[Erster Teil]
Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte,
zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind.
Mit dem 'großen alten Werk', das nachzuahmen 'müßig' wäre, ist Shakespeares "Romeo und Julia" gemeint,
d.h. es würde sich nach Kellers Meinung nicht lohnen, diese Tragödie noch einmal als Dorfgeschichte wiederzugeben. Das lässt
freilich außer Acht, dass die beiden Fabeln als solche nicht viel miteinander zu tun haben. Die einzige Gemeinsamkeit ist das Liebespaar
zwischen verfeindeten Familien und zuletzt dessen Tod, alles andere ist verschieden.
Bei Shakespeare lassen sich Romeo und Julia heimlich trauen, um
bei der nächsten Gelegenheit ihre Familien damit zu konfrontieren, kommen aber nicht dazu, weil Julia ein anderer Mann zudiktiert wird. Um diese
Verheiratung abzuwenden, nimmt sie ein Schlafmittel, das sie zur Scheintoten macht, hoffend, dass Romeo sie dann entführen kann. Der jedoch
hält sie für wirklich tot und vergiftet sich, woraufhin sie, an seiner Seite erwachend, sich ersticht. Der Tod des Liebespaares - richtiger:
Ehepaares - ist hier also ein Missverständnis, ganz anders als bei Keller, wo er auf einem gemeinsamen Entschluss beruht. Entsprechend verschieden
sind hier wie dort die Stimmungen und Pläne der beiden, Sali und Vrenchen sind eigentlich nicht 'Romeo und Julia auf dem Dorfe'.
Der Hauptakzent des Einleitungssatzes liegt aber ja auch darauf, dass diese Dorfgeschichte vor allem deshalb erzählt wird, weil sie
auf einem 'wirklichen Vorfall' beruht. Keller bezieht sich damit auf eine Meldung der Züricher Freitagszeitung vom 3. September 1847,
in der vom gemeinsamen Tod eines Liebespaares in Sachsen berichtet wurde. Diese Meldung wird von ihm aber bewusst nicht genauer ausgewiesen.
Zum Zitieren hätte sie sich nicht geeignet, da jenes Paar nicht gemeinsam im Wasser den Tod gesucht, sondern sich erschossen hat
(siehe unter
ENTSTEHUNG). Ein solches Ende hätte die ganze poetische Stimmung
seiner Geschichte zunichte gemacht.
~~~~~~~~~~~~
So gehen die Weberschiffchen des Geschickes aneinander vorbei und "was er webt, das weiß kein Weber!"
Anspielung auf Heinrich Heines Gedicht-Zyklus "Jehuda Ben Halevy" aus dem "Romanzero" (1851), in dessen
zweitem Gedicht die fünfte Strophe lautet:
Jahre kommen und vergehen -
In dem Webstuhl läuft geschäftig
Schnurrend hin und her die Spule -
Was er webt, das weiß kein Weber.
|
Bei Heine ist noch das Tun des Webers oder allgemein des Menschen gemeint, der etwas herstellt, das er im Ergebnis nicht kennt. Bei Keller ist es das
Schicksal, das blind gegenüber dem ist, was es bewirkt - oder Gott, der nicht wahrnimmt, was er den Menschen zumutet.
[Zweiter Teil]
... alles hintereinander hetzte und ihrem eigenen Manne ein X für ein U vormachte ...
ein X für ein U vormachen = jemanden täuschen, Redensart in Anspielung auf die römischen Ziffern, bei denen X zehn und V
(die obere Hälfte des X) fünf bedeutet. Der Überlieferung nach haben oft Gastwirte das angeschriebene V nach unten zu einem X
verlängert und damit die ihnen geschuldete Summe verdoppelt, eben dem Gast ein X für ein U vorgemacht.
[Fünfter Teil]
... strich Sali aus dem Tore und seiner alten Heimat zu, welche ihm jetzt erst ein himmlisches Jerusalem zu sein schien mit
zwölf glänzenden Pforten ...
himmlisches Jerusalem = Begriff für das Paradies in der Offenbarung des Johannes (Kapitel 21): "Und er führte mich hin im Geist auf einen großen und hohen Berg
und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem herniederkommen aus dem Himmel von Gott, die hatte die Herrlichkeit Gottes ... sie hatte eine große und hohe
Mauer und hatte zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel und Namen darauf geschrieben, nämlich die Namen der zwölf Stämme
der Israeliten."
[Sechster Teil]
... hinter ihr drein ging ihr Knechtchen, das sich in Vrenchens einst bunt bemalte Bettstatt hineinstellte, den Kopf
gegen den mit verblichenen Sternen bedeckten Himmel derselben stemmte und, ein zweiter Simson, die zwei vorderen
zierlich geschnitzten Säulen fasste ...
Simson = Biblische Figur aus dem Buch der Richter (14.-16. Kapitel), ein Mann von gewaltigen Kräften, der sich immer wieder gegen
seine Feinde, die Philister, behaupten kann. Als er einmal in einer Stadt gefangen genommen werden soll, heißt es: "Da stand er auf
um Mitternacht und ergriff beide Torflügel am Stadttor samt den beiden Pfosten, hob sie aus mit den Riegeln und legte sie auf seine Schultern
und trug sie hinauf auf die Höhe des Berges vor Hebron." (Richter Kap. 16,3)
~~~~~~~~~~~~
Aber Jugend hat keine Tugend ...
Redensart aus der Rechtslehre, die meint, dass die Jugend noch leidenschaftlich und unbesonnen ist und deshalb bei sittlichen Vergehen
nachsichtig behandelt werden sollte.
~~~~~~~~~~~~
Auf der rosenroten Haustür aber waren diese Verse zu lesen:
Tritt in mein Haus, o Liebste! / Doch sei dir unverhehlt: /Drin wird allein nach Küssen / Gerechnet und gezählt.
Anlehnung an Strophen aus dem "Diwan des Abu Nuwas", einer altpersischen Dichtung, die 1855 in Wien übersetzt erschien. Keller
notierte sich daraus die Verse:
1. Wer dieses Haus betritt, sei sorgenlos,
Nur Küsse muß er dulden und Gekos. -
2. Sie sprach: "Wir kamen dieses Umstands wegen."
Nun denn, so tretet ein mit Glück und Segen.
|
~~~~~~~~~~~~
... dessen Dach an den vier Ecken von Bildern aus Sandstein getragen wurde, so die vier Erzengel vorstellten und gänzlich verwittert waren ...
Erzengel = Die Bibel kennt nur einen Erzengel (von griech. archi = 'höchst'), den Erzengel Michael, doch werden in der christlichen
Überlieferung auch noch Gabriel, Raphael und Uriel als Erzengel bezeichnet.
~~~~~~~~~~~~
... und seine Gefährten blieben nicht zurück in der Ausgelassenheit, sodass es ein wahrer Blocksberg war in der stillen Höhe ...
Blocksberg = im Volksglauben ein hoher Berg, auf dem sich Hexen und böse Geister versammeln, speziell der Name des Brockens
im Harz.