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[Abschnitt 9]
Sprung zu Abschnitt 9 Absatz 1 des Novellentextes Ich aber bin niemals wieder dort gewesen.
Ist es angebracht, über diesen lakonischen Schluss hinaus nach den Motiven oder den Absichten des Erzählers zu fragen? David A. Jackson tut dies, wenn er in dessen Rückblick weiter nichts als den Versuch sieht, sich von seiner Schuld am Tod Anne Lenes freizusprechen. Seine Grübeleien darüber, schreibt er, ob sie ausgeglitten sei oder ob sie Selbstmord begangen habe, sind Ablenkungen. Die Wahrheit, die er verdrängen will, ist, dass er selbst in hohem Maß an diesem tragischen Ausgang schuldig ist.
Benutzte Literatur: Laage, Kommentar zu 'Auf dem Staatshof',
                  1988
Sich in dieser Weise den Erzähler als Person vorzustellen, also nicht bloß ein Rahmungselement in ihm zu sehen, könnte allerdings noch ganz andere Fragen heraufbeschwören. Hat Marx, der dies als seine Jugendgeschichte mitteilt, aus Anne Lenes Unglück etwas gelernt? Konnte er seine Schüchternheit später überwinden? Hat Anne Lene ihn zu Recht für lebensuntüchtig gehalten oder konnte er sich dann als Arzt noch bewähren? Würde man hier ernsthaft nach Antworten suchen, käme man zu dem Ergebnis, dass Marx die gegenüber Anne Lene bei weitem rätselhaftere Figur ist. Doch das führt zu nichts, es ist abwegig, und so ist es auch abwegig, ihm ein Verdrängen seiner Schuld, eine Beschönigung seines Fehlverhaltens oder gar unlautere Absichten nach Art eines Don Juan nachzusagen.
Die einzige Person, die hinter diesem Erzähler aufzufinden ist, ist der Autor, ist Theodor Storm, und für ihn sich nach Motiven und Antrieben zu fragen, ist auch nicht fruchtlos. Wovon handelt die Geschichte, die hier erzählt wird? Sie handelt im Prinzip von einer Liebe, in der die übergroße Zurückhaltung des Mannes eine Frau unglücklich gemacht hat. Um auf eine solche Konstellation in Storms Leben zu stoßen, braucht man nicht lange zu suchen. Es ist seine Liebe zu der zehn Jahre jüngeren Dorothea Jensen, die ihr entspricht, eine Liebe, die zu Beginn seiner Ehe seine häuslichen Verhältnisse auf das Äußerste belastet hat und die nur dadurch ihr Ende fand, dass die junge Frau Husum verließ. Wie Storm einem Freund achtzehn Jahre später schrieb, ist sie dann allein und oft in drückender Abhängigkeit verblüht, während sein Gefühl für sie den vollständigen Todesschlaf schlief. (Brief an Hartmuth Brinkmann vom 21. April 1866, siehe auch unter ENTSTEHUNG zu der Novelle 'Der Schimmelreiter').
Damals - 1866 - hat er sie nach dem Tod seiner ersten Frau jedoch noch geheiratet, aber als er 'Auf dem Staatshof' schreibt, ist an eine solche Wiedergutmachung nicht zu denken. Er weiß nur, dass sie unverheiratet geblieben ist und in Armut verkümmert. Sich zu seiner Liebe zu ihr zu bekennen, hätte bedeutet, dass er sich von seiner Frau und seinen Kindern hätte trennen zu müssen, und das bringt er nicht über sich. Seine Gehemmtheit aber kehrt wieder in Marxens Gehemmtheit, um die Hand Anne Lenes anzuhalten, in der Tiefe auch von dessen Wesen gibt es etwas, das es ihn nicht wagen lässt. Wer aber würde hier von Schuld sprechen? So wenig es eine moralische Pflicht gibt, die Ehefrau zugunsten der Geliebten zu verlassen, so wenig gibt es eine Pflicht, einer geliebten Frau seine Liebe auch zu gestehen, und weil es dazu in dieser Novelle nicht kommt, nimmt das Unglück für die Frau seinen Lauf. Ein Schuldgefühl kann das aber immer zur Folge haben, und bei Storm war es so stark, dass er ihm wieder und wieder Ausdruck verlieh.
Darüber hinaus spiegelt sich in der Haltung des Erzählers aber noch eine zweite Seite von Storms Lebensgefühl wider. Es ist sein Abstand zu den Erfolgsmenschen, zu denjenigen, die wie Claus Peters und seine Frau 'glänzen von Gesundheit und Wohlbehagen'. Dass der Erzähler zu ihnen nicht gehört, ist keine Frage, doch weiß er sich ihnen aus einem nicht weiter berührten Grund offenbar überlegen. Für Storm ist es - wie anders - sein dichterisches Werk, aus dem er dieses Selbstbewusstsein schöpft. An seine Eltern schreibt er Ende März 1859, der Dichter werde zu Recht mit dem vornehmen Mann verglichen, der im schlichten Kleid in die Gesellschaft tritt, der aber nur den Rock aufzuknöpfen braucht, um den darunter befindlichen Stern zu zeigen. Auch bei ihm habe dieser unsichtbare Stern auf der Brust seine Wirkung nicht verfehlt. Marx in der Novelle 'Auf dem Staatshof' weiß von sich dasselbe. Bei allen Skrupeln über sein Verhalten merkt man ihm die Gewissheit an, dass nur er dieses Verhalten richtig beurteilen kann, er, dem wie Goethes Tasso ein Gott zu sagen gab, wie er leide.