[Abschnitt 9]
Ich aber bin niemals wieder dort gewesen.

Ist es angebracht, über diesen lakonischen Schluss hinaus nach den Motiven oder den Absichten des Erzählers zu fragen?
David A. Jackson tut dies, wenn er in dessen Rückblick weiter nichts als den Versuch sieht, sich von seiner Schuld am
Tod Anne Lenes freizusprechen.
Seine Grübeleien darüber, schreibt er,
ob sie ausgeglitten sei oder ob sie Selbstmord begangen habe, sind Ablenkungen. Die Wahrheit, die er verdrängen
will, ist, dass er selbst in hohem Maß an diesem tragischen Ausgang schuldig ist.


Sich in dieser Weise den Erzähler als Person vorzustellen, also nicht bloß ein Rahmungselement in ihm zu sehen,
könnte allerdings noch ganz andere Fragen heraufbeschwören. Hat Marx, der dies als seine Jugendgeschichte mitteilt,
aus Anne Lenes Unglück etwas gelernt? Konnte er seine Schüchternheit später überwinden? Hat Anne Lene
ihn zu Recht für lebensuntüchtig gehalten oder konnte er sich dann als Arzt noch bewähren? Würde man
hier ernsthaft nach Antworten suchen, käme man zu dem
Ergebnis, dass Marx die gegenüber Anne Lene bei weitem rätselhaftere Figur ist. Doch das führt zu nichts, es
ist abwegig, und so ist es auch abwegig, ihm ein Verdrängen seiner Schuld, eine Beschönigung seines Fehlverhaltens oder
gar unlautere Absichten nach Art eines Don Juan nachzusagen.

Die einzige Person, die hinter diesem Erzähler aufzufinden ist, ist der Autor, ist Theodor
Storm, und für ihn sich nach Motiven und Antrieben zu fragen, ist auch nicht fruchtlos. Wovon handelt die Geschichte, die hier
erzählt wird? Sie handelt im Prinzip von einer Liebe, in der die übergroße Zurückhaltung des Mannes eine Frau
unglücklich gemacht hat. Um auf eine solche Konstellation in Storms Leben zu stoßen, braucht man nicht lange zu suchen.
Es ist seine Liebe
zu der zehn Jahre jüngeren Dorothea Jensen, die ihr entspricht, eine Liebe, die zu Beginn seiner Ehe
seine häuslichen Verhältnisse auf das Äußerste belastet hat und die nur dadurch ihr Ende fand, dass
die junge Frau Husum verließ. Wie Storm einem Freund achtzehn Jahre später schrieb, ist sie dann
allein und oft in
drückender Abhängigkeit verblüht, während sein Gefühl für sie
den vollständigen
Todesschlaf schlief. (Brief an Hartmuth Brinkmann vom 21. April 1866, siehe auch unter ENTSTEHUNG
zu der Novelle '
Der Schimmelreiter').

Damals - 1866 - hat er sie nach dem Tod seiner
ersten Frau jedoch noch geheiratet, aber als er 'Auf dem Staatshof' schreibt, ist an eine solche Wiedergutmachung nicht zu denken. Er weiß
nur, dass sie unverheiratet geblieben ist und in Armut verkümmert. Sich zu seiner Liebe zu ihr zu bekennen, hätte
bedeutet, dass er sich von seiner Frau und seinen Kindern hätte trennen zu müssen, und das bringt er nicht über sich.
Seine Gehemmtheit aber kehrt wieder in Marxens Gehemmtheit, um die Hand Anne Lenes anzuhalten, in der Tiefe auch von dessen Wesen gibt es
etwas, das es ihn nicht wagen lässt. Wer aber würde hier von Schuld sprechen? So wenig es eine moralische Pflicht gibt, die
Ehefrau zugunsten der Geliebten zu verlassen, so wenig gibt es eine Pflicht, einer geliebten Frau seine Liebe auch zu gestehen,
und weil es dazu in dieser Novelle nicht kommt, nimmt das Unglück für die Frau seinen Lauf. Ein
Schuld
gefühl kann das aber immer
zur Folge haben, und bei Storm war es so stark, dass er ihm wieder und wieder Ausdruck verlieh.

Darüber hinaus spiegelt sich in der Haltung des Erzählers aber noch eine zweite
Seite von Storms Lebensgefühl wider. Es ist sein Abstand zu den Erfolgsmenschen, zu
denjenigen, die wie Claus Peters und seine Frau 'glänzen von Gesundheit und Wohlbehagen'. Dass der Erzähler
zu ihnen nicht gehört, ist keine Frage, doch weiß er sich ihnen aus einem nicht weiter berührten Grund offenbar überlegen.
Für Storm ist es - wie anders - sein dichterisches Werk, aus dem er dieses Selbstbewusstsein schöpft. An seine
Eltern schreibt er Ende März 1859, der Dichter werde zu Recht mit dem vornehmen Mann verglichen,
der im schlichten
Kleid in die Gesellschaft tritt, der aber nur den Rock aufzuknöpfen braucht, um den darunter befindlichen Stern zu zeigen.
Auch bei ihm habe dieser unsichtbare Stern auf der Brust seine Wirkung nicht verfehlt. Marx in der Novelle 'Auf dem Staatshof'
weiß von sich dasselbe. Bei allen Skrupeln über sein Verhalten merkt man ihm die Gewissheit an, dass nur er dieses
Verhalten richtig beurteilen kann, er, dem wie Goethes Tasso ein Gott zu sagen gab, wie er leide.