt unter
ENTSTEHUNG), macht deutlich, dass es um mehr
als nur um Erinnerung geht. Denn die Frage,
ob es eine Tat war oder nur ein Ereignis, wodurch das Ende herbeigeführt
wurde, deutet auch auf eine Schuld hin. Die Voranstellung dieses Gesichtspunktes aber kann nur heißen, dass es
sich um eine Schuld des Erzählers und nicht um die einer anderen Person handeln wird.

Dies stellt auch David A. Jackson fest. Der Text suggeriere, so seine Bewertung,
dass ein Schuldgefühl sowie auch ein
Bedürfnis, sich und seine Leser von seiner Unschuld zu überzeugen, ihn [Marx] antreiben. Gleichzeitig werden
aber natürlich Vorgänge mitgeteilt, die ein anderes Urteil nahe legen.
[Abschnitt 2]
Der letzte männliche Sprosse war als fünfzehnjähriger Knabe auf eine gewaltsame Weise ums
Leben gekommen ... in die Trinkgrube gestürzt und ertrunken.
Ein Tod durch Ertrinken beendet auch schon das Leben des letzten männlichen Nachkommen der van der Rodens, des älteren
Bruders von Anne Lene. Storm, um für seinen Erzähler nicht in den Verdacht künstlerischer Absichten aufkommen zu lassen,
vermeidet aber jeden Hinweis darauf, dass auch Anne Lene später ertrinkt.
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... in der gedämpften Helligkeit, die durch die offene Seitenwand aus der angrenzenden Loodiele hereinfällt, steht ein
Mädchen meines Alters.
Dass Anne Lene genauso alt ist wie der Erzähler, steht hier als Mitteilung nicht zufällig. Es bedeutet nach den damaligen
Begriffen, dass er später für ein Liebesverhältnis für sie kaum infrage kommt.
"So", sagt sie endlich und atmet dabei aus Herzensgrunde, "so, nun bist du bald begraben!"
Für Jackson will der Erzähler mit dieser Szene zu verstehen geben, dass Anne Lene schon als Kind vom Tod
fasziniert gewesen sei, während sie 'in Wirklichkeit' besage, dass sie sich schon als Kind einsam und verlassen gefühlt
habe. Eine solche Widersprüchlichkeit ist jedoch im Text nirgendwo angelegt, d.h. es bleibt dem Leser überlassen, ob er
dieses Kinderspiel überhaupt und - wenn - wie er es deuten will.
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Aber ich fürchte mich; ich habe gesehen, dass das hölzerne Haus auf dünnen Pfählen über dem Wasser steht.
Hier allerdings wird wieder sichtlich vermieden, darauf hinzuweisen, dass dieser Pavillon Anne Lene später zum Verhängnis
geworden ist, wie es die Erzählsituation eigentlich nahelegen würde. Der Erzähler soll aber
als Arrangeur seiner Geschichte nicht in Erscheinung treten, und so werden solche Vorausblicke unterlassen.
[Abschnitt 4]
Ich merkte es kaum, als Anne Lene ihre Arme um meinen Hals legte und mich küsste, während ihre Tränen mein
Gesicht benetzten.
Diese Bemerkung hat - als Erinnerung ausgesprochen - etwas Unrichtiges. Wenn der Erzähler die Umarmung und den Kuss Anne Lenes damals 'kaum
gemerkt' hat, sollte er beides vergessen haben. Da er sich aber erinnert, sollte er sich vielleicht auch erinnern, dass es seiner Freude, "nun
fortwährend in Gesellschaft des anmutigen Mädchens zu sein", damals Auftrieb gab, oder umgekehrt, dass es ihn verwirrte, bestürzte,
noch lange beschäftigte usw. Indessen steckt hinter dieser Unstimmigkeit wohl keine Absicht. Storm hat nur für einen Moment außer
Acht gelassen, dass er perspektivisch und nicht als Außenbeobachter erzählt. Das unterläuft ihm auch an anderen Stellen.
Auch dass der Erzähler seine Kindesgestalt wiederholt als 'klein' bezeichnet - kleiner Kopf, kleine Hände usw. -, ist ein
solcher perspektivischer Fehler. Ein Kind nimmt sich nicht in dieser Weise als niedlich wahr.
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Wir betraten diese Räume mit einer lüsternen Neugierde, obgleich wir wussten, dass nichts darin zu sehen sei als ... das leere
Bettgestell der verstorbenen Besitzer.
Anne Lene und ich drangen gern aufs Geratewohl in diesen Blütenwald hinein, um uns den
Reiz eines gefahrlosen Irregehens zu verschaffen; und nicht selten glückte es, dass wir uns nach der feuchten Laube im Winkel
des Gartens hinzuarbeiten meinten ...
Dann sahen wir durch die erblindeten Fensterscheiben nach dem zärtlichen Schäferpaar hinüber das
noch immer ... auf der Mitte der Wand im Grase kniete, und rüttelten vergebens an den Türen ...
Auf die andeutend sexuellen Momente dieser Beschreibung hat richtig Karin Tebben hingewiesen, nur allerdings mit der fragwürdigen
Akzentuierung, dass der Erzähler hier wieder als ängstlicher Don Juan sichtbar werde, der der Annäherung
an seine Angebetete ausweiche (zu Tebbens Aufsatz siehe unter
ZITATE). Was Storm
mit dieser Beschreibung erfasst, ist jedoch etwas anderes: die erwachende sexuelle Neugier dieser 13-, 14-jährigen, die - sich
ihres Begehrens noch nicht bewusst - die gemeinsamen Streifzüge als eine geheimnisvolle Verlockung erleben.
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Anne Lene war, ehe ich mich dessen versehen, ein erwachsenes Mädchen geworden, während ich noch kaum
zu den jungen Menschen zählte.
Diese sehr altersgerechte Feststellung, dass das gleichaltrige Mädchen plötzlich erwachsener ist als er,
der Erzähler, macht klar, dass er an eine Liebesbeziehung zu seiner vormaligen Spielgefährtin nun kaum mehr denken kann.
[Abschnitt 5]
... waren wir mit einem ganzen Schauer von Schimpf- und Neckworten überschüttet worden; weder meine rote Schülermütze
noch meine damals allerdings 'ins Kraut geschossene' Figur war verschont geblieben.
Der hier als unfertig und unreif verspottete Marx erfährt deutlich, was Anne Lene ihm in ihrer Entwicklung voraus hat, da sie
von den Arbeitern eher 'unbewusste Huldigungen' empfängt.
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Mich übermannte bei dem Anblick meiner jungen hilflosen Freundin der Zorn ...
Sobald aber Anne Lene in Bedrängnis gerät, vergisst er seine Unfertigkeit und übernimmt der 'jungen hilflosen
Freundin' gegenüber die Rolle des Beschützers. Das zeigt, wie er eigentlich zu ihr steht und dass er ihr gern näher
wäre, als es ihm der Entwicklungsunterschied zu dieser Zeit zu erlauben scheint.
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Aber nach einigen Tagen war das Diamantkreuz von Anne Lenes Hals verschwunden, und ich habe dieses Zeichen alten Glanzes
niemals wieder von ihr tragen sehen.
Das Bewusstsein, dass ihre Eltern ihren Wohlstand nicht schuldlos erworben haben, lässt Anne Lene auch auf das
Tragen des einzigen Schmuckstückes verzichten, das sie an ihre Vorfahren noch bindet. Die Familientradition bietet
ihr fortan keinen Halt mehr.
[Abschnitt 6]
Obgleich die seit meiner Knabenzeit in mir keimende Neigung für Anne Lene, da sie keine Erwiderung gefunden, niemals zur
Entfaltung gekommen war ...
Hier wird noch einmal deutlich ausgesprochen, dass mehr als Freundschaft Anne Lene bis zu diesem Zeitpunkt
für Marx nicht empfunden hat. Abgesehen von ihren kindlichen Sympathie-Bezeugungen
werden auch keine Vorgänge mitgeteilt, die das widerlegen könnten. Auch in ihre Verlobungsabsicht braucht sie ihn deshalb
nicht einzuweihen, denn für Heiratspläne kommen sich beide ohnehin nicht infrage. Er kann ans Heiraten noch
längst nicht denken, und sie kann hoffen, eine bessere Partie zu machen, als es Marx als Arzt einmal für sie wäre.
Folglich sieht er in ihrer Verlobung auch keinen Vertrauensbruch, sondern es ist nur der Bräutigam, der ihm nicht
gefällt.
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Es war in diesem lässigen Anschauen etwas, das mich in einen ohnmächtigen Zorn versetzte ...
Der lüstern-taxierende Blick, der hier gemeint ist, ruft die Eifersucht des Erzählers auf, aber er macht auch die
schlechten Absichten des jungen Adligen sichtbar. Er liebt Anne Lene nicht, sondern will sie nur besitzen, so wie er sich in der
nachfolgenden Szene eine Mücke hascht und sie genussvoll quält.
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Zufällig aber hatte ich bemerkt, dass die Krone des kleinen Baumes wie von einem Pulsschlage in gleichmäßigen Pausen
erschüttert wurde, und es überkam mich eine Ahnung dessen, was hier geschehen sein könne; zugleich ein Reiz, Anne Lene
fühlen zu lassen, dass sie mich nicht zu täuschen vermöge.
Die 'Ahnung', was geschehen sein könnte, wird zur Gewissheit erst am Ende, als Anne Lene zu Marx sagt: "Er hat so
Unrecht nicht gehabt; - wer holt sich die Tochter aus einem solchen Hause!" (siehe
ABSCHNITT 8).
Der Junker hat ihr also eröffnet, dass er bereit sei, sie irgendwann zu heiraten, ihr aber auch zu verstehen gegeben, dass sie sich dann nicht
allzu widerspenstig verhalten dürfe. Dass Marx in diesem Moment nur ihre Aufregung registriert und weiter nicht nachfragt, wertet Karin
Tebben als Don-Juan-Haltung: menschliche Gleichgültigkeit bei gleichzeitiger Hervorkehrung männlicher Überlegenheit (siehe
unter
ZITATE). Das jedoch liegt gewiss nicht vor. Anne Lene scheint nicht bereit, ihn
einzuweihen, und ihr wirklich helfen könnte er auch nicht, und so sind es alsbald wieder die 'Leiden und Freuden des
Studentenlebens', denen er sich überlässt. Die Banalität dieses Sachverhaltes, gefasst in diese banale Formulierung,
lässt allerdings erkennen, dass er ein schlechtes Gewissen hat. Vermutlich hat er jene Situation weniger vergessen als verdrängt, in
dem dunklen Gefühl, dass er sich doch mehr um sie hätte kümmern sollen.
[Abschnitt 7]
Ich fühlte plötzlich, wie viel von ihrem Bilde in meiner Erinnerung erloschen sei. So lieblich hatte ich sie mir nicht gedacht ...
Der Zeitabstand hat Marxens Zuneigung zu Anne Lene nicht verringert, sie gefällt ihm immer noch. Obwohl er sein Studium jetzt
beendet hat und bei ihr die Verlobung sich aufzulösen scheint, hält er eine Werbung um sie allerdings wohl noch immer nicht für
möglich.
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Sie schien das Ziel ihrer Wanderung erreicht zu haben; denn sie kehrte bei diesen Worten um, und wir gingen mit dem Boten nach
dem Hofe zurück.
Der Spaziergang diente offensichtlich nur dazu, dem Postboten entgegen zu gehen, der 'zweimal in der Woche' mit Briefen aus
der Stadt kommt. Mit anderen Worten: Anne Lene hofft für ihre Verlobung noch auf eine Wende zum Besseren.
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Plötzlich, wie von einem raschen Entschluss getrieben, stand sie auf und legte beide Hände fest um meinen Hals; sie wollte zu
mir sprechen, aber ihre Tränen brachen unaufhaltsam hervor, und so drückte sie den Kopf gegen meine Brust und weinte eine lange Zeit.
Es liegt nahe, Anne Lenes Absage an ihre Verlobung auf die Wiederbegegnung mit Marx zurückzuführen - erst recht, als
sie ihm dann wie für ein Geständnis weinend um den Hals fällt. Besagt dies aber mehr, als dass sie ihm ihren Kummer anvertraut?
Soll es auch eine Art Liebeserklärung sein? Marx fasst es jedenfalls nicht so auf, er lenkt das Gespräch in sachliche Bahnen, und auch
in der nachfolgenden Zeit, in der er 'häufig den Weg nach dem Staatshof ' sucht, kommt es anscheinend zu keiner weiteren Aussprache.
[Abschnitt 8]
"Marx", sagte sie, indem sie den Strickstrumpf auf den Tisch legte, "warum bist du auch so lange fort gewesen"
Für die alte Wieb ist offenbar ausgemacht, dass Marx als Bewerber um Anne Lene in Frage gekommen wäre, wenn
es die unglückliche Verlobung mit dem Junker nicht gegeben hätte, und da sie Anne Lene aus tagtäglichem Zusammensein
kennt, spricht daraus auch wohl deren Meinung. Nach den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts ist eine missglückte Verlobung allerdings kein
grundsätzliches Heiratshindernis, es sei denn - und das soll hier wohl erschlossen werden -, es hat bereits ein sexuelles Verhältnis
gegeben.
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Als ich aufsah, stand Anne Lene in der Tür ... und sagte: "Willst du nicht tanzen, Marx? Ich bin oben gewesen; die kleine Juliane sucht dich
mit ihren braunen Augen schon in allen Ecken!"
Da Marx mit der 'kleinen Juliane' nichts zu tun hat, ist klar, was Anne Lene mit ihrer Bemerkung bezweckt: sie möchte
selbst von ihm zum Tanzen aufgefordert werden. Dass sie ihm das nicht einfach freundschaftlich sagt, lässt ihre Befangenheit erkennen -
offenbar hält sie doch noch eine Liebesbeziehung für möglich.
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... denn als wir die Treppe zu dem dunkeln Flur hinabstiegen, war mir, als wenn ich mit einem glücklich geraubten Schatz ins Freie flüchtete.
Von Anne Lenes Hingabe beim Walzertanz ermutigt, will Marx das Gespräch unter vier Augen mit ihr suchen.
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... aber das beunruhigende Bewusstsein einer eigennützigeren Bitte, die ich für günstigere Zeiten im Grunde meines
Herzens zurückbehielt, raubte mir den Atem ...
Auf welche 'günstigeren Zeiten' Marx für sein Liebesgeständnis oder seinen Heiratsantrag noch wartet, ist
unerfindlich. Man kann nur folgern, dass er einfach nicht Frauenkenner genug ist, ihr Entgegenkommen beim Tanz sowie ihre Bereitschaft,
allein mit ihm hinaus ins Dunkle zu gehen, richtig zu deuten.
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"Sieh, Anne Lene", sagte ich, "die Erde schläft - wie schön sie ist!" - "Ja, Marx", erwiderte
sie leise, "und du
bist noch so jung!" - "Bist du denn das nicht mehr?"
Spätestens mit dieser Antwort gibt Marx zu verstehen, dass er sich seiner Sache nicht sicher ist. Sonst hätte er sagen
müssen, dass sie genauso jung sei, genauso viel Zukunft in dieser Welt habe. Aber er traut sich wohl nicht zu, sie aus ihrer Enttäuschung
herauszuführen, auch vielleicht nicht, weil er spürt, dass sie ihm an Lebenserfahrung so viel voraus hat.
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Ein Gefühl der Öde und Verlorenheit überfiel mich; fast ohne es zu wissen, stieß ich Anne Lenes Namen hervor und streckte
beide Arme nach ihr aus. - "Marx, was ist dir?", rief sie und wandte sich nach mir um. "Hier bin ich ja!" -
"Nichts, Anne Lene", sagte ich, "aber gib mir deine Hand; ich hatte das Meer vergessen, da hörte ich es plötzlich!"
Offensichtlich fühlt Marx sich in dieser Welt selbst nicht geborgen, ist selbst auf Halt und Hilfe angewiesen. Ihre Reaktion ist denn
auch deutlich:
Sie hatte ihr Gesicht zu mir gewandt und sah mich traurig an; mitleidig, ich weiß noch jetzt nicht, ob mit mir oder mit sich selbst.
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"O Anne Lene", rief ich ... "Gib mir die Hand, ich weiß den Weg zur Welt zurück!" - "Nein", rief
sie ... "Es trägt uns beide nicht."
Mit seinem buchstäblich in letzter Minute angedeuteten Heiratsantrag - dem auch sinnbildlichen Anhalten um ihre Hand - kann Marx Anne Lene nicht
mehr überzeugen. Nicht nur der Pavillonboden trägt sie beide nicht, auch seine Lebenskraft reicht aus ihrer Sicht für
zwei nicht aus, genügt nicht, den ihr vor Augen stehenden Untergang ihrer Familie abzuwenden. Eine Epoche ist zu Ende, die Zukunft
gehört anderen Menschen, robusteren als sie es selbst, als aber auch der schüchterne Marx es ist.
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Ein Brett des Fußbodens schlug in die Höhe ... Ich wollte Anne Lene sehen, aber ich sah sie nicht.
Im Erstdruck der Novelle in der ARGO unternimmt Marx nach Anne Lenes Verschwinden erst einmal gar nichts, sondern
wartet nur wie gelähmt ab. Es heißt dort:
Ich mühte mich vergebens einen Entschluß zu fassen oder auch nur mich von der Stelle zu bewegen. Mir
war, als renne in meinem Kopfe etwas davon, das ich um jeden Preis wieder einholen müsste, wenn ich nicht wahnsinnig
werden wollte. Und während meine Gedanken diesem Unding nachjagten, verrann die Zeit. -
Wie lange ich so gestanden, weiß ich nicht. Ein durchdringender Schrei, der in mein Ohr gellte, brachte mich endlich
wieder zur Besinnung. Ich war es selbst, der so geschrieen hatte. Ich hörte vom Hause her die Tanzmusik, aber
ich hatte noch keinen Willen.
Dann schließt sich die Textstelle mit dem Erscheinen der alten Wieb und der gemeinsamen Suche an, bei der Anne Lene
schließlich gefunden wird. Marxens Untätigkeit erregte aber den Unmut eines Potsdamer Kollegen, des Kriegsgerichtsrates Schnee,
und veranlasste Storm, die Buchfassung um die Passage mit dem Sprung ins Wasser und dem vergeblichen Tauchen nach der Verschwundenen
zu erweitern. An Hermann Schnee, den Sohn, schreibt er am 16. September 1859: Sag dem alten Schnee, dass der Marx im
Staatshof in einen recht resoluten Burschen umgearbeitet ist.

Aus heutiger Sicht versagt Marx in dieser Situation allerdings immer noch kläglich. Anstatt sofort Wiederbelebungs-Versuche
einzuleiten, traut dieser promovierte Mediziner seiner 'jungen Kunst in diesem Falle nicht' und jagt zu Pferd in die Stadt, um einen
Arzt zu holen. Unzweifelhaft soll dies jedoch keine Infragestellung seines Sachverstandes bedeuten. Von Erster Hilfe
wusste man zu Storms Lebzeiten - auch wenn entsprechende Anleitungen schon aufkamen - noch wenig, und ganz im Dunkeln verliert
sich, ob für die Zeit der Handlung so etwas schon vorauszusetzen ist.
[Abschnitt 9]
Ich aber bin niemals wieder dort gewesen.

Ist es angebracht, über diesen lakonischen Schluss hinaus nach den Motiven oder den Absichten des Erzählers zu fragen?
David A. Jackson tut dies, wenn er in dessen Rückblick weiter nichts als den Versuch sieht, sich von seiner Schuld am
Tod Anne Lenes freizusprechen.
Seine Grübeleien darüber, schreibt er,
ob sie ausgeglitten sei oder ob sie Selbstmord begangen habe, sind Ablenkungen. Die Wahrheit, die er verdrängen
will, ist, dass er selbst in hohem Maß an diesem tragischen Ausgang schuldig ist.


Sich in dieser Weise den Erzähler als Person vorzustellen, also nicht bloß ein Rahmungselement in ihm zu sehen,
könnte allerdings noch ganz andere Fragen heraufbeschwören. Hat Marx, der dies als seine Jugendgeschichte mitteilt,
aus Anne Lenes Unglück etwas gelernt? Konnte er seine Schüchternheit später überwinden? Hat Anne Lene
ihn zu Recht für lebensuntüchtig gehalten oder konnte er sich dann als Arzt noch bewähren? Würde man
hier ernsthaft nach Antworten suchen, käme man zu dem
Ergebnis, dass Marx die gegenüber Anne Lene bei weitem rätselhaftere Figur ist. Doch das führt zu nichts, es
ist abwegig, und so ist es auch abwegig, ihm ein Verdrängen seiner Schuld, eine Beschönigung seines Fehlverhaltens oder
gar unlautere Absichten nach Art eines Don Juan nachzusagen.

Die einzige Person, die hinter diesem Erzähler aufzufinden ist, ist der Autor, ist Theodor
Storm, und für ihn sich nach Motiven und Antrieben zu fragen, ist auch nicht fruchtlos. Wovon handelt die Geschichte, die hier
erzählt wird? Sie handelt im Prinzip von einer Liebe, in der die übergroße Zurückhaltung des Mannes eine Frau
unglücklich gemacht hat. Um auf eine solche Konstellation in Storms Leben zu stoßen, braucht man nicht lange zu suchen.
Es ist seine Liebe
zu der zehn Jahre jüngeren Dorothea Jensen, die ihr entspricht, eine Liebe, die zu Beginn seiner Ehe
seine häuslichen Verhältnisse auf das Äußerste belastet hat und die nur dadurch ihr Ende fand, dass
die junge Frau Husum verließ. Wie Storm einem Freund achtzehn Jahre später schrieb, ist sie dann
allein und oft in
drückender Abhängigkeit verblüht, während sein Gefühl für sie
den vollständigen
Todesschlaf schlief. (Brief an Hartmuth Brinkmann vom 21. April 1866, siehe auch unter ENTSTEHUNG
zu der Novelle '
Der Schimmelreiter').

Damals - 1866 - hat er sie nach dem Tod seiner
ersten Frau jedoch noch geheiratet, aber als er "Auf dem Staatshof" schreibt, ist an eine solche Wiedergutmachung nicht zu denken. Er weiß
nur, dass sie unverheiratet geblieben ist und in Armut verkümmert. Sich zu seiner Liebe zu ihr zu bekennen, hätte
bedeutet, dass er sich von seiner Frau und seinen Kindern hätte trennen zu müssen, und das bringt er nicht über sich.
Seine Gehemmtheit aber kehrt wieder in Marxens Gehemmtheit, um die Hand Anne Lenes anzuhalten, in der Tiefe auch von dessen Wesen gibt es
etwas, das es ihn nicht wagen lässt. Wer aber würde hier von Schuld sprechen? So wenig es eine moralische Pflicht gibt, die
Ehefrau zugunsten der Geliebten zu verlassen, so wenig gibt es eine Pflicht, einer geliebten Frau seine Liebe auch zu gestehen,
und weil es dazu in dieser Novelle nicht kommt, nimmt das Unglück für die Frau seinen Lauf. Ein
Schuld
gefühl kann das aber immer
zur Folge haben, und bei Storm war es so stark, dass er ihm wieder und wieder Ausdruck verlieh.

Darüber hinaus spiegelt sich in der Haltung des Erzählers aber noch eine zweite
Seite von Storms Lebensgefühl wider. Es ist sein Abstand zu den Erfolgsmenschen, zu
denjenigen, die wie Claus Peters und seine Frau 'glänzen von Gesundheit und Wohlbehagen'. Dass der Erzähler
zu ihnen nicht gehört, ist keine Frage, doch weiß er sich ihnen aus einem nicht weiter berührten Grund offenbar überlegen.
Für Storm ist es - wie anders - sein dichterisches Werk, aus dem er dieses Selbstbewusstsein schöpft. An seine
Eltern schreibt er Ende März 1859, der Dichter werde zu Recht mit dem vornehmen Mann verglichen,
der im schlichten
Kleid in die Gesellschaft tritt, der aber nur den Rock aufzuknöpfen braucht, um den darunter befindlichen Stern zu zeigen.
Auch bei ihm habe dieser unsichtbare Stern auf der Brust seine Wirkung nicht verfehlt. Marx in der Novelle "Auf dem Staatshof"
weiß von sich dasselbe. Bei allen Skrupeln über sein Verhalten merkt man ihm die Gewissheit an, dass nur er dieses
Verhalten richtig beurteilen kann, er, dem wie Goethes Tasso ein Gott zu sagen gab, wie er leide.