[Vorrede zum Ersten Band der 'Leute von Seldwyla']

Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen wonnigen und sonnigen Ort, und so ist auch in der Tat die kleine Stadt dieses
Namens gelegen irgendwo in der Schweiz. Sie steckt noch in den gleichen alten Ringmauern und Türmen wie vor dreihundert
Jahren und ist also immer das gleiche Nest; die ursprüngliche tiefe Absicht dieser Anlage wird durch den Umstand erhärtet,
dass die Gründer der Stadt dieselbe eine gute halbe Stunde von einem schiffbaren Flusse angepflanzt, zum deutlichen
Zeichen, dass nichts daraus werden solle. Aber schön ist sie gelegen, mitten in grünen Bergen, die nach der Mittagseite
zu offen sind, sodass wohl die Sonne herein kann, aber kein raues Lüftchen. Deswegen gedeiht auch ein ziemlich guter
Wein rings um die alte Stadtmauer, während höher hinauf an den Bergen unabsehbare Waldungen sich hinziehen, welche das
Vermögen der Stadt ausmachen; denn dies ist das Wahrzeichen und sonderbare Schicksal derselben, dass die Gemeinde
reich ist und die Bürgerschaft arm, und zwar so, dass kein Mensch zu Seldwyla etwas hat und niemand weiß, wovon sie
seit Jahrhunderten eigentlich leben. Und sie leben sehr lustig und guter Dinge, halten die Gemütlichkeit für ihre besondere
Kunst, und wenn sie irgendwo hinkommen, wo man anderes Holz brennt, so kritisieren sie zuerst die dortige Gemütlichkeit und
meinen, ihnen tue es doch niemand zuvor in dieser Hantierung.

Der Kern und der Glanz des Volkes besteht aus den jungen Leuten von etwa zwanzig bis fünf, sechsunddreißig Jahren, und diese
sind es, welche den Ton angeben, die Stange halten und die Herrlichkeit von Seldwyla darstellen. Denn während dieses Alters
üben sie das Geschäft, das Handwerk, den Vorteil oder was sie sonst gelernt haben, d.h. sie lassen, solange es geht,
fremde Leute für sich arbeiten und benutzen ihre Profession zur Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehres, der eben die
Grundlage der Macht, Herrlichkeit und Gemütlichkeit der Herren von Seldwyl bildet und mit einer ausgezeichneten Gegenseitigkeit
und Verständnisinnigkeit gewahrt wird; aber wohlgemerkt, nur unter dieser Aristokratie der Jugend. Denn sowie einer die Grenze
der besagten blühenden Jahre erreicht, wo die Männer anderer Städtlein etwa anfangen, erst recht in sich zu gehen
und zu erstarken, so ist er in Seldwyla fertig; er muss fallen lassen und hält sich, wenn er ein ganz gewöhnlicher Seldwyler
ist, ferner am Orte auf als ein Entkräfteter und aus dem Paradies des Kredites Verstoßener, oder wenn noch etwas in ihm
steckt, das noch nicht verbraucht ist, so geht er in fremde Kriegsdienste und lernt dort für einen fremden Tyrannen, was er
für sich selbst zu üben verschmäht hat, sich einzuknöpfen und steif aufrecht zu halten. Diese kehren als
tüchtige Kriegsmänner nach einer Reihe von Jahren zurück und gehören dann zu den besten Exerziermeistern
der Schweiz, welche die junge Mannschaft zu erziehen wissen, dass es eine Lust ist. Andere ziehen noch anderwärts auf
Abenteuer aus gegen das vierzigste Jahr hin, und in den verschiedensten Weltteilen kann man Seldwyler treffen, die sich alle dadurch
auszeichnen, dass sie sehr geschickt Fische zu essen verstehen, in Australien, in Kalifornien, in Texas wie in Paris oder Konstantinopel.

Was aber zurückbleibt und am Orte alt wird, das lernt dann nachträglich arbeiten, und zwar jene krabbelige Arbeit von
tausend kleinen Dingen, die man eigentlich nicht gelernt, für den täglichen Kreuzer, und die alternden verarmten Seldwyler
mit ihren Weibern und Kindern sind die emsigsten Leutchen von der Welt, nachdem sie das erlernte Handwerk aufgegeben, und
es ist rührend anzusehen, wie tätig sie dahinter her sind, sich die Mittelchen zu einem guten Stückchen Fleisch von
ehedem zu erwerben. Holz haben alle Bürger die Fülle, und die Gemeinde verkauft jährlich noch einen guten Teil, woraus
die große Armut unterstützt und genährt wird, und so steht das alte Städtchen in unveränderlichem Kreislauf
der Dinge bis heute. Aber immer sind sie im Ganzen zufrieden und munter, und wenn je ein Schatten ihre Seele trübt, wenn etwa
eine allzu hartnäckige Geldklemme über der Stadt weilt, so vertreiben sie sich die Zeit und ermuntern sich durch ihre große
politische Beweglichkeit, welche ein weiterer Charakterzug der Seldwyler ist. Sie sind nämlich leidenschaftliche Parteileute,
Verfassungsrevisoren und Antragsteller, und wenn sie eine recht verrückte Motion ausgeheckt haben und durch ihr Großratsmitglied
stellen lassen oder wenn der Ruf nach Verfassungsänderung in Seldwyla ausgeht, so weiß man im Lande, dass im
Augenblicke dort kein Geld zirkuliert. Dabei lieben sie die Abwechselung der Meinungen und Grundsätze und sind stets den
Tag darauf, nachdem eine Regierung gewählt ist, in der Opposition gegen dieselbe. Ist es ein radikales Regiment, so scharen
sie sich, um es zu ärgern, um den konservativen frömmlichen Stadtpfarrer, den sie noch gestern gehänselt, und
machen ihm den Hof, indem sie sich mit verstellter Begeisterung in seine Kirche drängen, seine Predigten preisen und mit
großem Geräusch seine gedruckten Traktätchen und Berichte der Baseler Missionsgesellschaft umherbieten, natürlich
ohne ihm einen Pfennig beizusteuern. Ist aber ein Regiment am Ruder, welches nur halbwegs konservativ aussieht, stracks
drängen sie sich um die Schullehrer der Stadt, und der Pfarrer hat genug an den Glaser zu zahlen für eingeworfene
Scheiben. Besteht hingegen die Regierung aus liberalen Juristen, die viel auf die Form halten, und aus häklichen Geldmännern,
so laufen sie flugs dem nächstwohnenden Sozialisten zu und ärgern die Regierung, indem sie denselben in den Rat wählen
mit dem Feldgeschrei es sei nun genug des politischen Formenwesens und die materiellen Interessen seien es, welche allein das Volk
noch kümmern könnten. Heute wollen sie das Veto haben und sogar die unmittelbarste Selbstregierung mit permanenter
Volksversammlung, wozu freilich die Seldwyler am meisten Zeit hätten, morgen stellen sie sich übermüdet und blasiert
in öffentlichen Dingen und lassen ein halbes Dutzend alte Stillständer, die vor dreißig Jahren falliert und sich seither
stillschweigend rehabilitiert haben, die Wahlen besorgen; alsdann sehen sie behaglich hinter den Wirtshausfenstern hervor die
Stillständer in die Kirche schleichen und lachen sich in die Faust, wie jener Knabe, welcher sagte: Es geschieht meinem Vater
schon recht, wenn ich mir die Hände verfriere, warum kauft er mir keine Handschuhe! Gestern schwärmten sie allein
für das eidgenössische Bundesleben und waren höchlich empört, dass man Anno achtundvierzig nicht
gänzliche Einheit hergestellt habe; heute sind sie ganz versessen auf die Kantonalsouveränität und haben
nicht mehr in den Nationalrat gewählt.

Wenn aber eine ihrer Aufregungen und Motionen der Landesmehrheit störend und unbequem wird, so schickt ihnen die
Regierung gewöhnlich als Beruhigungsmittel eine Untersuchungskommission auf den Hals, welche die Verwaltung des Seldwyler
Gemeindegutes regulieren soll; dann haben sie vollauf mit sich selbst zu tun, und die Gefahr ist abgeleitet.

Alles dies macht ihnen großen Spaß, der nur überboten wird, wenn sie allherbstlich ihren jungen Wein trinken,
den gärenden Most, den sie Sauser nennen; wenn er gut ist, so ist man des Lebens nicht sicher unter ihnen, und sie
machen einen Höllenlärm; die ganze Stadt duftet nach jungem Wein, und die Seldwyler taugen dann auch gar nichts.
Je weniger aber ein Seldwyler zu Hause was taugt, um so besser hält er sich sonderbarerweise, wenn er ausrückt,
und ob sie einzeln oder in Kompanie ausziehen, wie z.B. in früheren Kriegen, so haben sie sich doch immer gut gehalten.
Auch als Spekulant und Geschäftsmann hat schon mancher sich rüstig umgetan, wenn er nur erst aus dem warmen
sonnigen Tale herauskam, wo er nicht gedieh.

In einer so lustigen und seltsamen Stadt kann es an aller Land seltsamen Geschichten
und Lebensläufen nicht fehlen, da Müßiggang aller Laster Anfang ist. Doch nicht solche Geschichten, wie sie in dem
beschriebenen Charakter von Seldwyla liegen, will ich eigentlich in diesem Büchlein erzählen, sondern einige sonderbare
Abfällsel, die so zwischendurch passierten, gewissermaßen ausnahmsweise, und doch auch gerade nur zu Seldwyla vor
sich gehen konnten.
[Erster Teil: Sali und Vrenchen als Kinder]

Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein,
wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im
Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten
Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig; aber stets
treten sie in neuem Gewande wieder in die Erscheinung und zwingen alsdann
die Hand, sie festzuhalten.

An dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl
vorüberzieht, erhebt sich eine weit gedehnte Erdwelle und verliert sich,
selber wohlbebaut, in der fruchtbaren Ebene. Fern an ihrem Fuße liegt
ein Dorf, welches manche große Bauernhöfe enthält, und
über die sanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige
lange Äcker weit hingestreckt gleich drei riesigen Bändern
nebeneinander. An einem sonnigen Septembermorgen pflügten zwei
Bauern auf zweien dieser Äcker, und zwar auf jedem der beiden
äußersten; der mittlere schien seit langen Jahren brach
und wüst zu liegen, denn er war mit Steinen und hohem Unkraut
bedeckt und eine Welt von geflügelten Tierchen summte ungestört
über ihm. Die Bauern aber, welche zu beiden Seiten hinter ihrem
Pfluge gingen, waren lange knochige Männer von ungefähr
vierzig Jahren und verkündeten auf den ersten Blick den sichern,
gutbesorgten Bauersmann. Sie trugen kurze Kniehosen von starkem Zwillich,
an dem jede Falte ihre unveränderliche Lage hatte und wie in Stein
gemeißelt aussah. Wenn sie, auf ein Hindernis stoßend, den Pflug
fester fassten, so zitterten die groben Hemdärmel von der leichten
Erschütterung, indessen die wohlrasierten Gesichter ruhig und aufmerksam,
aber ein wenig blinzelnd in den Sonnenschein vor sich hinschauten, die Furche
bemaßen oder auch wohl zuweilen sich umsahen, wenn ein fernes Geräusch
die Stille des Landes unterbrach. Langsam und mit einer gewissen natürlichen
Zierlichkeit setzten sie einen Fuß um den andern vorwärts und keiner
sprach ein Wort, außer wenn er etwa dem Knechte, der die stattlichen
Pferde antrieb, eine Anweisung gab. So glichen sie einander vollkommen in
einiger Entfernung; denn sie stellten die ursprüngliche Art dieser Gegend
dar, und man hätte sie auf den ersten Blick nur daran unterscheiden
können, dass der eine den Zipfel seiner weißen Kappe nach
vorn trug, der andere aber hinten im Nacken hängen hatte. Aber das
wechselte zwischen ihnen ab, indem sie in der entgegengesetzten Richtung
pflügten; denn wenn sie oben auf der Höhe zusammentrafen und
aneinander vorüberkamen, so schlug dem, welcher gegen den frischen
Ostwind ging, die Zipfelkappe nach hinten über, während sie bei
dem andern, der den Wind im Rücken hatte, sich nach vorne sträubte.
Es gab auch jedes Mal einen mittlern Augenblick, wo die schimmernden Mützen
aufrecht in der Luft schwankten und wie zwei weiße Flammen gen Himmel
züngelten. So pflügten beide ruhevoll, und es war schön anzusehen
in der stillen goldenen Septembergegend, wenn sie so auf der Höhe aneinander
vorbeizogen, still und langsam, und sich mählich voneinander entfernten,
immer weiter auseinander, bis beide wie zwei untergehende Gestirne hinter die
Wölbung des Hügels hinabgingen und verschwanden, um eine gute Weile
darauf wieder zu erscheinen. Wenn sie einen Stein in ihren Furchen fanden, so
warfen sie denselben auf den wüsten Acker in der Mitte mit lässig
kräftigem Schwunge, was aber nur selten geschah, da derselbe schon fast
mit allen Steinen belastet war, welche überhaupt auf den Nachbaräckern
zu finden gewesen.
So war der lange Morgen zum Teil vergangen, als von dem Dorfe her ein kleines
artiges Fuhrwerklein sich näherte, welches kaum zu sehen war, als es begann
die gelinde Höhe heranzukommen. Das war ein grünbemaltes Kinderwägelchen,
in welchem die Kinder der beiden Pflüger, ein Knabe und ein kleines Ding von
Mädchen, gemeinschaftlich den Vormittagsimbiss heranfuhren. Für jeden
Teil lag ein schönes Brot, in eine Serviette gewickelt, eine Kanne Wein mit
Gläsern und noch irgendein Zutätchen in dem Wagen, welches die
zärtliche Bäuerin für den fleißigen Meister mitgesandt,
und außerdem waren da noch verpackt allerlei seltsam gestaltete angebissene
Äpfel und Birnen, welche die Kinder am Wege aufgelesen, und eine völlig
nackte Puppe mit nur einem Bein und einem verschmierten Gesicht, welche wie ein
Fräulein zwischen den Broten saß und sich behaglich fahren ließ.
Dies Fuhrwerk hielt nach manchem Anstoß und Aufenthalt endlich auf der
Höhe im Schatten eines jungen Lindengebüsches, welches da am Rande
des Feldes stand, und nun konnte man die beiden Fuhrleute näher betrachten.
Es war ein Junge von sieben Jahren und ein Dirnchen von fünfen, beide
gesund und munter, und weiter war nichts Auffälliges an ihnen, als dass
beide sehr hübsche Augen hatten und das Mädchen dazu noch eine
bräunliche Gesichtsfarbe und ganz krause dunkle Haare, welche ihm ein
feuriges und treuherziges Ansehen gaben. Die Pflüger waren jetzt auch
wieder oben angekommen, steckten den Pferden etwas Klee vor und ließen
die Pflüge in der halb vollendeten Furche stehen, während sie als
gute Nachbarn sich zu dem gemeinschaftlichen Imbiss begaben und sich
da zuerst begrüßten; denn bislang hatten sie sich noch nicht
gesprochen an diesem Tage.

Wie nun die Männer mit Behagen ihr Frühstück einnahmen und
mit zufriedenem Wohlwollen den Kindern mitteilten, die nicht von der Stelle
wichen, solange gegessen und getrunken wurde, ließen sie ihre Blicke in
der Nähe und Ferne herumschweifen und sahen das Städtchen
räucherig glänzend in seinen Bergen liegen; denn das reichliche
Mittagsmahl, welches die Seldwyler alle Tage bereiteten, pflegte ein weithin
scheinendes Silbergewölk über ihre Dächer emporzutragen,
welches lachend an ihren Bergen hinschwebte.

»Die Lumpenhunde zu Seldwyl kochen wieder gut!«, sagte Manz,
der eine der Bauern, und Marti, der andere, erwiderte: »Gestern war
einer bei mir wegen des Ackers hier.« - »Aus dem Bezirksrat? Bei
mir ist er auch gewesen!«, sagte Manz. »So? Und meinte wahrscheinlich
auch, du solltest das Land benutzen und den Herren die Pacht zahlen?« -
»Ja, bis es sich entschieden habe, wem der Acker gehöre und was mit
ihm anzufangen sei. Ich habe mich aber bedankt, das verwilderte Wesen für
einen andern herzustellen, und sagte, sie sollten den Acker nur verkaufen und
den Ertrag aufheben, bis sich ein Eigentümer gefunden, was wohl nie geschehen
wird; denn was einmal auf der Kanzlei zu Seldwyl liegt, hat da gute Weile, und
überdem ist die Sache schwer zu entscheiden. Die Lumpen möchten
indessen gar zu gern etwas zu naschen bekommen durch den Pachtzins, was sie
freilich mit der Verkaufssumme auch tun könnten; allein wir würden
uns hüten, dieselbe zu hoch hinaufzutreiben, und wir wüssten
dann doch, was wir hätten und wem das Land gehört!«
»Ganz so meine ich auch und habe dem Steckleinspringer eine ähnliche
Antwort gegeben!«

Sie schwiegen eine Weile, dann fing Manz wiederum an: »Schad ist es
aber doch, dass der gute Boden so daliegen muss, es ist nicht zum
Ansehen, das geht nun schon in die zwanzig Jahre so und keine Seele fragt
darnach; denn hier im Dorf ist niemand, der irgendeinen Anspruch auf den
Acker hat, und niemand weiß auch, wo die Kinder des verdorbenen Trompeters
hingekommen sind.«

»Hm!«, sagte Marti, »das wäre so eine Sache! Wenn ich
den schwarzen Geiger ansehe, der sich bald bei den Heimatlosen aufhält,
bald in den Dörfern zum Tanz aufspielt, so möchte ich darauf
schwören, dass er ein Enkel des Trompeters ist, der freilich nicht
weiß, dass er noch einen Acker hat. Was täte er aber damit?
Einen Monat lang sich besaufen und dann nach wie vor! Zudem, wer dürfte
da einen Wink geben, da man es doch nicht sicher wissen kann!«

»Da könnte man eine schöne Geschichte anrichten!«,
antwortete Manz, »wir haben so genug zu tun, diesem Geiger das
Heimatsrecht in unserer Gemeinde abzustreiten, da man uns den Fetzel
fortwährend aufhalsen will. Haben sich seine Eltern einmal unter
die Heimatlosen begeben, so mag er auch da bleiben und dem Kesselvolk
das Geigelein streichen. Wie in aller Welt können wir wissen,
dass er des Trompeters Sohnessohn ist? Was mich betrifft, wenn
ich den Alten auch in dem dunklen Gesicht vollkommen zu erkennen glaube,
so sage ich: irren ist menschlich, und das geringste Fetzchen Papier,
ein Stücklein von einem Taufschein würde meinem Gewissen besser
tun als zehn sündhafte Menschengesichter!« »Eia, sicherlich!«,
sagte Marti, »er sagt zwar, er sei nicht schuld, dass man ihn nicht
getauft habe! Aber sollen wir unsern Taufstein tragbar machen und in den
Wäldern herumtragen? Nein, er steht fest in der Kirche, und dafür
ist die Totenbahre tragbar, die draußen an der Mauer hängt. Wir
sind schon übervölkert im Dorf und brauchen bald zwei Schulmeister!«

Hiemit war die Mahlzeit und das Zwiegespräch der Bauern geendet, und sie
erhoben sich, den Rest ihrer heutigen Vormittagsarbeit zu vollbringen. Die
beiden Kinder hingegen, welche schon den Plan entworfen hatten, mit den Vätern
nach Hause zu ziehen, zogen ihr Fuhrwerk unter den Schutz der jungen Linden und
begaben sich dann auf einen Streifzug in dem wilden Acker, da derselbe mit
seinen Unkräutern, Stauden und Steinhaufen eine ungewohnte und merkwürdige
Wildnis darstellte. Nachdem sie in der Mitte dieser grünen Wildnis einige
Zeit hingewandert, Hand in Hand, und sich daran belustigt, die verschlungenen
Hände über die hohen Distelstauden zu schwingen, ließen sie sich
endlich im Schatten einer solchen nieder und das Mädchen begann seine Puppe
mit den langen Blättern des Wegekrautes zu bekleiden, sodass sie einen
schönen grünen und ausgezackten Rock bekam; eine einsame rote Mohnblume,
die da noch blühte, wurde ihr als Haube über den Kopf gezogen und mit
einem Grase festgebunden, und nun sah die kleine Person aus wie eine Zauberfrau,
besonders nachdem sie noch ein Halsband und einen Gürtel von kleinen roten
Beerchen erhalten. Dann wurde sie hoch in die Stängel der Distel gesetzt und eine
Weile mit vereinten Blicken angeschaut, bis der Knabe sie genugsam besehen und mit
einem Steine herunterwarf. Dadurch geriet aber ihr Putz in Unordnung, und das
Mädchen entkleidete sie schleunigst, um sie aufs Neue zu schmücken;
doch als die Puppe eben wieder nackt und bloß war und nur noch der roten
Haube sich erfreuete, entriss der wilde Junge seiner Gefährtin das
Spielzeug und warf es hoch in die Luft. Das Mädchen sprang klagend darnach,
allein der Knabe fing die Puppe zuerst wieder auf, warf sie aufs Neue empor,
und indem das Mädchen sie vergeblich zu haschen sich bemühte, neckte
er es auf diese Weise eine gute Zeit. Unter seinen Händen aber nahm die
fliegende Puppe Schaden, und zwar am Knie ihres einzigen Beines, allwo ein
kleines Loch einige Kleiekörner durchsickern ließ. Kaum bemerkte
der Peiniger dies Loch, so verhielt er sich mäuschenstill und war mit
offenem Munde eifrig beflissen, das Loch mit seinen Nägeln zu
vergrößern und dem Ursprung der Kleie nachzuspüren.
Seine Stille erschien dem armen Mädchen höchst verdächtig
und es drängte sich herzu und musste mit Schrecken sein böses
Beginnen gewahren. »Sieh mal!«, rief er und schlenkerte ihr das
Bein vor der Nase herum, dass ihr die Kleie ins Gesicht flog, und wie
sie darnach langen wollte und schrie und flehte, sprang er wieder fort und
ruhte nicht eher, bis das ganze Bein dürr und leer herabhing als eine
traurige Hülse. Dann warf er das misshandelte Spielzeug hin und
stellte sich höchst frech und gleichgültig, als die Kleine sich
weinend auf die Puppe warf und dieselbe in ihre Schürze hüllte.
Sie nahm sie aber wieder hervor und betrachtete wehselig die Ärmste,
und als sie das Bein sah, fing sie abermals an laut zu weinen, denn
dasselbe hing an dem Rumpfe nicht anders denn das Schwänzchen an
einem Molche. Als sie gar so unbändig weinte, ward es dem Missetäter
endlich etwas übel zumut und er stand in Angst und Reue vor der Klagenden,
und als sie dies merkte, hörte sie plötzlich auf und schlug ihn
einige Mal mit der Puppe, und er tat, als ob es ihm weh täte, und schrie Au!
so natürlich, dass sie zufrieden war und nun mit ihm gemeinschaftlich
die Zerstörung und Zerlegung fortsetzte. Sie bohrten Loch auf Loch in den
Marterleib und ließen aller Enden die Kleie entströmen, welche sie
sorgfältig auf einem flachen Steine zu einem Häufchen sammelten,
umrührten und aufmerksam betrachteten. Das einzige Feste, was noch an
der Puppe bestand, war der Kopf und musste jetzt vorzüglich die
Aufmerksamkeit der Kinder erregen; sie trennten ihn sorgfältig los
von dem ausgequetschten Leichnam und guckten erstaunt in sein hohles Innere.
Als sie die bedenkliche Höhlung sahen und auch die Kleie sahen, war es
der nächste und natürlichste Gedankensprung, den Kopf mit der Kleie
auszufüllen, und so waren die Fingerchen der Kinder nun beschäftigt,
um die Wette Kleie in den Kopf zu tun, sodass zum ersten Mal in seinem Leben
etwas in ihm steckte. Der Knabe mochte es aber immer noch für ein totes
Wissen halten, weil er plötzlich eine große blaue Fliege fing und,
die summende zwischen beiden hohlen Händen haltend, dem Mädchen gebot,
den Kopf von der Kleie zu entleeren. Hierauf wurde die Fliege hineingesperrt
und das Loch mit Gras verstopft. Die Kinder hielten den Kopf an die Ohren und
setzten ihn dann feierlich auf einen Stein; da er noch mit der roten Mohnblume
bedeckt war, so glich der Tönende jetzt einem weissagenden Haupte und die
Kinder lauschten in tiefer Stille seinen Kunden und Märchen, indessen
sie sich umschlungen hielten. Aber jeder Prophet erweckt Schrecken und Undank;
das wenige Leben in dem dürftig geformten Bilde erregte die menschliche
Grausamkeit in den Kindern, und es wurde beschlossen, das Haupt zu begraben.
So machten sie ein Grab und legten den Kopf, ohne die gefangene Fliege um
ihre Meinung zu befragen, hinein und errichteten über dem Grabe ein
ansehnliches Denkmal von Feldsteinen. Dann empfanden sie einiges Grauen,
da sie etwas Geformtes und Belebtes begraben hatten, und entfernten sich ein
gutes Stück von der unheimlichen Stätte. Auf einem ganz mit
grünen Kräutern bedeckten Plätzchen legte sich das Dirnchen
auf den Rücken, da es müde war, und begann in eintöniger
Weise einige Worte zu singen, immer die nämlichen, und der Junge kauerte
daneben und half, indem er nicht wusste, ob er auch vollends umfallen solle,
so lässig und müßig war er. Die Sonne schien dem singenden
Mädchen in den geöffneten Mund, beleuchtete dessen blendend weiße
Zähnchen und durchschimmerte die roten Purpurlippen. Der Knabe sah die
Zähne, und dem Mädchen den Kopf haltend und dessen Zähnchen
neugierig untersuchend, rief er: »Rate, wie viele Zähne hat man?«
Das Mädchen besann sich einen Augenblick, als ob es reiflich nachzählte,
und sagte dann auf Geratewohl: »Hundert!« - »Nein,
zweiunddreißig!«, rief er, »wart, ich will einmal zählen!«
Da zählte er die Zähne des Kindes, und weil er nicht zweiunddreißig
herausbrachte, so fing er immer wieder von Neuem an. Das Mädchen hielt
lange still, als aber der eifrige Zähler nicht zu Ende kam, raffte es sich
auf und rief: »Nun will ich deine zählen!« Nun legte sich der
Bursche hin ins Kraut, das Mädchen über ihn, umschlang seinen Kopf,
er sperrte das Maul auf, und es zählte: Eins, zwei, sieben, fünf,
zwei, eins; denn die kleine Schöne konnte noch nicht zählen. Der
Junge verbesserte sie und gab ihr Anweisung, wie sie zählen solle,
und so fing auch sie unzählige Mal von Neuem an und das Spiel schien
ihnen am besten zu gefallen von allem, was sie heut unternommen. Endlich
aber sank das Mädchen ganz auf den kleinen Rechenmeister nieder, und die
Kinder schliefen ein in der hellen Mittagssonne.

Inzwischen hatten die Väter ihre Äcker fertig gepflügt und in
frisch duftende braune Fläche umgewandelt. Als nun, mit der letzten
Furche zu Ende gekommen, der Knecht des einen halten wollte, rief sein Meister:
»Was hältst du? Kehr noch einmal um!« - »Wir sind ja fertig!«,
sagte der Knecht. »Halt's Maul und tu, wie ich dir sage!«, der Meister.
Und sie kehrten um und rissen eine tüchtige Furche in den mittlern herrenlosen
Acker hinein, dass Kraut und Steine flogen. Der Bauer hielt sich aber nicht
mit der Beseitigung derselben auf, er mochte denken, hiezu sei noch Zeit genug
vorhanden, und er begnügte sich, für heute die Sache nur aus dem
Gröbsten zu tun. So ging es rasch die Höhe empor in sanftem Bogen,
und als man oben angelangt und das liebliche Windeswehen eben wieder den Kappenzipfel
des Mannes zurückwarf, pflügte auf der anderen Seite der Nachbar vorüber,
mit dem Zipfel nach vorn, und schnitt ebenfalls eine ansehnliche Furche vom mittlern
Acker, dass die Schollen nur so zur Seite flogen. Jeder sah wohl, was der andere
tat, aber keiner schien es zu sehen, und sie entschwunden sich wieder, indem jedes
Sternbild still am andern vorüberging und hinter diese runde Welt hinabtauchte.
So gehen die Weberschiffchen des Geschickes aneinander vorbei, und »was er webt,
das weiß kein Weber!«
[Zweiter Teil: Der Streit der Väter]

Es kam eine Ernte um die andere, und jede sah die Kinder größer
und schöner und den herrenlosen Acker schmäler zwischen seinen
breitgewordenen Nachbarn. Mit jedem Pflügen verlor er hüben und
drüben eine Furche, ohne dass ein Wort darüber gesprochen worden
wäre und ohne dass ein Menschenauge den Frevel zu sehen schien. Die
Steine wurden immer mehr zusammengedrängt und bildeten schon einen ordentlichen
Grat auf der ganzen Länge des Ackers, und das wilde Gesträuch darauf war
schon so hoch, dass die Kinder, obgleich sie gewachsen waren, sich nicht mehr
sehen konnten, wenn eines dies- und das andere jenseits ging. Denn sie gingen nun
nicht mehr gemeinschaftlich auf das Feld, da der zehnjährige Salomon oder
Sali, wie er genannt wurde, sich schon wacker auf Seite der größeren
Burschen und der Männer hielt; und das braune Vrenchen, obgleich es ein
feuriges Dirnchen war, musste bereits unter der Obhut seines Geschlechts
gehen, sonst wäre es von den andern als ein Bubenmädchen ausgelacht
worden. Dennoch nahmen sie während jeder Ernte, wenn alles auf den
Äckern war, einmal Gelegenheit, den wilden Steinkamm, der sie trennte,
zu besteigen und sich gegenseitig von demselben herunterzustoßen. Wenn
sie auch sonst keinen Verkehr mehr miteinander hatten, so schien diese jährliche
Zeremonie um so sorglicher gewahrt zu werden, als sonst nirgends die Felder ihrer
Väter zusammenstießen.

Indessen sollte der Acker doch endlich verkauft und der Erlös einstweilen
amtlich aufgehoben werden. Die Versteigerung fand an Ort und Stelle statt, wo
sich aber nur einige Gaffer einfanden außer den Bauern Manz und Marti,
da niemand Lust hatte, das seltsame Stückchen zu erstehen und zwischen
den beiden Nachbarn zu bebauen. Denn obgleich diese zu den besten Bauern des
Dorfes gehörten und nichts weiter getan hatten, als was zwei Drittel der
übrigen unter diesen Umständen auch getan haben würden, so sah
man sie doch jetzt stillschweigend darum an und niemand wollte zwischen ihnen
eingeklemmt sein mit dem geschmälerten Waisenfelde. Die meisten Menschen
sind fähig oder bereit, ein in den Lüften umgehendes Unrecht zu
verüben, wenn sie mit der Nase darauf stoßen; sowie es aber von
einem begangen ist, sind die übrigen froh, dass sie es doch nicht
gewesen sind, dass die Versuchung nicht sie betroffen hat, und sie machen
nun den Auserwählten zu dem Schlechtigkeitsmesser ihrer Eigenschaften und
behandeln ihn mit zarter Scheu als einen Ableiter des Übels, der von den
Göttern gezeichnet ist, während ihnen zugleich noch der Mund
wässert nach den Vorteilen, die er dabei genossen. Manz und Marti
waren also die Einzigen, welche ernstlich auf den Acker boten; nach einem
ziemlich hartnäckigen Überbieten erstand ihn Manz und er wurde ihm
zugeschlagen. Die Beamten und die Gaffer verloren sich vom Felde; die beiden
Bauern, welche sich auf ihren Äckern noch zu schaffen gemacht, trafen beim
Weggehen wieder zusammen und Marti sagte: »Du wirst nun dein Land, das alte
und das neue, wohl zusammenschlagen und in zwei gleiche Stücke teilen?
Ich hätte es wenigstens so gemacht, wenn ich das Ding bekommen hätte.« -
»Ich werde es allerdings auch tun«, antwortete Manz, »denn als ein
Acker würde mir das Stück zu groß sein. Doch was ich sagen wollte:
Ich habe bemerkt, dass du neulich noch am unteren Ende dieses Ackers, der jetzt
mir gehört, schräg hineingefahren bist und ein gutes Dreieck abgeschnitten
hast. Du hast es vielleicht getan in der Meinung, du werdest das ganze Stück an
dich bringen und es sei dann sowieso dein. Da es nun aber mir gehört, so wirst
du wohl einsehen, dass ich eine solche ungehörige Einkrümmung nicht
brauchen noch dulden kann, und wirst nichts dagegen haben, wenn ich den Strich wieder
grad mache! Streit wird das nicht abgeben sollen!«

Marti erwiderte ebenso kaltblütig als ihn Manz angeredet hatte: »Ich sehe
auch nicht, wo Streit herkommen soll! Ich denke, du hast den Acker gekauft, wie er
da ist, wir haben ihn alle gemeinschaftlich besehen und er hat sich seit einer
Stunde nicht um ein Haar verändert!«

»Larifari!«, sagte Manz, »was früher geschehen, wollen wir nicht
aufrühren! Was aber zu viel ist, ist zu viel und alles muss zuletzt eine
ordentliche grade Art haben; diese drei Äcker sind von jeher so grade nebeneinander
gelegen, wie nach dem Richtscheit gezeichnet; es ist ein ganz absonderlicher Spaß
von dir, wenn du nun einen solchen lächerlichen und unvernünftigen Schnörkel
dazwischen bringen willst, und wir beide würden einen Übernamen bekommen, wenn
wir den krummen Zipfel da bestehen ließen. Er muss durchaus weg!«

Marti lachte und sagte: »Du hast ja auf einmal eine merkwürdige Furcht vor
dem Gespötte der Leute! Das lässt sich aber ja wohl machen; mich geniert
das Krumme gar nicht; ärgert es dich, gut, so machen wir es grad, aber nicht auf
meiner Seite, das geb ich dir schriftlich, wenn du willst!«

»Rede doch nicht so spaßhaft«, sagte Manz, »es wird wohl grad
gemacht, und zwar auf deiner Seite, darauf kannst du Gift nehmen!«

»Das werden wir ja sehen und erleben!«, sagte Marti, und beide Männer
gingen auseinander, ohne sich weiter anzublicken; vielmehr starrten sie nach verschiedener
Richtung ins Blaue hinaus, als ob sie da wunder was für Merkwürdigkeiten im Auge
hätten, die sie betrachten müssten mit Aufbietung aller ihrer Geisteskräfte.

Schon am nächsten Tage schickte Manz einen Dienstbuben, ein Tagelöhnermädchen
und sein eigenes Söhnchen Sali auf den Acker hinaus, um das wilde Unkraut
und Gestrüpp auszureuten und auf Haufen zu bringen, damit nachher die Steine
um so bequemer weggefahren werden könnten. Dies war eine Änderung in
seinem Wesen, dass er den kaum elfjährigen Jungen, der noch zu keiner Arbeit
angehalten worden, nun mit hinaus sandte, gegen die Einsprache der Mutter. Es schien,
da er es mit ernsthaften und gesalbten Worten tat, als ob er mit dieser Arbeitsstrenge
gegen sein eigenes Blut das Unrecht betäuben wollte, in dem er lebte und welches
nun begann seine Folgen ruhig zu entfalten. Das ausgesandte Völklein jätete
inzwischen lustig an dem Unkraut und hackte mit Vergnügen an den wunderlichen
Stauden und Pflanzen aller Art, die da seit Jahren wucherten. Denn da es eine
außerordentliche, gleichsam wilde Arbeit war, bei der keine Regel und keine
Sorgfalt erheischt wurde, so galt sie als eine Lust. Das wilde Zeug, an der Sonne
gedörrt, wurde aufgehäuft und mit großem Jubel verbrannt,
dass der Qualm weithin sich verbreitete und die jungen Leutchen darin
herumsprangen wie besessen. Dies war das letzte Freudenfest auf dem Unglücksfelde,
und das junge Vrenchen, Martis Tochter, kam auch hinausgeschlichen und half tapfer mit.
Das Ungewöhnliche dieser Begebenheit und die lustige Aufregung gaben einen guten
Anlass, sich seinem kleinen Jugendgespielen wieder einmal zu nähern, und die
Kinder waren recht glücklich und munter bei ihrem Feuer. Es kamen noch andere
Kinder hinzu und es sammelte sich eine ganze vergnügte Gesellschaft; doch immer,
sobald sie getrennt wurden, suchte Sali alsobald wieder neben Vrenchen zu gelangen,
und dieses wusste desgleichen immer vergnügt lächelnd zu ihm zu
schlüpfen, und es war beiden Kreaturen, wie wenn dieser herrliche Tag nie
enden müsste und könnte. Doch der alte Manz kam gegen Abend herbei,
um zu sehen, was sie ausgerichtet, und obgleich sie fertig waren, so schalt er
doch ob dieser Lustbarkeit und scheuchte die Gesellschaft auseinander. Zugleich
zeigte sich Marti auf seinem Grund und Boden und, seine Tochter gewahrend, pfiff
er derselben schrill und gebieterisch durch den Finger, dass sie erschrocken
hineilte, und er gab ihr, ohne zu wissen warum, einige Ohrfeigen, also dass
beide Kinder in großer Traurigkeit und weinend nach Hause gingen, und sie
wussten jetzt eigentlich so wenig, warum sie so traurig waren, als warum
sie vorhin so vergnügt gewesen; denn die Rauheit der Väter, an sich
ziemlich neu, war von den arglosen Geschöpfen noch nicht begriffen und
konnte sie nicht tiefer bewegen.

Die nächsten Tage war es schon eine härtere Arbeit, zu welcher
Mannsleute gehörten, als Manz die Steine aufnehmen und wegfahren ließ.
Es wollte kein Ende nehmen und alle Steine der Welt schienen da beisammen zu sein.
Er ließ sie aber nicht ganz vom Felde wegbringen, sondern jede Fuhre auf jenem
streitigen Dreiecke abwerfen, welches von Marti schon säuberlich umgepflügt war.
Er hatte vorher einen graden Strich gezogen als Grenzscheide und belastete nun dies
Fleckchen Erde mit allen Steinen, welche beide Männer seit unvordenklichen
Zeiten herübergeworfen, sodass eine gewaltige Pyramide entstand, die
wegzubringen sein Gegner bleiben lassen würde, dachte er. Marti hatte dies
am wenigsten erwartet; er glaubte, der andere werde nach alter Weise mit dem
Pfluge zu Werke gehen wollen, und hatte daher abgewartet, bis er ihn als Pflüger
ausziehen sähe. Erst als die Sache schon beinahe fertig, hörte er von
dem schönen Denkmal, welches Manz da errichtet, rannte voll Wut hinaus, sah
die Bescherung, rannte zurück und holte den Gemeindeammann, um vorläufig
gegen den Steinhaufen zu protestieren und den Fleck gerichtlich in Beschlag nehmen
zu lassen, und von diesem Tage an lagen die zwei Bauern im Prozess miteinander
und ruhten nicht, ehe sie beide zugrunde gerichtet waren.

Die Gedanken der sonst so wohlweisen Männer waren nun so kurz geschnitten wie
Häcksel; der beschränkteste Rechtssinn von der Welt erfüllte jeden
von ihnen, indem keiner begreifen konnte noch wollte, wie der andere so offenbar
unrechtmäßig und willkürlich den fraglichen unbedeutenden Ackerzipfel
an sich reißen könne. Bei Manz kam noch ein wunderbarer Sinn für
Symmetrie und parallele Linien hinzu, und er fühlte sich wahrhaft gekränkt
durch den aberwitzigen Eigensinn, mit welchem Marti auf dem Dasein des unsinnigsten
und mutwilligsten Schnörkels beharrte. Beide aber trafen zusammen in der
Überzeugung, dass der andere, den andern so frech und plump übervorteilend,
ihn notwendig für einen verächtlichen Dummkopf halten müsse, da man
dergleichen etwa einem armen haltlosen Teufel, nicht aber einem aufrechten, klugen
und wehrhaften Manne gegenüber sich erlauben könne, und jeder sah sich in
seiner wunderlichen Ehre gekränkt und gab sich rückhaltlos der Leidenschaft
des Streites und dem daraus erfolgenden Verfalle hin, und ihr Leben glich fortan der
träumerischen Qual zweier Verdammten, welche, auf einem schmalen Brette einen
dunklen Strom hinabtreibend, sich befehden, in die Luft hauen und sich selber anpacken
und vernichten, in der Meinung, sie hätten ihr Unglück gefasst. Da sie
eine faule Sache hatten, so gerieten beide in die allerschlimmsten Hände von
Tausendkünstlern, welche ihre verdorbene Fantasie auftrieben zu ungeheuren
Blasen, die mit den nichtsnutzigsten Dingen angefüllt wurden. Vorzüglich
waren es die Spekulanten aus der Stadt Seldwyla, welchen dieser Handel ein
gefundenes Essen war, und bald hatte jeder der Streitenden einen Anhang von
Unterhändlern, Zuträgern und Ratgebern hinter sich, die alles bare
Geld auf hundert Wegen abzuziehen wussten. Denn das Fleckchen Erde mit dem
Steinhaufen darüber, auf welchem bereits wieder ein Wald von Nesseln und
Disteln blühte, war nur noch der erste Keim oder der Grundstein einer
verworrenen Geschichte und Lebensweise, in welcher die zwei Fünfzigjährigen
noch neue Gewohnheiten und Sitten, Grundsätze und Hoffnungen annahmen als sie
bisher geübt. Je mehr Geld sie verloren, desto sehnsüchtiger wünschten
sie welches zu haben, und je weniger sie besaßen, desto hartnäckiger
dachten sie reich zu werden und es dem andern zuvorzutun. Sie ließen sich
zu jedem Schwindel verleiten und setzten auch jahraus jahrein in alle fremden
Lotterien, deren Lose massenhaft in Seldwyla zirkulierten. Aber nie bekamen sie
einen Taler Gewinn zu Gesicht, sondern hörten nur immer vom Gewinnen anderer
Leute und wie sie selbst beinahe gewonnen hätten, indessen diese Leidenschaft
ein regelmäßiger Geldabfluss für sie war. Bisweilen machten sich
die Seldwyler den Spaß, beide Bauern ohne ihr Wissen am gleichen Lose
teilnehmen zu lassen, sodass beide die Hoffnung auf Unterdrückung und
Vernichtung des andern auf ein und dasselbe Los setzten. Sie brachten die
Hälfte ihrer Zeit in der Stadt zu, wo jeder in einer Spelunke sein Hauptquartier
hatte, sich den Kopf heißmachen und zu den lächerlichsten Ausgaben
und einem elenden und ungeschickten Schlemmen verleiten ließ, bei welchem
ihm heimlich doch selber das Herz blutete, also dass beide, welche
eigentlich nur in diesem Hader lebten, um für keine Dummköpfe zu gelten,
nun solche von der besten Sorte darstellten und von jedermann dafür angesehen
wurden. Die andere Hälfte der Zeit lagen sie verdrossen zu Hause oder
gingen ihrer Arbeit nach, wobei sie dann durch ein tolles böses Überhasten
und Antreiben das Versäumte einzuholen suchten und damit jeden ordentlichen
und zuverlässigen Arbeiter verscheuchten. So ging es gewaltig rückwärts
mit ihnen, und ehe zehn Jahre vorüber, steckten sie beide von Grund aus in
Schulden und standen wie die Störche auf einem Beine auf der Schwelle ihrer
Besitztümer, von der jeder Lufthauch sie herunterwehte. Aber wie es ihnen
auch erging, der Hass zwischen ihnen wurde täglich größer,
da jeder den andern als den Urheber seines Unsterns betrachtete, als seinen
Erbfeind und ganz unvernünftigen Widersacher, den der Teufel absichtlich
in die Welt gesetzt habe, um ihn zu verderben. Sie spieen aus, wenn sie sich
nur von Weitem sahen; kein Glied ihres Hauses durfte mit Frau, Kind oder
Gesinde des andern ein Wort sprechen, bei Vermeidung der gröbsten
Misshandlung. Ihre Weiber verhielten sich verschieden bei dieser
Verarmung und Verschlechterung des ganzen Wesens. Die Frau des Marti,
welche von guter Art war, hielt den Verfall nicht aus, härmte sich ab
und starb, ehe ihre Tochter vierzehn Jahre alt war. Die Frau des Manz hingegen
bequemte sich der veränderten Lebensweise an, und um sich als eine schlechte
Genossin zu entfalten, hatte sie nichts zu tun als einigen weiblichen Fehlern,
die ihr von jeher angehaftet, den Zügel schießen zu lassen und dieselben
zu Lastern auszubilden. Ihre Naschhaftigkeit wurde zu wilder Begehrlichkeit,
ihre Zungenfertigkeit zu einem grundfalschen und verlogenen Schmeichel- und
Verleumdungswesen, mit welchem sie jeden Augenblick das Gegenteil von dem sagte,
was sie dachte, alles hintereinander hetzte und ihrem eigenen Manne ein X für
ein U vormachte; ihre ursprüngliche Offenheit, mit der sie sich der
unschuldigeren Plauderei erfreut, ward nun zur abgehärteten Schamlosigkeit,
mit der sie jenes falsche Wesen betrieb, und so, statt unter ihrem Manne zu leiden,
drehte sie ihm eine Nase; wenn er es arg trieb, so machte sie es bunt, ließ
sich nichts abgehen und gedieh zu der dicksten Blüte einer Vorsteherin des
zerfallenden Hauses.
[Dritter Teil: Der Niedergang der Familien]

So war es nun schlimm bestellt um die armen Kinder, welche weder eine gute
Hoffnung für ihre Zukunft fassen konnten noch sich auch nur einer
lieblich frohen Jugend erfreuten, da überall nichts als Zank und Sorge war.
Vrenchen hatte anscheinend einen schlimmern Stand als Sali, da seine Mutter tot
und es einsam in einem wüsten Hause der Tyrannei eines verwilderten Vaters
anheimgegeben war. Als es sechzehn Jahre zählte, war es schon ein
schlank gewachsenes, ziervolles Mädchen; seine dunkelbraunen Haare ringelten
sich unablässig fast bis über die blitzenden braunen Augen, dunkelrotes
Blut durchschimmerte die Wangen des bräunlichen Gesichtes und glänzte
als tiefer Purpur auf den frischen Lippen, wie man es selten sah und was dem
dunklen Kinde ein eigentümliches Ansehen und Kennzeichen gab. Feurige
Lebenslust und Fröhlichkeit zitterte in jeder Fiber dieses Wesens; es
lachte und war aufgelegt zu Scherz und Spiel, wenn das Wetter nur im Mindesten
lieblich war, das heißt wenn es nicht zu sehr gequält wurde und nicht
zu viel Sorgen ausstand. Diese plagten es aber häufig genug; denn nicht nur
hatte es den Kummer und das wachsende Elend des Hauses mit zu tragen, sondern es
musste noch sich selber in acht nehmen und mochte sich gern halbwegs ordentlich
und reinlich kleiden, ohne dass der Vater ihm die geringsten Mittel dazu geben
wollte. So hatte Vrenchen die größte Not, ihre anmutige Person
einigermaßen auszustaffieren, sich ein allerbescheidenstes Sonntagskleid zu
erobern und einige bunte, fast wertlose Halstüchelchen zusammenzuhalten.
Darum war das schöne wohlgemute junge Blut in jeder Weise gedemütigt
und gehemmt und konnte am wenigsten der Hoffart anheimfallen. Überdies hatte
es bei schon erwachendem Verstande das Leiden und den Tod seiner Mutter gesehen,
und dies Andenken war ein weiterer Zügel, der seinem lustigen und feurigen
Wesen angelegt war, sodass es nun höchst lieblich, unbedenklich und
rührend sich ansah, wenn trotz alledem das gute Kind bei jedem Sonnenblick
sich ermunterte und zum Lächeln bereit war.

Sali erging es nicht so hart auf den ersten Anschein; denn er war nun ein
hübscher und kräftiger junger Bursche, der sich zu wehren wusste
und dessen äußere Haltung wenigstens eine schlechte Behandlung von selbst
unzulässig machte. Er sah wohl die üble Wirtschaft seiner Eltern und
glaubte sich erinnern zu können, dass es einst nicht so gewesen; ja er
bewahrte noch das frühere Bild seines Vaters wohl in seinem Gedächtnisse
als eines festen, klugen und ruhigen Bauers, desselben Mannes, den er jetzt als
einen grauen Narren, Händelführer und Müßiggänger vor
sich sah, der mit Toben und Prahlen auf hundert törichten und verfänglichen
Wegen wandelte und mit jeder Stunde rückwärts ruderte wie ein Krebs. Wenn
ihm nun dies missfiel und ihn oft mit Scham und Kummer erfüllte, während
es seiner Unerfahrenheit nicht klar war, wie die Dinge so gekommen, so wurden seine
Sorgen wieder betäubt durch die Schmeichelei, mit der ihn die Mutter behandelte.
Denn um in ihrem Unwesen ungestörter zu sein und einen guten Parteigänger
zu haben, auch um ihrer Großtuerei zu genügen, ließ sie ihm zukommen,
was er wünschte, kleidete ihn sauber und prahlerisch und unterstützte ihn
in allem, was er zu seinem Vergnügen vornahm. Er ließ sich dies gefallen
ohne viel Dankbarkeit, da ihm die Mutter viel zu viel dazu schwatzte und log; und
indem er so wenig Freude daran empfand, tat er lässig und gedankenlos, was
ihm gefiel, ohne dass dies jedoch etwas Übles war, weil er für jetzt
noch unbeschädigt war von dem Beispiele der Alten und das jugendliche
Bedürfnis fühlte, im Ganzen einfach, ruhig und leidlich tüchtig
zu sein. Er war ziemlich genau so, wie sein Vater in diesem Alter gewesen war,
und dieses flößte demselben eine unwillkürliche Achtung vor dem
Sohne ein, in welchem er mit verwirrtem Gewissen und gepeinigter Erinnerung seine
eigene Jugend achtete. Trotz dieser Freiheit, welche Sali genoss, ward er
seines Lebens doch nicht froh und fühlte wohl, wie er nichts Rechtes vor
sich hatte und ebenso wenig etwas Rechtes lernte, da von einem zusammenhängenden
und vernunftgemäßen Arbeiten in Manzens Hause längst nicht mehr die
Rede war. Sein bester Trost war daher, stolz auf seine Unabhängigkeit und
einstweilige Unbescholtenheit zu sein, und in diesem Stolze ließ er die
Tage trotzig verstreichen und wandte die Augen von der Zukunft ab.

Der einzige Zwang, dem er unterworfen, war die Feindschaft seines Vaters gegen alles,
was Marti hieß und an diesen erinnerte. Doch wusste er nichts anderes als
dass Marti seinem Vater Schaden zugefügt und dass man in dessen Hause
ebenso feindlich gesinnt sei, und es fiel ihm daher nicht schwer, weder den Marti
noch seine Tochter anzusehen und seinerseits auch einen angehenden, doch ziemlich
zahmen Feind vorzustellen. Vrenchen hingegen, welches mehr erdulden musste als
Sali und in seinem Hause viel verlassener war, fühlte sich weniger zu einer
förmlichen Feindschaft aufgelegt und glaubte sich nur verachtet von dem
wohlgekleideten und scheinbar glücklicheren Sali; deshalb verbarg sie sich
vor ihm, und wenn er irgendwo nur in der Nähe war, so entfernte sie sich
eilig, ohne dass er sich die Mühe gab, ihr nachzublicken. So kam es,
dass er das Mädchen schon seit ein paar Jahren nicht mehr in der Nähe
gesehen und gar nicht wusste, wie es aussah, seit es herangewachsen. Und doch
wunderte es ihn zuweilen ganz gewaltig, und wenn überhaupt von den Martis
gesprochen wurde, so dachte er unwillkürlich nur an die Tochter, deren
jetziges Aussehen ihm nicht deutlich und deren Andenken ihm gar nicht verhasst war.

Doch war sein Vater Manz nun der erste von den beiden Feinden, der sich nicht
mehr halten konnte und von Haus und Hof springen musste. Dieser Vortritt
rührte daher, dass er eine Frau besaß, die ihm geholfen, und einen
Sohn, der doch auch einiges mit brauchte, während Marti der einzige Verzehrer
war in seinem wackeligen Königreich, und seine Tochter durfte wohl arbeiten
wie ein Haustierchen, aber nichts gebrauchen. Manz aber wusste nichts anderes
anzufangen, als auf den Rat seiner Seldwyler Gönner in die Stadt zu ziehen und
da sich als Wirt aufzutun. Es ist immer betrüblich anzusehen, wenn ein ehemaliger
Landmann, der auf dem Felde alt geworden ist, mit den Trümmern seiner Habe in
eine Stadt zieht und da eine Schenke oder Kneipe auftut, um als letzten Rettungsanker
den freundlichen und gewandten Wirt zu machen, während es ihm nichts weniger als
freundlich zumut ist. Als die Manzen vom Hofe zogen, sah man erst, wie arm sie bereits
waren; denn sie luden lauter alten und zerfallenen Hausrat auf, dem man es ansah,
dass seit vielen Jahren nichts erneuert und angeschafft worden war. Die Frau
legte aber nichtsdestominder ihren besten Staat an, als sie sich oben auf die
Gerümpelfuhre setzte, und machte ein Gesicht voller Hoffnungen, als künftige
Stadtfrau schon mit Verachtung auf die Dorfgenossen herabsehend, welche voll Mitleid
hinter den Hecken hervor dem bedenklichen Zuge zuschauten. Denn sie nahm sich vor,
mit ihrer Liebenswürdigkeit und Klugheit die ganze Stadt zu bezaubern, und was
ihr versimpelter Mann nicht machen könne, das wolle sie schon ausrichten, wenn
sie nur erst einmal als Frau Wirtin in einem stattlichen Gasthofe säße.
Dieser Gasthof bestand aber in einer trübseligen Winkelschenke in einem
abgelegenen schmalen Gässchen, auf der eben ein anderer zugrunde gegangen
war und welche die Seldwyler dem Manz verpachteten, da er noch einige hundert Taler
einzuziehen hatte. Sie verkauften ihm auch ein paar Fässchen angemachten
Weines und das Wirtschaftsmobiliar, das aus einem Dutzend weißen geringen
Flaschen, ebenso viel Gläsern und einigen tannenen Tischen und Bänken bestand,
welche einst blutrot angestrichen gewesen und jetzt vielfältig abgescheuert waren.
Vor dem Fenster knarrte ein eiserner Reifen in einem Haken und in dem Reifen schenkte
eine blecherne Hand Rotwein aus einem Schöppchen in ein Glas. Überdies hing
ein verdorrter Busch von Stechpalme über der Haustüre, was Manz alles mit
in die Pacht bekam. Um deswillen war er nicht so wohlgemut wie seine Frau, sondern
trieb mit schlimmer Ahnung und voll Ingrimm die mageren Pferde an, welche er vom
neuen Bauern geliehen. Das letzte schäbige Knechtchen, das er gehabt, hatte
ihn schon seit einigen Wochen verlassen. Als er solcherweise abfuhr, sah er wohl,
wie Marti voll Hohn und Schadenfreude sich unfern der Straße zu schaffen machte,
fluchte ihm und hielt denselben für den alleinigen Urheber seines Unglückes.
Sali aber, sobald das Fuhrwerk im Gange war, beschleunigte seine Schritte, eilte
voraus und ging allein auf Seitenwegen nach der Stadt.

»Da wären wir!«, sagte Manz, als die Fuhre vor dem Spelunkelein anhielt.
Die Frau erschrak darüber, denn das war in der Tat ein trauriger Gasthof. Die Leute
traten eilfertig unter die Fenster und vor die Häuser, um sich den neuen Bauernwirt
anzusehen, und machten mit ihrer Seldwyler Überlegenheit mitleidig spöttische
Gesichter. Zornig und mit nassen Augen kletterte die Manzin vom Wagen herunter und lief,
ihre Zunge vorläufig wetzend, in das Haus, um sich heute vornehm nicht wieder blicken
zu lassen; denn sie schämte sich des schlechten Gerätes und der verdorbenen Betten,
welche nun abgeladen wurden. Sali schämte sich auch, aber er musste helfen und machte
mit seinem Vater einen seltsamen Verlag in dem Gässchen, auf welchem alsbald die
Kinder der Falliten herumsprangen und sich über das verlumpete Bauernpack lustig machten.
Im Hause aber sah es noch trübseliger aus und es glich einer vollkommenen
Räuberhöhle. Die Wände waren schlecht geweißtes feuchtes Mauerwerk,
außer der dunklen unfreundlichen Gaststube mit ihren ehemals blutroten Tischen
waren nur noch ein paar schlechte Kämmerchen da, und überall hatte der
ausgezogene Vorgänger den trostlosesten Schmutz und Kehricht zurückgelassen.

So war der Anfang und so ging es auch fort. Während der ersten Woche kamen, besonders
am Abend, wohl hin und wieder ein Tisch voll Leute aus Neugierde, den Bauernwirt zu sehen
und ob es da vielleicht einigen Spaß absetzte. Am Wirt hatten sie nicht viel zu
betrachten, denn Manz war ungelenk, starr, unfreundlich und melancholisch und wusste
sich gar nicht zu benehmen, wollte es auch nicht wissen. Er füllte langsam und
ungeschickt die Schöppchen, stellte sie mürrisch vor die Gäste und
versuchte etwas zu sagen, brachte aber nichts heraus. Desto eifriger warf sich nun
seine Frau ins Geschirr und hielt die Leute wirklich einige Tage zusammen, aber in
einem ganz andern Sinne, als sie meinte. Die ziemlich dicke Frau hatte sich eine eigene
Haustracht zusammengesetzt, in der sie unwiderstehlich zu sein glaubte. Zu einem
leinenen ungefärbten Landrock trug sie einen alten grünseidenen Spenser,
eine baumwollene Schürze und einen schlimmen weißen Halskragen. Von ihrem
nicht mehr dichten Haar hatte sie an den Schläfen possierliche Schnecken gewickelt
und in das Zöpfchen hinten einen hohen Kamm gesteckt. So schwänzelte und
tänzelte sie mit angestrengter Anmut herum, spitzte lächerlich das Maul,
dass es süß aussehen sollte, hüpfte elastisch an die Tische hin,
und das Glas oder den Teller mit gesalzenem Käse hinsetzend, sagte sie lächelnd:
»So so? so soli! herrlich herrlich, ihr Herren!« und solches dummes Zeug mehr;
denn obwohl sie sonst eine geschaffene Zunge hatte, so wusste sie jetzt doch nichts
Gescheites vorzubringen, da sie fremd war und die Leute nicht kannte. Die Seldwyler von
der schlechtesten Sorte, die da hockten, hielten die Hand vor den Mund, wollten vor
Lachen ersticken, stießen sich unter dem Tisch mit den Füßen und sagten:
»Potz tausig! das ist ja eine Herrliche!« »Eine Himmlische!«, sagte
ein anderer, »beim ewigen Hagel! Es ist der Mühe wert, hierher zu kommen,
so eine haben wir lang nicht gesehen!« Ihr Mann bemerkte das wohl mit finsterm
Blicke; er gab ihr einen Stoß in die Rippen und flüsterte: »Du alte Kuh!
Was machst du denn?« - »Störe mich nicht«, sagte sie unwillig,
»du alter Tolpatsch! Siehst du nicht, wie ich mir Mühe gebe und mit den
Leuten umzugehen weiß? Das sind aber nur Lumpen von deinem Anhang! Lass
mich nur machen, ich will bald fürnehmere Kundschaft hier haben!« Dies
alles war beleuchtet von einem oder zwei dünnen Talglichten; Sali, der Sohn,
aber ging hinaus in die dunkle Küche, setzte sich auf den Herd und weinte
über Vater und Mutter.

Die Gäste hatten aber das Schauspiel bald satt, welches ihnen die gute
Frau Manz gewährte, und blieben wieder, wo es ihnen wohler war und sie
über die wunderliche Wirtschaft lachen konnten; nur dann und wann erschien
ein einzelner, der ein Glas trank und die Wände angähnte, oder es kam
ausnahmsweise eine ganze Bande, die armen Leute mit einem vorübergehenden
Trubel und Lärm zu täuschen. Es ward ihnen angst und bange in dem engen
Mauerwinkel, wo sie kaum die Sonne sahen, und Manz, welcher sonst gewohnt war
tagelang in der Stadt zu liegen, fand es jetzt unerträglich zwischen diesen
Mauern. Wenn er an die freie Weite der Felder dachte, so stierte er finster
brütend an die Decke oder auf den Boden, lief unter die enge Haustüre
und wieder zurück, da die Nachbarn den bösen Wirt, wie sie ihn schon
nannten, angafften. Nun dauerte es aber nicht mehr lange und sie verarmten
gänzlich und hatten gar nichts mehr in der Hand; sie mussten, um etwas
zu essen, warten, bis einer kam und für wenig Geld etwas von dem noch
vorhandenen Wein verzehrte, und wenn er eine Wurst oder dergleichen begehrte,
so hatten sie oft die größte Angst und Sorge, dieselbe beizutreiben.
Bald hatten sie auch den Wein nur noch in einer großen Flasche verborgen,
die sie heimlich in einer anderen Kneipe füllen ließen, und so sollten
sie nun die Wirte machen ohne Wein und Brot und freundlich sein, ohne ordentlich
gegessen zu haben. Sie waren beinahe froh, wenn nur niemand kam, und hockten so
in ihrem Kneipchen, ohne leben noch sterben zu können. Als die Frau diese
traurigen Erfahrungen machte, zog sie den grünen Spenser wieder aus und nahm
abermals eine Veränderung vor, indem sie nun, wie früher die Fehler,
so nun einige weibliche Tugenden aufkommen ließ und mehr ausbildete, da Not
an den Mann ging. Sie übte Geduld und suchte den Alten aufrecht zu halten
und den Jungen zum Guten anzuweisen; sie opferte sich vielfältig in allerlei
Dingen, kurz, sie übte in ihrer Weise eine Art von wohltätigem Einfluss,
der zwar nicht weit reichte und nicht viel besserte, aber immerhin besser war als
gar nichts oder als das Gegenteil und die Zeit wenigstens verbringen half, welche
sonst viel früher hätte brechen müssen für diese Leute. Sie
wusste manchen Rat zu geben nunmehr in erbärmlichen Dingen, nach ihrem
Verstande, und wenn der Rat nichts zu taugen schien und fehlschlug, so ertrug
sie willig den Grimm der Männer, kurzum, sie tat jetzt alles, da sie alt
war, was besser gedient hätte, wenn sie es früher geübt.
[Vierter Teil: Nach zwölf Jahren]

Um wenigstens etwas Beißbares zu erwerben und die Zeit zu verbringen,
verlegten sich Vater und Sohn auf die Fischerei, das heißt mit der Angelrute,
soweit es für jeden erlaubt war, sie in den Fluss zu hängen. Dies
war auch eine Hauptbeschäftigung der Seldwyler, nachdem sie falliert hatten.
Bei günstigem Wetter, wenn die Fische gern anbissen, sah man sie dutzendweise
hinauswandern mit Rute und Eimer, und wenn man an den Ufern des Flusses wandelte,
hockte alle Spanne lang einer, der angelte, der eine in einem langen braunen
Bürgerrock, die bloßen Füße im Wasser, der andere in einem
spitzen blauen Frack auf einer alten Weide stehend, den alten Filz schief auf
dem Ohre; weiterhin angelte gar einer im zerrissenen großblumigen Schlafrock,
da er keinen andern mehr besaß, die lange Pfeife in der einen, die Rute in der
anderen Hand, und wenn man um eine Krümmung des Flusses bog, stand ein alter
kahlköpfiger Dickbauch faselnackt auf einem Stein und angelte; dieser hatte,
trotz des Aufenthaltes am Wasser, so schwarze Füße, dass man glaubte,
er habe die Stiefel anbehalten. Jeder hatte ein Töpfchen oder ein Schächtelchen
neben sich, in welchem Regenwürmer wimmelten, nach denen sie zu andern Stunden
zu graben pflegten. Wenn der Himmel mit Wolken bezogen und es ein schwüles
dämmeriges Wetter war, welches Regen verkündete, so standen diese Gestalten
am zahlreichsten an dem ziehenden Strome, regungslos gleich einer Galerie von
Heiligen- oder Prophetenbildern. Achtlos zogen die Landleute mit Vieh und Wagen an
ihnen vorüber, und die Schiffer auf dem Flusse sahen sie nicht an, während
sie leise murrten über die störenden Schiffe.

Wenn man Manz vor zwölf Jahren, als er mit einem schönen Gespann pflügte
auf dem Hügel über dem Ufer, geweissagt hätte, er würde sich einst
zu diesen wunderlichen Heiligen gesellen und gleich ihnen Fische fangen, so wäre
er nicht übel aufgefahren. Auch eilte er jetzt hastig an ihnen vorüber
hinter ihren Rücken und eilte stromaufwärts gleich einem eigensinnigen
Schatten der Unterwelt, der sich zu seiner Verdammnis ein bequemes einsames
Plätzchen sucht an den dunklen Wässern. Mit der Angelrute zu stehen hatten
er und sein Sohn indessen keine Geduld und sie erinnerten sich der Art, wie die
Bauern auf manche andere Weise etwa Fische fangen, wenn sie übermütig sind,
besonders mit den Händen in den Bächen; daher nahmen sie die Ruten nur zum
Schein mit und gingen an den Borden der Bäche hinauf, wo sie wussten, dass
es teure und gute Forellen gab.

Dem auf dem Lande zurückgebliebenen Marti ging es inzwischen auch immer schlimmer
und es war ihm höchst langweilig dabei, sodass er, anstatt auf seinem
vernachlässigten Felde zu arbeiten, ebenfalls auf das Fischen verfiel und
tagelang im Wasser herumplätscherte. Vrenchen durfte nicht von seiner Seite und
musste ihm Eimer und Gerät nachtragen durch nasse Wiesengründe, durch
Bäche und Wassertümpel aller Art, bei Regen und Sonnenschein, indessen sie
das Notwendigste zu Hause liegen lassen musste. Denn es war sonst keine Seele mehr
da und wurde auch keine gebraucht, da Marti das meiste Land schon verloren hatte und
nur noch wenige Äcker besaß, die er mit seiner Tochter liederlich genug oder
gar nicht bebaute.

So kam es, dass, als er eines Abends einen ziemlich tiefen und reißenden Bach
entlang ging, in welchem die Forellen fleißig sprangen, da der Himmel voll
Gewitterwolken hing, er unverhofft auf seinen Feind Manz traf, der an dem andern Ufer
daherkam. Sobald er ihn sah, stieg ein schrecklicher Groll und Hohn in ihm auf, sie
waren sich seit Jahren nicht so nahe gewesen, ausgenommen vor den Gerichtsschranken,
wo sie nicht schelten durften, und Marti rief jetzt voll Grimm: »Was tust du hier,
du Hund? Kannst du nicht in deinem Lotterneste bleiben, du Seldwyler Lumpenhund?«

»Wirst nächstens wohl auch ankommen, du Schelm!«, rief Manz. »Fische
fängst du ja auch schon und wirst deshalb nicht viel mehr zu versäumen haben!«

»Schweig, du Galgenhund!«, schrie Marti, da hier die Wellen des Baches stärker
rauschten, »du hast mich ins Unglück gebracht!« Und da jetzt auch die Weiden
am Bache gewaltig zu rauschen anfingen im aufgehenden Wetterwind, so musste Manz noch
lauter schreien: »Wenn dem nur so wäre, so wollte ich mich freuen, du elender
Tropf!« - »O du Hund!«, schrie Marti herüber und Manz hinüber:
»O du Kalb, wie dumm tust du!« Und jener sprang wie ein Tiger den Bach entlang
und suchte herüberzukommen. Der Grund, warum er der Wütendere war, lag in
seiner Meinung, dass Manz als Wirt wenigstens genug zu essen und zu trinken hätte
und gewissermaßen ein kurzweiliges Leben führe, während es ungerechterweise
ihm so langweilig wäre auf seinem zertrümmerten Hofe. Manz schritt indessen auch
grimmig genug an der anderen Seite hin; hinter ihm sein Sohn, welcher, statt auf den
bösen Streit zu hören, neugierig und verwundert nach Vrenchen hinübersah,
welche hinter ihrem Vater ging, vor Scham in die Erde sehend, dass ihr die braunen
krausen Haare ins Gesicht fielen. Sie trug einen hölzernen Fischeimer in der einen
Hand, in der anderen hatte sie Schuh und Strümpfe getragen und ihr Kleid der
Nässe wegen aufgeschürzt. Seit aber Sali auf der anderen Seite ging, hatte
sie es schamhaft sinken lassen und war nun dreifach belästigt und gequält,
da sie alle das Zeug tragen, den Rock zusammenhalten und des Streites wegen sich
grämen musste. Hätte sie aufgesehen und nach Sali geblickt, so würde
sie entdeckt haben, dass er weder vornehm noch sehr stolz mehr aussah und selbst
bekümmert genug war. Während Vrenchen so ganz beschämt und verwirrt auf
die Erde sah und Sali nur diese in allem Elende schlanke und anmutige Gestalt im Auge
hatte, die so verlegen und demütig dahinschritt, beachteten sie dabei nicht, wie
ihre Väter still geworden, aber mit verstärkter Wut einem hölzernen
Stege zueilten, der in kleiner Entfernung über den Bach führte und eben
sichtbar wurde. Es fing an zu blitzen und erleuchtete seltsam die dunkle melancholische
Wassergegend; es donnerte auch in den grauschwarzen Wolken mit dumpfem Grolle und
schwere Regentropfen fielen, als die verwilderten Männer gleichzeitig auf die
schmale, unter ihren Tritten schwankende Brücke stürzten, sich gegenseitig
packten und die Fäuste in die vor Zorn und ausbrechendem Kummer bleichen
zitternden Gesichter schlugen. Es ist nichts Anmutiges und nichts weniger als artig,
wenn sonst gesetzte Menschen noch in den Fall kommen, aus Übermut, Unbedacht
oder Notwehr unter allerhand Volk, das sie nicht näher berührt, Schläge
auszuteilen oder welche zu bekommen; allein dies ist eine harmlose Spielerei gegen das
tiefe Elend, das zwei alte Menschen überwältigt, die sich wohl kennen und seit
lange kennen, wenn diese aus innerster Feindschaft und aus dem Gange einer ganzen
Lebensgeschichte heraus sich mit nackten Händen anfassen und mit Fäusten
schlagen. So taten jetzt diese beide ergrauten Männer; vor fünfzig Jahren
vielleicht hatten sie sich als Buben zum letzten Mal gerauft, dann aber fünfzig
lange Jahre mit keiner Hand mehr berührt, ausgenommen in ihrer guten Zeit, wo
sie sich etwa zum Gruße die Hände geschüttelt, und auch dies nur selten
bei ihrem trockenen und sichern Wesen. Nachdem sie ein oder zweimal geschlagen, hielten
sie inne und rangen still zitternd miteinander, nur zuweilen aufstöhnend und
elendiglich knirschend, und einer suchte den andern über das knackende Geländer
ins Wasser zu werfen. Jetzt waren aber auch ihre Kinder nachgekommen und sahen den
erbärmlichen Auftritt. Sali sprang eines Satzes heran, um seinem Vater beizustehen
und ihm zu helfen, dem gehassten Feinde den Garaus zu machen, der ohnehin der
schwächere schien und eben zu unterliegen drohte. Aber auch Vrenchen sprang, alles
wegwerfend, mit einem langen Aufschrei herzu und umklammerte ihren Vater, um ihn zu
schützen, während sie ihn dadurch nur hinderte und beschwerte.
Tränen strömten aus ihren Augen und sie sah flehend den Sali an, der im
Begriff war, ihren Vater ebenfalls zu fassen und vollends zu überwältigen.
Unwillkürlich legte er aber seine Hand an seinen eigenen Vater und suchte
denselben mit festem Arm von dem Gegner loszubringen und zu beruhigen, sodass
der Kampf eine kleine Weile ruhte oder vielmehr die ganze Gruppe unruhig hin und her
drängte, ohne auseinander zu kommen. Darüber waren die jungen Leute, sich
mehr zwischen die Alten schiebend, in dichte Berührung gekommen, und in diesem
Augenblicke erhellte ein Wolkenriss, der den grellen Abendschein durchließ,
das nahe Gesicht des Mädchens, und Sali sah in dies ihm so wohlbekannte und doch
so viel anders und schöner gewordene Gesicht. Vrenchen sah in diesem Augenblicke
auch sein Erstaunen und es lächelte ganz kurz und geschwind mitten in seinem
Schrecken und in seinen Tränen ihn an. Doch ermannte sich Sali, geweckt durch
die Anstrengungen seines Vaters, ihn abzuschütteln, und brachte ihn mit
eindringlich bittenden Worten und fester Haltung endlich ganz von seinem Feinde
weg. Beide alte Gesellen atmeten hoch auf und begannen jetzt wieder zu schelten
und zu schreien, sich voneinander abwendend; ihre Kinder aber atmeten kaum und
waren still wie der Tod, gaben sich aber im Wegwenden und Trennen, ungesehen von
den Alten, schnell die Hände, welche vom Wasser und von den Fischen feucht
und kühl waren.

Als die grollenden Parteien ihrer Wege gingen, hatten die Wolken sich wieder
geschlossen, es dunkelte mehr und mehr und der Regen goss nun in Bächen
durch die Luft. Manz schlenderte voraus auf den dunklen nassen Wegen, er duckte
sich, beide Hände in den Taschen, unter den Regengüssen, zitterte noch
in seinen Gesichtszügen und mit den Zähnen und ungesehene Tränen
rieselten ihm in den Stoppelbart, die er fließen ließ, um sie durch
das Wegwischen nicht zu verraten. Sein Sohn hatte aber nichts gesehen, weil er
in glückseligen Bildern verloren daherging. Er merkte weder Regen noch Sturm,
weder Dunkelheit noch Elend; sondern leicht, hell und warm war es ihm innen und
außen und er fühlte sich so reich und wohlgeborgen wie ein Königssohn.
Er sah fortwährend das sekundenlange Lächeln des nahen schönen
Gesichtes und erwiderte dasselbe erst jetzt, eine gute halbe Stunde nachher, indem
er voll Liebe in Nacht und Wetter hinein und das liebe Gesicht anlachte, das ihm
allerwegen aus dem Dunkel entgegentrat, sodass er glaubte, Vrenchen müsse
auf seinen Wegen dies Lachen notwendig sehen und seiner inne werden.
[Fünfter Teil: Das heimliche Liebespaar]

Sein Vater war des andern Tags wie zerschlagen und wollte nicht aus dem Hause. Der ganze
Handel und das vieljährige Elend nahm heute eine neue, deutlichere Gestalt an und
breitete sich dunkel aus in der drückenden Luft der Spelunke, also dass Mann
und Frau matt und scheu um das Gespenst herumschlichen, aus der Stube in die dunklen
Kämmerchen, von da in die Küche und aus dieser wieder sich in die Stube schleppten,
in welcher kein Gast sich sehen ließ. Zuletzt hockte jedes in einem Winkel und begann
den Tag über ein müdes, halbtotes Zanken und Vorhalten mit dem andern, wobei sie
zeitweise einschliefen, von unruhigen Tagträumen geplagt, welche aus dem Gewissen
kamen und sie wieder weckten. Nur Sali sah und hörte nichts davon, denn er dachte
nur an Vrenchen. Es war ihm immer noch zumut, nicht nur als ob er unsäglich reich
wäre, sondern auch was Rechts gelernt hätte und unendlich viel Schönes
und Gutes wüsste, da er nun so deutlich und bestimmt um das wusste, was er
gestern gesehen. Diese Wissenschaft war ihm wie vom Himmel gefallen und er war in einer
unaufhörlichen glücklichen Verwunderung darüber; und doch war es ihm,
als ob er es eigentlich von jeher gewusst und gekannt hätte, was ihn jetzt mit
so wundersamer Süßigkeit erfüllte. Denn nichts gleicht dem Reichtum und
der Unergründlichkeit eines Glückes, das an den Menschen herantritt in einer
so klaren und deutlichen Gestalt, vom Pfäfflein getauft und wohl versehen mit einem
eigenen Namen, der nicht tönt wie andere Namen.

Sali fühlte sich an diesem Tage weder müßig noch unglücklich, weder
arm noch hoffnungslos; vielmehr war er vollauf beschäftigt, sich Vrenchens Gesicht
und Gestalt vorzustellen, unaufhörlich, eine Stunde wie die andere; über
dieser aufgeregten Tätigkeit aber verschwand ihm der Gegenstand derselben fast
vollständig, das heißt er bildete sich endlich ein, nun doch nicht zu wissen,
wie Vrenchen recht genau aussehe, er habe wohl ein allgemeines Bild von ihr im
Gedächtnis, aber wenn er sie beschreiben sollte, so könnte er das nicht.
Er sah fortwährend dies Bild, als ob es vor ihm stände, und fühlte
seinen angenehmen Eindruck, und doch sah er es nur wie etwas, das man eben nur einmal
gesehen, in dessen Gewalt man liegt und das man doch noch nicht kennt. Er erinnerte
sich genau der Gesichtszüge, welche das kleine Dirnchen einst gehabt, mit
großem Wohlgefallen, aber nicht eigentlich derjenigen, welche er gestern gesehen.
Hätte er Vrenchen nie wieder zu sehen bekommen, so hätten sich seine
Erinnerungskräfte schon behelfen müssen und das liebe Gesicht säuberlich
wieder zusammengetragen, dass nicht ein Zug daran fehlte. Jetzt aber versagten sie
schlau und hartnäckig ihren Dienst, weil die Augen nach ihrem Recht und ihrer Lust
verlangten, und als am Nachmittage die Sonne warm und hell die oberen Stockwerke der
schwarzen Häuser beschien, strich Sali aus dem Tore und seiner alten Heimat zu,
welche ihm jetzt erst ein himmlisches Jerusalem zu sein schien mit zwölf glänzenden
Pforten und die sein Herz klopfen machte, als er sich ihr näherte.

Er stieß auf dem Wege auf Vrenchens Vater, welcher nach der Stadt zu gehen schien.
Der sah sehr wild und liederlich aus, sein grau gewordener Bart war seit Wochen nicht
geschoren, und er sah aus wie ein recht böser verlorener Bauersmann, der sein
Feld verscherzt hat und nun geht, um andern Übles zuzufügen. Dennoch sah
ihn Sali, als sie sich vorübergingen, nicht mehr mit Hass, sondern voll Furcht
und Scheu an, als ob sein Leben in dessen Hand stände und er es lieber von ihm
erflehen als ertrotzen möchte. Marti aber maß ihn mit einem bösen Blicke
von oben bis unten und ging seines Weges. Das war indessen dem Sali recht, welchem es
nun, da er den Alten das Dorf verlassen sah, deutlicher wurde, was er eigentlich da wolle,
und er schlich sich auf altbekannten Pfaden so lange um das Dorf herum und durch dessen
verdeckte Gässchen, bis er sich Martis Haus und Hof gegenüber befand. Seit
mehreren Jahren hatte er diese Stätte nicht mehr so nah gesehen; denn auch als sie
noch hier wohnten, hüteten sich die verfeindeten Leute gegenseitig, sich ins Gehege
zu kommen. Deshalb war er nun erstaunt über das, was er doch an seinem eigenen
Vaterhause erlebt, und starrte voll Verwunderung in die Wüstenei, die er vor sich
sah. Dem Marti war ein Stück Ackerland um das andere abgepfändet worden, er
besaß nichts mehr als das Haus und den Platz davor nebst etwas Garten und dem
Acker auf der Höhe am Flusse, von welchem er hartnäckig am längsten
nicht lassen wollte.

Es war aber keine Rede mehr von einer ordentlichen Bebauung, und auf dem Acker,
der einst so schön im gleichmäßigen Korne gewogt, wenn die Ernte kam,
waren jetzt allerhand abfällige Samenreste gesäet und aufgegangen, aus alten
Schachteln und zerrissenen Düten zusammengekehrt, Rüben, Kraut und dergleichen
und etwas Kartoffeln, sodass der Acker aussah wie ein recht übel gepflegter
Gemüseplatz und eine wunderliche Musterkarte war, dazu angelegt, um von der Hand
in den Mund zu leben, hier eine Handvoll Rüben auszureißen, wenn man Hunger
hatte und nichts Besseres wusste, dort eine Tracht Kartoffeln oder Kraut, und
das Übrige fortwuchern oder verfaulen zu lassen, wie es mochte. Auch lief
jedermann darin herum, wie es ihm gefiel, und das schöne breite Stück
Feld sah beinahe so aus wie einst der herrenlose Acker, von dem alles Unheil herkam.
Deshalb war um das Haus nicht eine Spur von Ackerwirtschaft zu sehen. Der Stall war
leer, die Türe hing nur in einer Angel, und unzählige Kreuzspinnen, den
Sommer hindurch halb groß geworden, ließen ihre Fäden in der Sonne
glänzen vor dem dunklen Eingang. An dem offen stehenden Scheunentor, wo einst
die Früchte des festen Landes eingefahren, hing schlechtes Fischergeräte,
zum Zeugnis der verkehrten Wasserpfuscherei; auf dem Hofe war nicht ein Huhn und
nicht eine Taube, weder Katze noch Hund zu sehen; nur der Brunnen war noch als
etwas Lebendiges da, aber er floss nicht mehr durch die Röhre, sondern
sprang durch einen Riss nahe am Boden über diesen hin und setzte überall
kleine Tümpel an, sodass er das beste Sinnbild der Faulheit abgab. Denn
während mit wenig Mühe des Vaters das Loch zu verstopfen und die Röhre
herzustellen gewesen wäre, musste sich Vrenchen nun abquälen, selbst
das lautere Wasser dieser Verkommenheit abzugewinnen und seine Wäscherei in den
seichten Sammlungen am Boden vorzunehmen statt in dem vertrockneten und zerspellten
Troge. Das Haus selbst war ebenso kläglich anzusehen; die Fenster waren
vielfältig zerbrochen und mit Papier verklebt, aber doch waren sie das
Freundlichste an dem Verfall; denn sie waren, selbst die zerbrochenen Scheiben,
klar und sauber gewaschen, ja förmlich poliert, und glänzten so hell
wie Vrenchens Augen, welche ihm in seiner Armut ja auch allen übrigen Staat
ersetzen mussten. Und wie die krausen Haare und die rotgelben Kattunhalstücher
zu Vrenchens Augen, stand zu diesen blinkenden Fenstern das wilde grüne Gewächs,
was da durcheinander rankte um das Haus, flatternde Bohnenwäldchen und eine ganze
duftende Wildnis von rotgelbem Goldlack. Die Bohnen hielten sich, so gut sie konnten,
hier an einem Harkenstiel oder an einem verkehrt in die Erde gesteckten Stumpfbesen,
dort an einer von Rost zerfressenen Helbarte oder Sponton, wie man es nannte, als
Vrenchens Großvater das Ding als Wachtmeister getragen, welches es jetzt aus
Not in die Bohnen gepflanzt hatte; dort kletterten sie wieder lustig eine verwitterte
Leiter empor, die am Hause lehnte seit undenklichen Zeiten, und hingen von da in die
klaren Fensterchen hinunter wie Vrenchens Kräuselhaare in seine Augen. Dieser
mehr malerische als wirtliche Hof lag etwas beiseit und hatte keine näheren
Nachbarhäuser, auch ließ sich in diesem Augenblicke nirgends eine lebendige
Seele wahrnehmen; Sali lehnte daher in aller Sicherheit an einem alten Scheunchen,
etwa dreißig Schritte entfernt, und schaute unverwandt nach dem stillen
wüsten Hause hinüber. Eine geraume Zeit lehnte und schaute er so, als
Vrenchen unter die Haustür kam und lange vor sich hin blickte, wie mit allen
ihren Gedanken an einem Gegenstande hängend. Sali rührte sich nicht und
wandte kein Auge von ihr. Als sie endlich zufällig in dieser Richtung hinsah,
fiel er ihr in die Augen. Sie sahen sich eine Weile an, herüber und hinüber,
als ob sie eine Lufterscheinung betrachteten, bis sich Sali endlich aufrichtete und
langsam über die Straße und über den Hof ging auf Vrenchen los. Als
er dem Mädchen nahe war, streckte es seine Hände gegen ihn aus und sagte:
»Sali!« Er ergriff die Hände und sah ihr immerfort ins Gesicht.
Tränen stürzten aus ihren Augen, während sie unter seinen Blicken
vollends dunkelrot wurde, und sie sagte: »Was willst du hier?« -
»Nur dich sehen!« erwiderte er, »wollen wir nicht wieder gute
Freunde sein?«
»Und unsere Eltern?«, fragte Vrenchen, sein
weinendes Gesicht zur Seite neigend, da es die Hände nicht frei hatte, um
es zu bedecken. »Sind wir schuld an dem, was sie getan und geworden sind?«,
sagte Sali, »vielleicht können wir das Elend nur gut machen, wenn wir zwei
zusammenhalten und uns recht lieb sind!« - »Es wird nie gut kommen«,
antwortete Vrenchen mit einem tiefen Seufzer, »geh in Gottes Namen deiner Wege,
Sali!« - »Bist du allein?«, fragte dieser, »kann ich einen
Augenblick hineinkommen?« - »Der Vater ist zur Stadt, wie er sagte,
um deinem Vater irgendetwas anzuhängen; aber hereinkommen kannst du nicht,
weil du später vielleicht nicht so ungesehen weggehen kannst wie jetzt. Noch
ist alles still und niemand um den Weg, ich bitte dich, geh jetzt!« -
»Nein, so geh ich nicht! Ich musste seit gestern immer an dich denken,
und ich geh nicht so fort, wir müssen miteinander reden, wenigstens eine
halbe Stunde lang oder eine Stunde, das wird uns gut tun!« Vrenchen besann
sich ein Weilchen und sagte dann: »Ich geh gegen Abend auf unsern Acker
hinaus, du weißt welchen, wir haben nur noch den, und hole etwas Gemüse.
Ich weiß, dass niemand weiter dort sein wird, weil die Leute anderswo
schneiden; wenn du willst, so komm dorthin, aber jetzt geh und nimm dich in acht,
dass dich niemand sieht! Wenn auch kein Mensch hier mehr mit uns umgeht, so
würden sie doch ein solches Gerede machen, dass es der Vater sogleich
vernähme.« Sie ließen sich jetzt die Hände frei, ergriffen
sie aber auf der Stelle wieder und beide sagten gleichzeitig: »Und wie geht
es dir auch?« Aber statt sich zu antworten, fragten sie das Gleiche aufs
Neue, und die Antwort lag nur in den beredten Augen, da sie nach Art der Verliebten
die Worte nicht mehr zu lenken wussten und, ohne sich weiter etwas zu sagen,
endlich halb selig halb traurig auseinanderhuschten. »Ich komme recht bald
hinaus, geh nur gleich hin!«, rief Vrenchen noch nach.

Sali ging auch alsobald auf die stille schöne Anhöhe hinaus, über
welche die zwei Äcker sich erstreckten, und die prächtige stille Julisonne,
die fahrenden weißen Wolken, welche über das reife wallende Kornfeld
wegzogen, der glänzende blaue Fluss, der unten vorüberwallte, alles
dies erfüllte ihn zum ersten Male seit langen Jahren wieder mit Glück
und Zufriedenheit statt mit Kummer, und er warf sich der Länge nach in den
durchsichtigen Halbschatten des Kornes, wo dasselbe Martis wilden Acker begrenzte,
und guckte glückselig in den Himmel.

Obgleich es kaum eine Viertelstunde währte, bis Vrenchen nachkam, und er an
nichts anderes dachte als an sein Glück und dessen Namen, stand es doch
plötzlich und unverhofft vor ihm, auf ihn niederlächelnd, und froh
erschreckt sprang er auf. »Vreeli!« rief er, und dieses gab ihm still
und lächelnd beide Hände, und Hand in Hand gingen sie nun das flüsternde
Korn entlang bis gegen den Fluss hinunter und wieder zurück, ohne viel zu reden;
sie legten zwei und dreimal den Hin- und Herweg zurück, still, glückselig
und ruhig, sodass dieses einige Paar nun auch einem Sternenbilde glich, welches
über die sonnige Rundung der Anhöhe und hinter derselben niederging, wie
einst die sicher gehenden Pflugzüge ihrer Väter. Als sie aber einstmals die
Augen von den blauen Kornblumen aufschlugen, an denen sie gehaftet, sahen sie
plötzlich einen andern dunklen Stern vor sich hergehen, einen schwärzlichen Kerl,
von dem sie nicht wussten, woher er so unversehens gekommen. Er musste im Korne
gelegen haben; Vrenchen zuckte zusammen und Sali sagte erschreckt: »Der schwarze
Geiger!« In der Tat trug der Kerl, der vor ihnen herstrich, eine Geige mit dem
Bogen unter dem Arm und sah übrigens schwarz genug aus; neben einem schwarzen
Filzhütchen und einem schwarzen rußigen Kittel, den er trug, war auch sein
Haar pechschwarz so wie der ungeschorene Bart, das Gesicht und die Hände aber
ebenfalls geschwärzt; denn er trieb allerlei Handwerk, meistens Kesselflicken,
half auch den Kohlenbrennern und Pechsiedern in den Wäldern und ging mit der
Geige nur auf einen guten Schick aus, wenn die Bauern irgendwo lustig waren und ein
Fest feierten. Sali und Vrenchen gingen mäuschenstill hinter ihm drein und
dachten, er würde vom Felde gehen und verschwinden, ohne sich umzusehen, und
so schien es auch zu sein, denn er tat, als ob er nichts von ihnen merkte. Dazu
waren sie in einem seltsamen Bann, dass sie nicht wagten, den schmalen Pfad zu
verlassen, und dem unheimlichen Gesellen unwillkürlich folgten bis an das Ende
des Feldes, wo jener ungerechte Steinhaufen lag, der das immer noch streitige
Ackerzipfelchen bedeckte. Eine zahllose Menge von Mohnblumen oder Klatschrosen
hatte sich darauf angesiedelt, weshalb der kleine Berg feuerrot aussah zurzeit.
Plötzlich sprang der schwarze Geiger mit einem Satze auf die rot bekleidete
Steinmasse hinauf, kehrte sich und sah ringsum. Das Pärchen blieb stehen und
sah verlegen zu dem dunklen Burschen hinauf; denn vorbei konnten sie nicht gehen,
weil der Weg in das Dorf führte, und umkehren mochten sie auch nicht vor
seinen Augen. Er sah sie scharf an und rief: »Ich kenne euch, ihr seid die
Kinder derer, die mir den Boden hier gestohlen haben! Es freut mich zu sehen,
wie gut ihr gefahren seid, und werde gewiss noch erleben, dass ihr vor
mir den Weg alles Fleisches geht! Seht mich nur an, ihr zwei Spatzen! Gefällt
euch meine Nase, wie?« In der Tat besaß er eine schreckbare Nase,
welche wie ein großes Winkelmaß aus dem dürren schwarzen Gesicht
ragte oder eigentlich mehr einem tüchtigen Knebel oder Prügel glich,
welcher in dies Gesicht geworfen worden war und unter dem ein kleines rundes
Löchelchen von einem Munde sich seltsam stutzte und zusammenzog, aus dem
er unaufhörlich pustete, pfiff und zischte. Dazu stand das kleine
Filzhütchen ganz unheimlich, welches nicht rund und nicht eckig und so
sonderlich geformt war, dass es alle Augenblicke seine Gestalt zu verändern
schien, obgleich es unbeweglich saß, und von den Augen des Kerls war fast
nichts als das Weiße zu sehen, da die Sterne unaufhörlich auf einer
blitzschnellen Wanderung begriffen waren und wie zwei Hasen im Zickzack umhersprangen.
»Seht mich nur an«, fuhr er fort, »eure Väter kennen mich wohl
und jedermann in diesem Dorfe weiß, wer ich bin, wenn er nur meine Nase ansieht.
Da haben sie vor Jahren ausgeschrieben, dass ein Stück Geld für den
Erben dieses Ackers bereitliege; ich habe mich zwanzigmal gemeldet, aber ich habe
keinen Taufschein und keinen Heimatschein, und meine Freunde, die Heimatlosen,
die meine Geburt gesehen, haben kein gültiges Zeugnis, und so ist die Frist
längst verlaufen und ich bin um den blutigen Pfennig gekommen, mit dem ich
hätte auswandern können! Ich habe eure Väter angefleht, dass
sie mir bezeugen möchten, sie müssten mich nach ihrem Gewissen
für den rechten Erben halten; aber sie haben mich von ihren Höfen
gejagt, und nun sind sie selbst zum Teufel gegangen! Item, das ist der Welt
Lauf, mir kann's recht sein, ich will euch doch geigen, wenn ihr tanzen
wollt!« Damit sprang er auf der anderen Seite von den Steinen hinunter
und machte sich dem Dorfe zu, wo gegen Abend der Erntesegen eingebracht wurde
und die Leute guter Dinge waren. Als er verschwunden, ließ sich das Paar
ganz mutlos und betrübt auf die Steine nieder; sie ließen ihre
verschlungenen Hände fahren und stützten die traurigen Köpfe
darauf; denn die Erscheinung des Geigers und seine Worte hatten sie aus der
glücklichen Vergessenheit gerissen, in welcher sie wie zwei Kinder auf
und ab gewandelt, und wie sie nun auf dem harten Grund ihres Elendes saßen,
verdunkelte sich das heitere Lebenslicht und ihre Gemüter wurden so schwer
wie Steine.

Da erinnerte sich Vrenchen unversehens der wunderlichen Gestalt und der Nase des
Geigers, es musste plötzlich hell auflachen und rief: »Der arme Kerl
sieht gar zu spaßhaft aus! Was für eine Nase!« Und eine allerliebste
sonnenhelle Lustigkeit verbreitete sich über des Mädchens Gesicht, als ob
sie nur geharrt hätte, bis des Geigers Nase die trüben Wolken wegstieße.
Sali sah Vrenchen an und sah diese Fröhlichkeit. Es hatte die Ursache aber schon
wieder vergessen und lachte nur noch auf eigene Rechnung dem Sali ins Gesicht. Dieser,
verblüfft und erstaunt, starrte unwillkürlich mit lachendem Munde auf die
Augen, gleich einem Hungrigen, der ein süßes Weizenbrot erblickt, und rief.
»Bei Gott, Vreeli! wie schön bist du!« Vrenchen lachte ihn nur noch
mehr an und hauchte dazu aus klangvoller Kehle einige kurze mutwillige Lachtöne,
welche dem armen Sali nicht anders dünkten als der Gesang einer Nachtigall.
»O du Hexe!«, rief er, »wo hast du das gelernt? Welche Teufelskünste
treibst du da?« - »Ach du lieber Gott!«, sagte Vrenchen mit schmeichelnder
Stimme und nahm Salis Hand, »das sind keine Teufelskünste! Wie lange hätte
ich gern einmal gelacht! Ich habe wohl zuweilen, wenn ich ganz allein war, über
irgendetwas lachen müssen, aber es war nichts Rechts dabei; jetzt aber möchte
ich dich immer und ewig anlachen, wenn ich dich sehe, und ich möchte dich wohl
immer und ewig sehen! Bist du mir auch ein bisschen recht gut?« - »O Vreeli!«,
sagte er und sah ihr ergeben und treuherzig in die Augen, »ich habe noch nie ein
Mädchen angesehen, es war mir immer, als ob ich dich einst lieb haben müsste,
ohne dass ich wollte oder wusste, hast du mir doch immer im Sinn gelegen!« -
»Und du mir auch«, sagte Vrenchen, »und das noch viel mehr; denn du hast
mich nie angesehen und wusstest nicht, wie ich geworden bin; ich aber habe dich
zuzeiten aus der Ferne und sogar heimlich aus der Nähe recht gut betrachtet und
wusste immer, wie du aussiehst! Weißt du noch, wie oft wir als Kinder
hierhergekommen sind? Denkst du noch des kleinen Wagens? Wie kleine Leute sind wir
damals gewesen und wie lang ist es her! Man sollte denken, wir wären recht
alt?« - »Wie alt bist du jetzt?«, fragte Sali voll Vergnügen
und Zufriedenheit,
»du musst ungefähr siebzehn sein?« -
»Siebzehn und ein halbes Jahr bin ich alt!«, erwiderte Vrenchen,
»und wie alt bist du? Ich weiß aber schon, du bist bald zwanzig!« -
»Woher weißt du das?«, fragte Sali. »Gelt, wenn ich es sagen
wollte!« - »Du willst es nicht sagen?« - »Nein!« -
»Gewiss nicht?« - »Nein, nein!« - »Du sollst es sagen!« -
»Willst du mich etwa zwingen?« - »Das wollen wir sehen!«
Diese einfältigen Reden führte Sali, um seine Hände zu beschäftigen
und mit ungeschickten Liebkosungen, welche wie eine Strafe aussehen sollten, das
schöne Mädchen zu bedrängen. Sie führte auch, sich wehrend, mit
vieler Langmut den albernen Wortwechsel fort, der trotz seiner Leerheit beide witzig
und süß genug dünkte, bis Sali erbost und kühn genug war, Vrenchens
Hände zu bezwingen und es in die Mohnblumen zu drücken. Da lag es nun und
zwinkerte in der Sonne mit den Augen; seine Wangen glühten wie Purpur und sein
Mund war halb geöffnet und ließ zwei Reihen weiße Zähne durchschimmern.
Fein und schön flossen die dunklen Augenbraunen ineinander, und die junge Brust hob
und senkte sich mutwillig unter sämtlichen vier Händen, welche sich kunterbunt
darauf streichelten und bekriegten. Sali wusste sich nicht zu lassen vor Freuden,
das schlanke schöne Geschöpf vor sich zu sehen, es sein eigen zu wissen, und
es dünkte ihm ein Königreich. »Alle deine weißen Zähne hast
du noch!«, lachte er, »weißt du noch, wie oft wir sie einst gezählt
haben? Kannst du jetzt zählen?« - »Das sind ja nicht die gleichen, du
Kind!«, sagte Vrenchen, »jene sind längst ausgefallen!« Sali wollte
nun in seiner Einfalt jenes Spiel wieder erneuern und die glänzenden Zahnperlen
zählen; aber Vrenchen verschloss plötzlich den roten Mund, richtete sich
auf und begann einen Kranz von Mohnrosen zu winden, den es sich auf den Kopf setzte.
Der Kranz war voll und breit und gab der bräunlichen Dirne ein fabelhaftes
reizendes Ansehen,
und der arme Sali hielt in seinem Arm, was reiche Leute teuer
bezahlt hätten, wenn sie es nur gemalt an ihren Wänden hätten sehen
können. Jetzt sprang sie aber empor und rief: »Himmel, wie heiß ist
es hier! Da sitzen wir wie die Narren und lassen uns versengen! Komm, mein Lieber!
Lass uns ins hohe Korn sitzen!« Sie schlüpften hinein so geschickt
und sachte, dass sie kaum eine Spur zurückließen, und bauten sich
einen engen Kerker in den goldenen Ähren, die ihnen hoch über den Kopf
ragten, als sie drin saßen, sodass sie nur den tiefblauen Himmel über
sich sahen und sonst nichts von der Welt. Sie umhalsten sich und küssten
sich unverweilt und so lange, bis sie einstweilen müde waren oder wie man es
nennen will, wenn das Küssen zweier Verliebter auf eine oder zwei Minuten sich
selbst überlebt und die Vergänglichkeit alles Lebens mitten im Rausche der
Blütezeit ahnen lässt. Sie hörten die Lerchen singen hoch über
sich und suchten dieselben mit ihren scharfen Augen, und wenn sie glaubten, flüchtig
eine in der Sonne aufblitzen zu sehen, gleich einem plötzlich aufleuchtenden oder
hinschießenden Stern am blauen Himmel, so küssten sie sich wieder zur
Belohnung und suchten einander zu übervorteilen und zu täuschen, soviel sie
konnten. »Siehst du, dort blitzt eine!«, flüsterte Sali, und Vrenchen
erwiderte ebenso leise: »Ich höre sie wohl, aber ich sehe sie nicht!« -
»Doch, pass nur auf, dort wo das weiße Wölkchen steht, ein wenig
rechts davon!« Und beide sahen eifrig hin und sperrten vorläufig ihre
Schnäbel auf wie die jungen Wachteln im Neste, um sie unverzüglich
aufeinander zu heften, wenn sie sich einbildeten, die Lerche gesehen zu haben.
Auf einmal hielt Vrenchen inne und sagte: »Dies ist also eine ausgemachte
Sache, dass jedes von uns einen Schatz hat, dünkt es dich nicht so?« -
»Ja«, sagte Sali, »es scheint mir auch so!« - »Wie
gefällt dir denn dein Schätzchen«, sagte Vrenchen, »was ist es
für ein Ding, was hast du von ihm zu melden?« - »Es ist ein gar
feines Ding«, sagte Sali, »es hat zwei braune Augen, einen roten Mund und
läuft auf zwei Füßen; aber seinen Sinn kenn ich weniger als den
Papst zu Rom! Und was kannst du von deinem Schatz berichten?« - »Er hat
zwei blaue Augen, einen nichtsnutzigen Mund und braucht zwei verwegene starke Arme;
aber seine Gedanken sind mir unbekannter als der türkische Kaiser!« -
»Es ist eigentlich wahr«, sagte Sali, »dass wir uns weniger
kennen, als wenn wir uns nie gesehen hätten, so fremd hat uns die lange Zeit
gemacht, seit wir groß geworden sind! Was ist alles vorgegangen in deinem
Köpfchen, mein liebes Kind?« »Ach, nicht viel! Tausend Narrenspossen
haben sich wollen regen, aber es ist mir immer so trübselig ergangen, dass
sie nicht aufkommen konnten!« - »Du armes Schätzchen«, sagte Sali,
»ich glaube aber, du hast es hinter den Ohren, nicht?« »Das kannst du
ja nach und nach erfahren, wenn du mich recht lieb hast!« - »Wenn du einst
meine Frau bist?« Vrenchen zitterte leis bei diesem letzten Worte und schmiegte
sich tiefer in Salis Arme, ihn von Neuem lange und zärtlich küssend. Es
traten ihr dabei Tränen in die Augen, und beide wurden auf einmal traurig, da
ihnen ihre hoffnungsarme Zukunft in den Sinn kam und die Feindschaft ihrer Eltern.
Vrenchen seufzte und sagte: »Komm, ich muss nun gehen!« Und so erhoben
sie sich und gingen Hand in Hand aus dem Kornfeld, als sie Vrenchens Vater spähend
vor sich sahen. Mit dem kleinlichen Scharfsinn des müßigen Elendes hatte
dieser, als er dem Sali begegnet, neugierig gegrübelt, was der wohl allein im
Dorfe zu suchen ginge, und sich des gestrigen Vorfalles erinnernd, verfiel er, immer
nach der Stadt zu schlendernd, endlich auf die richtige Spur, rein aus Groll und
unbeschäftigter Bosheit, und nicht sobald gewann der Verdacht eine bestimmte
Gestalt, als er mitten in den Gassen von Seldwyla umkehrte und wieder in das Dorf
hinaustrollte, wo er seine Tochter in Haus und Hof und rings in den Hecken vergeblich
suchte. Mit wachsender Neugier rannte er auf den Acker hinaus, und als er da Vrenches
Korb liegen sah, in welchem es die Früchte zu holen pflegte, das Mädchen
selbst aber nirgends erblickte, spähte er eben am Korne des Nachbars herum,
als die erschrockenen Kinder herauskamen.

Sie standen wie versteinert, und Marti stand erst auch da und beschaute sie mit
bösen Blicken, bleich wie Blei; dann fing er fürchterlich an zu toben
in Gebärden und Schimpfworten und langte zugleich grimmig nach dem jungen
Burschen, um ihn zu würgen; Sali wich aus und floh einige Schritte zurück,
entsetzt über den wilden Mann, sprang aber sogleich wieder zu, als er sah,
dass der Alte statt seiner nun das zitternde Mädchen fasste, ihm
eine Ohrfeige gab, dass der rote Kranz herunterflog, und seine Haare um
die Hand wickelte, um es mit sich fortzureißen und weiter zu misshandeln.
Ohne sich zu besinnen, raffte er einen Stein auf und schlug mit demselben den
Alten gegen den Kopf, halb in Angst um Vrenchen und halb im Jähzorn. Marti
taumelte erst ein wenig, sank dann bewusstlos auf den Steinhaufen nieder und
zog das erbärmlich aufschreiende Vrenchen mit. Sali befreite noch dessen
Haare aus der Hand des Bewusstlosen und richtete es auf; dann stand er da
wie eine Bildsäule, ratlos und gedankenlos. Das Mädchen, als es den
wie tot daliegenden Vater sah, fuhr sich mit den Händen über das
erbleichende Gesicht, schüttelte sich und sagte: »Hast du ihn erschlagen?«
Sali nickte lautlos und Vrenchen schrie: »O Gott, du lieber Gott! Es ist mein
Vater! Der arme Mann!«, und sinnlos warf es sich über ihn und hob seinen
Kopf auf, an welchem indessen kein Blut floss. Es ließ ihn wieder sinken;
Sali ließ sich auf der anderen Seite des Mannes nieder, und beide schauten,
still wie das Grab und mit erlahmten reglosen Händen, in das leblose Gesicht.
Um nur etwas anzufangen, sagte endlich Sali: »Er wird doch nicht gleich tot
sein müssen? Das ist gar nicht ausgemacht!« Vrenchen riss ein Blatt
von einer Klatschrose ab und legte es auf die erblassten Lippen und es bewegte
sich schwach. »Er atmet noch«, rief es, »so lauf doch ins Dorf und
hol Hilfe!« Als Sali aufsprang und laufen wollte, streckte es ihm die Hand
nach und rief ihn zurück. »Komm aber nicht mit zurück und sage
nichts, wie es zugegangen, ich werde auch schweigen, man soll nichts aus mir
herausbringen!«, sagte es und sein Gesicht, das es dem ratlosen Burschen
zuwandte, überfloss von schmerzlichen Tränen. »Komm, küss
mich noch einmal! Nein, geh, mach dich fort! Es ist aus, es ist ewig aus, wir
können nicht zusammenkommen!« Es stieß ihn fort, und er lief
willenlos dem Dorfe zu. Er begegnete einem Knäbchen, das ihn nicht kannte;
diesem trug er auf, die nächsten Leute zu holen, und beschrieb ihm genau,
wo die Hilfe nötig sei. Dann machte er sich verzweifelt fort und irrte die
ganze Nacht im Gehölze herum. Am Morgen schlich er in die Felder, um zu
erspähen, wie es gegangen sei, und hörte von frühen Leuten,
welche miteinander sprachen, dass Marti noch lebe, aber nichts von sich
wisse, und wie das eine seltsame Sache wäre, da kein Mensch wisse, was
ihm zugestoßen. Erst jetzt ging er in die Stadt zurück und verbarg
sich in dem dunklen Elend des Hauses.

Vrenchen hielt ihm Wort; es war nichts aus ihm herauszufragen, als dass
es selbst den Vater so gefunden habe, und da er am andern Tage sich wieder
tüchtig regte und atmete, freilich ohne Bewusstsein, und überdies
kein Kläger da war, so nahm man an, er sei betrunken gewesen und auf die
Steine gefallen, und ließ die Sache auf sich beruhen. Vrenchen pflegte
ihn und ging nicht von seiner Seite, außer um die Arzneimittel zu holen
beim Doktor und etwa für sich selbst eine schlechte Suppe zu kochen;
denn es lebte beinahe von nichts, obgleich es Tag und Nacht wach sein musste
und niemand ihm half. Es dauerte beinahe sechs Wochen, bis der Kranke allmählich
zu seinem Bewusstsein kam, obgleich er vorher schon wieder aß und in
seinem Bette ziemlich munter war. Aber es war nicht das alte Bewusstsein,
das er jetzt erlangte, sondern es zeigte sich immer deutlicher, je mehr er sprach,
dass er blödsinnig geworden, und zwar auf die wunderlichste Weise.
Er erinnerte sich nur dunkel an das Geschehene und wie an etwas sehr Lustiges,
was ihn nicht weiter berühre, lachte immer wie ein Narr und war guter Dinge.
Noch im Bette liegend, brachte er hundert närrische, sinnlos mutwillige
Redensarten und Einfälle zum Vorschein, schnitt Gesichter und zog sich die
schwarzwollene Zipfelmütze in die Augen und über die Nase herunter,
dass diese aussah wie ein Sarg unter einem Bahrtuch. Das bleiche und abgehärmte
Vrenchen hörte ihm geduldig zu, Tränen vergießend über
das törichte Wesen, welches die arme Tochter noch mehr ängstigte
als die frühere Bosheit; aber wenn der Alte zuweilen etwas gar zu
Drolliges anstellte, so musste es mitten in seiner Qual laut auflachen,
da sein unterdrücktes Wesen immer zur Lust aufzuspringen bereit war
wie ein gespannter Bogen, worauf dann eine um so tiefere Betrübnis
erfolgte. Als der Alte aber aufstehen konnte, war gar nichts mehr mit ihm
anzustellen; er machte nichts als Dummheiten, lachte und stöberte um
das Haus herum, setzte sich in die Sonne und streckte die Zunge heraus oder
hielt lange Reden in die Bohnen hinein.

Um die gleiche Zeit aber war es auch aus mit den wenigen Überbleibseln
seines ehemaligen Besitzes und die Unordnung so weit gediehen, dass auch
sein Haus und der letzte Acker, seit geraumer Zeit verpfändet, nun
gerichtlich verkauft wurden. Denn der Bauer, welcher die zwei Äcker
des Manz gekauft, benutzte die gänzliche Verkommenheit Martis und
seine Krankheit und führte den alten Streit wegen des strittigen
Steinfleckes kurz und entschlossen zu Ende, und der verlorene Prozess
trieb Martis Fass vollends den Boden aus, indessen er in seinem
Blödsinne nichts mehr von diesen Dingen wusste. Die Versteigerung
fand statt; Marti wurde von der Gemeinde in einer Stiftung für
dergleichen arme Tröpfe auf öffentliche Kosten untergebracht.
Diese Anstalt befand sich in der Hauptstadt des Ländchens; der
gesunde und essbegierige Blödsinnige wurde noch gut gefüttert,
dann auf ein mit Ochsen bespanntes Wägelchen geladen, das ein ärmlicher
Bauersmann nach der Stadt führte, um zugleich einen oder zwei Säcke
Kartoffeln zu verkaufen, und Vrenchen setzte sich zu dem Vater auf das Fuhrwerk,
um ihn auf diesem letzten Gange zu dem lebendigen Begräbnis zu begleiten.
Es war eine traurige und bittere Fahrt, aber Vrenchen wachte sorgfältig
über seinen Vater und ließ es ihm an nichts fehlen, und es sah
sich nicht um und ward nicht ungeduldig, wenn durch die Kapriolen des
Unglücklichen die Leute aufmerksam wurden und dem Wägelchen
nachliefen, wo sie durchfuhren. Endlich erreichten sie das weitläufige
Gebäude in der Stadt, wo die langen Gänge, die Höfe und ein
freundlicher Garten von einer Menge ähnlicher Tröpfe belebt waren,
die alle in weiße Kittel gekleidet waren und dauerhafte Lederkäppchen
auf den harten Köpfen trugen. Auch Marti wurde noch vor Vrenchens Augen
in diese Tracht gekleidet, und er freuete sich wie ein Kind darüber und
tanzte singend umher. »Gott grüß euch, ihr geehrten Herren!«,
rief er seine neuen Genossen an, »ein schönes Haus habt ihr hier!
Geh heim, Vrenggel, und sag der Mutter, ich komme nicht mehr nach Haus, hier
gefällt's mir bei Gott! Juchhei! Es kreucht ein Igel über den Hag,
ich hab ihn hören bellen! O Meitli, küss kein alten Knab,
küss nur die jungen Gesellen! Alle die Wässerlein laufen in
Rhein, die mit dem Pflaumenaug, die muss es sein! Gehst du schon, Vreeli?
Du siehst ja aus wie der Tod im Häfelein und geht es mir doch so erfreulich!
Die Füchsin schreit im Felde: Halleo, halleo! das Herz tut ihr weho!
hoho!« Ein Aufseher gebot ihm Ruhe und führte ihn zu einer leichten
Arbeit, und Vrenchen ging das Fuhrwerk aufzusuchen. Es setzte sich auf den
Wagen, zog ein Stückchen Brot hervor und aß dasselbe, dann schlief
es, bis der Bauer kam und mit ihm nach dem Dorfe zurückfuhr. Sie kamen
erst in der Nacht an. Vrenchen ging nach dem Hause, in dem es geboren und
nur zwei Tage bleiben durfte, und es war jetzt zum ersten Mal in seinem
Leben ganz allein darin. Es machte ein Feuer, um das letzte Restchen
Kaffee zu kochen, das es noch besaß, und setzte sich auf den Herd,
denn es war ihm ganz elendiglich zumut. Es sehnte sich und härmte
sich ab, den Sali nur ein einziges Mal zu sehen, und dachte inbrünstig
an ihn; aber die Sorgen und der Kummer verbitterten seine Sehnsucht, und
diese machte die Sorgen wieder viel schwerer. So saß es und stützte
den Kopf in die Hände, als jemand durch die offen stehende Tür
hereinkam. »Sali!«, rief Vrenchen, als es aufsah, und fiel ihm
um den Hals; dann sahen sich aber beide erschrocken an und riefen:
»Wie siehst du elend aus!« Denn Sali sah nicht minder als
Vrenchen bleich und abgezehrt aus. Alles vergessend zog es ihn zu sich
auf den Herd und sagte: »Bist du krank gewesen, oder ist es dir auch
so schlimm gegangen?« Sali antwortete: »Nein, ich bin gerade
nicht krank, außer vor Heimweh nach dir! Bei uns geht es jetzt hoch
und herrlich zu; der Vater hat einen Einzug und Unterschleif von auswärtigem
Gesindel, und ich glaube, soviel ich merke, ist er ein Diebshehler geworden.
Deshalb ist jetzt einstweilen Hülle und Fülle in unserer Taverne,
solang es geht und bis es ein Ende mit Schrecken nimmt. Die Mutter hilft
dazu, aus bitterlicher Gier, nur etwas im Hause zu sehen, und glaubt den
Unfug noch durch eine gewisse Aufsicht und Ordnung annehmlich und nützlich
zu machen! Mich fragt man nicht, und ich konnte mich nicht viel darum kümmern;
denn ich kann nur an dich denken Tag und Nacht. Da allerlei Landstreicher bei
uns einkehren, so haben wir alle Tage gehört, was bei euch vorgeht, worüber
mein Vater sich freut wie ein kleines Kind. Dass dein Vater heute nach dem
Spittel gebracht wurde, haben wir auch vernommen; ich habe gedacht, du werdest
jetzt allein sein, und bin gekommen, um dich zu sehen!« Vrenchen klagte
ihm jetzt auch alles, was sie drückte und was sie erlitt, aber mit so
leichter zutraulicher Zunge, als ob sie ein großes Glück beschriebe,
weil sie glücklich war, Sali neben sich zu sehen. Sie brachte inzwischen
notdürftig ein Becken voll warmen Kaffee zusammen, welchen mit ihr zu
teilen sie den Geliebten zwang. »Also übermorgen musst du hier
weg?«, sagte Sali, »was soll denn ums Himmels willen werden?« -
»Das weiß ich nicht«, sagte Vrenchen, »ich werde dienen
müssen und in die Welt hinaus! Ich werde es aber nicht aushalten ohne
dich, und doch kann ich dich nie bekommen, auch wenn alles andere nicht
wäre, bloß weil du meinen Vater geschlagen und um den Verstand
gebracht hast! Dies würde immer ein schlechter Grundstein unserer
Ehe sein und wir beide nie sorglos werden, nie!« Sali seufzte und
sagte: »Ich wollte auch schon hundertmal Soldat werden oder mich
in einer fremden Gegend als Knecht verdingen, aber ich kann doch nicht
fortgehen, solange du hier bist, und hernach wird es mich aufreiben.
Ich glaube, das Elend macht meine Liebe zu dir stärker und schmerzhafter,
sodass es um Leben und Tod geht! Ich habe von dergleichen keine Ahnung
gehabt!« Vrenchen sah ihn liebevoll lächelnd an; sie lehnten sich
an die Wand zurück und sprachen nichts mehr, sondern gaben sich
schweigend der glückseligen Empfindung hin, die sich über allen
Gram erhob, dass sie sich im größten Ernste gut wären
und geliebt wüssten. Darüber schliefen sie friedlich ein
auf dem unbequemen Herde, ohne Kissen und Pfühl, und schliefen so
sanft und ruhig wie zwei Kinder in einer Wiege. Schon graute der Morgen,
als Sali zuerst erwachte; er weckte Vrenchen, so sacht er konnte; aber es
duckte sich immer wieder an ihn, schlaftrunken, und wollte sich nicht
ermuntern. Da küsste er es heftig auf den Mund, und Vrenchen fuhr
empor, machte die Augen weit auf, und als es Sali erblickte, rief es:
»Herrgott! ich habe eben noch von dir geträumt! Es träumte
mir, wir tanzten miteinander auf unserer Hochzeit, lange, lange Stunden!
und waren so glücklich, sauber geschmückt und es fehlte uns an
nichts. Da wollten wir uns endlich küssen und dürsteten darnach,
aber immer zog uns etwas auseinander, und nun bist du es selbst gewesen,
der uns gestört und gehindert hat! Aber wie gut, dass du gleich
da bist!« Gierig fiel es ihm um den Hals und küsste ihn,
als ob es kein Ende nehmen sollte. »Und was hast du denn geträumt?«,
fragte es und streichelte ihm Wangen und Kinn. »Mir träumte,
ich ginge endlos auf einer langen Straße durch einen Wald und du in
der Ferne immer vor mir her; zuweilen sahest du nach mir um, winktest mir
und lachtest, und dann war ich wie im Himmel. Das ist alles!« Sie
traten unter die offen gebliebene Küchentüre, die unmittelbar
ins Freie führte, und mussten lachen, als sie sich ins Gesicht
sahen.
Denn die rechte Wange Vrenchens und die linke Salis, welche im
Schlafe aneinander gelehnt hatten, waren von dem Drucke ganz rot gefärbt,
während die Blässe der anderen durch die kühle Nachtluft noch
erhöht war. Sie rieben sich zärtlich die kalte bleiche Seite ihrer
Gesichter, um sie auch rot zu machen; die frische Morgenluft, der tauige
stille Frieden, der über der Gegend lag, das junge Morgenrot machten
sie fröhlich und selbstvergessen, und besonders in Vrenchen schien
ein freundlicher Geist der Sorglosigkeit gefahren zu sein. »Morgen
Abend muss ich also aus diesem Hause fort«, sagte es, »und
ein anderes Obdach suchen. Vorher aber möchte ich einmal, nur einmal
recht lustig sein, und zwar mit dir; ich möchte recht herzlich und
fleißig mit dir tanzen irgendwo, denn das Tanzen aus dem Traume
steckt mir immerfort im Sinn!« - »Jedenfalls will ich dabei
sein und sehen, wo du unterkommst«, sagte Sali, »und tanzen
wollte ich auch gerne mit dir, du herziges Kind! Aber wo?« -
»Es ist morgen Kirchweih an zwei Orten nicht sehr weit von hier«,
erwiderte Vrenchen, »da kennt und beachtet man uns weniger;
draußen am Wasser will ich auf dich warten, und dann können
wir gehen, wohin es uns gefällt, um uns lustig zu machen, einmal,
einmal nur! Aber je, wir haben ja gar kein Geld!«, setzte es traurig
hinzu, »da kann nichts draus werden!« - »Lass nur«,
sagte Sali, »ich will schon etwas mitbringen!« - »Doch nicht
von deinem Vater, von - von dem Gestohlenen?« - »Nein, sei nur
ruhig! Ich habe noch meine silberne Uhr bewahrt bis dahin, die will ich
verkaufen!«
»Ich will dir nicht abraten«, sagte Vrenchen
errötend, »denn ich glaube, ich müsste sterben, wenn
ich nicht morgen mit dir tanzen könnte.« - »Es wäre
das beste, wir beide könnten sterben!«, sagte Sali; sie umarmten
sich wehmütig und schmerzlich zum Abschied, und als sie voneinander
ließen, lachten sie sich doch freundlich an in der sicheren Hoffnung
auf den nächsten Tag. »Aber wann willst du denn kommen?«,
rief Vrenchen noch. »Spätestens elf Uhr mittags«, erwiderte
er, »wir wollen recht ordentlich zusammen Mittag essen!« »Gut,
gut! Komm lieber um halb elf schon!« Doch als Sali schon im Gehen war,
rief sie ihn noch einmal zurück und zeigte ein plötzlich
verändertes verzweiflungsvolles Gesicht. »Es wird doch nichts
daraus«, sagte sie bitterlich weinend, »ich habe keine
Sonntagsschuhe mehr! Schon gestern habe ich diese groben hier anziehen
müssen, um nach der Stadt zu kommen! Ich weiß keine Schuhe
aufzubringen!« Sali stand ratlos und verblüfft. »Keine
Schuhe!«, sagte er, »da musst du halt in diesen kommen!« -
»Nein, nein, in denen kann ich nicht tanzen!« - »Nun,
so müssen wir welche kaufen!« - »Wo, mit was?« -
»Ei, in Seldwyl da gibt es Schuhläden genug! Geld werde ich
in minder als zwei Stunden haben.« - »Aber ich kann doch nicht
mit dir in Seldwyl herumgehen, und dann wird das Geld nicht langen, auch noch
Schuhe zu kaufen!« - »Es muss! Und ich will die Schuhe kaufen
und morgen mitbringen!« - »O du Närrchen, sie werden ja nicht
passen, die du kaufst!« - »So gib mir einen alten Schuh mit, oder
halt, noch besser, ich will dir das Maß nehmen, das wird doch kein
Hexenwerk sein!« - »Das Maßnehmen? Wahrhaftig, daran hab ich
nicht gedacht! Komm, komm, ich will dir ein Schnürchen suchen!«
Sie setzte sich wieder auf den Herd, zog den Rock etwas zurück und
streifte den Schuh vom Fuße, der noch von der gestrigen Reise her mit
einem weißen Strumpfe bekleidet war.
Sali kniete nieder und nahm, so
gut er es verstand, das Maß, indem er den zierlichen Fuß der Länge
und Breite nach umspannte mit dem Schnürchen und sorgfältig Knoten in
dasselbe knüpfte. »Du Schuhmacher!«, sagte Vrenchen und lachte
errötend und freundschaftlich zu ihm nieder. Sali wurde aber auch rot und
hielt den Fuß fest in seinen Händen, länger als nötig war,
sodass Vrenchen ihn, noch tiefer errötend, zurückzog, den
verwirrten Sali aber noch einmal stürmisch umhalste und küsste,
dann aber fortschickte.
[Sechster Teil: Die gottverlassene Hochzeit]

Sobald er in der Stadt war, trug er seine Uhr zu einem Uhrmacher, der ihm sechs
oder sieben Gulden dafür gab; für die silberne Kette bekam er auch
einige Gulden, und er dünkte sich nun reich genug, denn er hatte, seit er
groß war, nie so viel Geld besessen auf einmal. Wenn nur erst der Tag
vorüber und der Sonntag angebrochen wäre, um das Glück damit
zu erkaufen, das er sich von dem Tage versprach, dachte er; denn wenn das
Übermorgen auch um so dunkler und unbekannter hereinragte, so gewann
die ersehnte Lustbarkeit von morgen nur einen seltsamem erhöhten
Glanz und Schein. Indessen brachte er die Zeit noch leidlich hin, indem
er ein Paar Schuhe für Vrenchen suchte, und dies war ihm das
vergnügteste Geschäft, das er je betrieben. Er ging von einem
Schuhmacher zum andern, ließ sich alle Weiberschuhe zeigen, die vorhanden
waren, und endlich handelte er ein leichtes und feines Paar ein, so hübsch,
wie sie Vrenchen noch nie getragen. Er verbarg die Schuhe unter seiner Weste
und tat sie die übrige Zeit des Tages nicht mehr von sich; er nahm sie
sogar mit ins Bett und legte sie unter das Kopfkissen. Da er das Mädchen
heute früh noch gesehen und morgen wieder sehen sollte, so schlief er fest
und ruhig, war aber in aller Frühe munter und begann seinen dürftigen
Sonntagsstaat zurechtzumachen und auszuputzen, so gut es gelingen wollte. Es fiel
seiner Mutter auf und sie fragte verwundert, was er vorhabe, da er sich schon lange
nicht mehr so sorglich angezogen. Er wolle einmal über Land gehen und sich
ein wenig umtun, erwiderte er, er werde sonst krank in diesem Hause. »Das
ist mir die Zeit her ein merkwürdiges Leben«, murrte der Vater,
»und ein Herumschleichen!« - »Lass ihn nur gehen«,
sagte aber die Mutter, »es tut ihm vielleicht gut, es ist ja ein Elend,
wie er aussieht!« - »Hast du Geld zum Spazierengehen? Woher hast du
es?«, sagte der Alte. »Ich brauche keines!«, sagte Sali. »Da
hast du einen Gulden!«, versetzte der Alte und warf ihm denselben hin,
»du kannst im Dorf ins Wirtshaus gehen und ihn dort verzehren, damit sie
nicht glauben, wir seien hier so übel dran.« - »Ich will nicht
ins Dorf und brauche den Gulden nicht, behaltet ihn nur!« - »So hast
du ihn gehabt, es wäre schad, wenn du ihn haben müsstest, du
Starrkopf!«, rief Manz und schob seinen Gulden wieder in die Tasche.
Seine Frau aber, welche nicht wusste, warum sie heute ihres Sohnes wegen
so wehmütig und gerührt war, brachte ihm ein großes schwarzes
Mailänder Halstuch mit rotem Rande, das sie nur selten getragen und er
schon früher gern gehabt hätte. Er schlang es um den Hals und
ließ die langen Zipfel fliegen; auch stellte er zum ersten Mal den
Hemdkragen, den er sonst immer umgeschlagen, ehrbar und männlich in
die Höhe bis über die Ohren hinauf, in einer Anwandlung
ländlichen Stolzes, und machte sich dann, seine Schuhe in der Brusttasche
des Rockes, schon nach sieben Uhr auf den Weg. Als er die Stube verließ,
drängte ihn ein seltsames Gefühl, Vater und Mutter die Hand zu geben,
und auf der Straße sah er sich noch einmal nach dem Hause um. »Ich
glaube am Ende«, sagte Manz, »der Bursche streicht irgendeinem Weibsbild
nach; das hätten wir gerade noch nötig!« Die Frau sagte:
»O wollte Gott, dass er vielleicht ein Glück machte! Das täte
dem armen Buben gut!« - »Richtig!«, sagte der Mann, »das fehlt
nicht! Das wird ein himmlisches Glück geben, wenn er nur erst an eine solche
Maultasche zu geraten das Unglück hat! Das täte dem armen Bübchen
gut! Natürlich!«

Sali richtete seinen Schritt erst nach dem Flusse zu, wo er Vrenchen erwarten wollte;
aber unterweges ward er andern Sinnes und ging gradezu ins Dorf, um Vrenchen im Hause
selbst abzuholen, weil es ihm zu lang währte bis halb elf. Was kümmern uns
die Leute!, dachte er. Niemand hilft uns und ich bin ehrlich und fürchte niemand!
So trat er unerwartet in Vrenchens Stube, und ebenso unerwartet fand er es schon
vollkommen angekleidet und geschmückt dasitzen und der Zeit harren, wo es
gehen könne, nur die Schuhe fehlten ihm noch. Aber Sali stand mit offenem
Munde still in der Mitte der Stube, als er das Mädchen erblickte, so schön
sah es aus. Es hatte nur ein einfaches Kleid an von blaugefärbter Leinwand, aber
dasselbe war frisch und sauber und saß ihm sehr gut um den schlanken Leib.
Darüber trug es ein schneeweißes Musselinhalstuch, und dies war der ganze
Anzug. Das braune gekräuselte Haar war sehr wohlgeordnet, und die sonst so
wilden Löckchen lagen nun fein und lieblich um den Kopf, da Vrenchen seit
vielen Wochen fast nicht aus dem Hause gekommen, so war seine Farbe zarter und
durchsichtiger geworden, so wie auch vom Kummer; aber in diese Durchsichtigkeit
goss jetzt die Liebe und die Freude ein Rot um das andere, und an der Brust
trug es einen schönen Blumenstrauß von Rosmarin, Rosen und prächtigen
Astern. Es saß am offenen Fenster und atmete still und hold die frisch durchsonnte
Morgenluft; wie es aber Sali erscheinen sah, streckte es ihm beide hübsche Arme
entgegen, welche vom Ellbogen an bloß waren, und rief. »Wie recht hast du,
dass du schon jetzt und hierher kommst! Aber hast du mir Schuhe gebracht?
Gewiss? Nun steh ich nicht auf, bis ich sie anhabe!« Er zog die ersehnten
aus der Tasche und gab sie dem begierigen schönen Mädchen; es schleuderte
die alten von sich, schlüpfte in die neuen und sie passten sehr gut. Erst
jetzt erhob es sich vom Stuhl, wiegte sich in den neuen Schuhen und ging eifrig
einige Mal auf und nieder. Es zog das lange blaue Kleid etwas zurück und
beschaute wohlgefällig die roten wollenen Schleifen, welche die Schuhe zierten,
während Sali unaufhörlich die feine reizende Gestalt betrachtete, welche
da in lieblicher Aufregung vor ihm sich regte und freute. »Du beschaust
meinen Strauß?«, sagte Vrenchen, »hab ich nicht einen schönen
zusammengebracht? Du musst wissen, dies sind die letzten Blumen, die ich noch
aufgefunden in dieser Wüstenei. Hier war noch ein Röschen, dort eine Aster,
und wie sie nun gebunden sind, würde man es ihnen nicht ansehen, dass sie
aus einem Untergange zusammengesucht sind! Nun ist es aber Zeit, dass ich fortkomme,
nicht ein Blümchen mehr im Garten und das Haus auch leer!« Sali sah sich um
und bemerkte erst jetzt, dass alle Fahrhabe, die noch dagewesen, weggebracht war.
»Du armes Vreeli!«, sagte er, »haben sie dir schon alles genommen?« -
»Gestern«, erwiderte es, »haben sie's weggeholt, was sich von der Stelle
bewegen ließ, und mir kaum mehr mein Bett gelassen. Ich hab's aber auch gleich
verkauft und hab jetzt auch Geld, sieh!« Es holte einige neu glänzende
Talerstücke aus der Tasche seines Kleides und zeigte sie ihm. »Damit«,
fuhr es fort, »sagte der Waisenvogt, der auch hier war, solle ich mir einen Dienst
suchen in einer Stadt, und ich solle mich heute gleich auf den Weg machen!« -
»Da ist aber auch gar nichts mehr vorhanden«, sagte Sali, nachdem er in die
Küche geguckt hatte, »ich sehe kein Hölzchen, kein Pfännchen, kein
Messer! Hast du denn auch nicht zu Morgen gegessen?« »Nichts!«, sagte
Vrenchen, »ich hätte mir etwas holen können, aber ich dachte, ich
wolle lieber hungrig bleiben, damit ich recht viel essen könne mit dir zusammen,
denn ich freue mich so sehr darauf, du glaubst nicht, wie ich mich freue!« -
»Wenn ich dich nur anrühren dürfte«, sagte Sali, »so wollte
ich dir zeigen, wie es mir ist, du schönes, schönes Ding!« -
»Du hast recht, du würdest meinen ganzen Staat verderben, und wenn wir
die Blumen ein bisschen schonen, so kommt es zugleich meinem armen Kopf zugut,
den du mir übel zuzurichten pflegst!« - »So komm, jetzt wollen wir
ausrücken!« - »Noch müssen wir warten, bis das Bett abgeholt
wird; denn nachher schließe ich das leere Haus zu und gehe nicht mehr hierher
zurück! Mein Bündelchen gebe ich der Frau aufzuheben, die das Bett gekauft
hat.« Sie setzten sich daher einander gegenüber und warteten; die Bäuerin
kam bald, eine vierschrötige Frau mit lautem Mundwerk, und hatte einen Burschen
bei sich, welcher die Bettstelle tragen sollte. Als diese Frau Vrenchens Liebhaber
erblickte und das geputzte Mädchen selbst, sperrte sie Maul und Augen auf,
stemmte die Arme unter und schrie: »Ei sieh da, Vreeli! Du treibst es ja schon
gut! Hast einen Besucher und bist gerüstet wie eine Prinzess?«
»Gelt aber!«, sagte Vrenchen freundlich lachend, »wisst Ihr
auch, wer das ist?« - »Ei, ich denke, das ist wohl der Sali Manz? Berg
und Tal kommen nicht zusammen, sagt man, aber die Leute! Aber nimm dich doch in
acht, Kind, und denk, wie es euren Eltern ergangen ist!« - »Ei, das hat
sich jetzt gewendet und alles ist gut geworden«, erwiderte Vrenchen lächelnd
und freundlich mitteilsam, ja beinahe herablassend, »seht, Sali ist mein
Hochzeiter!« - »Dein Hochzeiter! was du sagst!« -
»Ja, und er ist ein reicher Herr, er hat hunderttausend Gulden in der Lotterie gewonnen!
Denket einmal, Frau!« Diese tat einen Sprung, schlug ganz erschrocken die Hände
zusammen und schrie: »Hund - hunderttausend Gulden!« - »Hunderttausend
Gulden!«, versicherte Vrenchen ernsthaft. - »Herr du meines Lebens! Es ist
aber nicht wahr, du lügst mich an, Kind!« - »Nun, glaubt was Ihr
wollt!« - »Aber wenn es wahr ist und du heiratest ihn, was wollt ihr
denn machen mit dem Gelde? Willst du wirklich eine vornehme Frau werden?« -
»Versteht sich, in drei Wochen halten wir die Hochzeit!« - »Geh mir
weg, du bist eine hässliche Lügnerin!« - »Das schönste
Haus hat er schon gekauft in Seldwyl mit einem großen Garten und Weinberg;
Ihr müsst mich auch besuchen, wenn wir eingerichtet sind, ich zähle
darauf!« »Allweg, du Teufelshexlein, was du bist!« - »Ihr werdet
sehen, wie schön es da ist! Einen herrlichen Kaffee werde ich machen und Euch
mit feinem Eierbrot aufwarten, mit Butter und Honig!« - »O du Schelmenkind!
zähl drauf, dass ich komme!«, rief die Frau mit lüsternem Gesicht
und der Mund wässerte ihr. »Kommt Ihr aber um die Mittagszeit und seid
ermüdet vom Markt, so soll Euch eine kräftige Fleischbrühe und ein
Glas Wein immer parat stehen!« - »Das wird mir bass tun!« -
»Und an etwas Zuckerwerk oder weißen Wecken für die lieben Kinder
zu Hause soll es Euch auch nicht fehlen!« »Es wird mir ganz schmachtend!« -
»Ein artiges Halstüchelchen oder ein Restchen Seidenzeug oder ein hübsches
altes Band für Eure Röcke oder ein Stück Zeug zu einer neuen Schürze
wird gewiss auch zu finden sein, wenn wir meine Kisten und Kasten durchmustern in
einer vertrauten Stunde!« Die Frau drehte sich auf den Hacken herum und schüttelte
jauchzend ihre Röcke. »Und wenn Euer Mann ein vorteilhaftes Geschäft machen
könnte mit einem Land- oder Viehhandel und er mangelt des Geldes, so wisst Ihr,
wo Ihr anklopfen sollt. Mein lieber Sali wird froh sein, jederzeit ein Stück Bares
sicher und erfreulich anzulegen! Ich selbst werde auch etwa einen Sparpfennig haben,
einer vertrauten Freundin beizustehen!« Jetzt war der Frau nicht mehr zu helfen,
sie sagte gerührt: »Ich habe immer gesagt, du seist ein braves und gutes
und schönes Kind! Der Herr wolle es dir wohlergehen lassen immer und ewiglich
und es dir gesegnen, was du an mir tust!« - »Dagegen verlange ich aber
auch, dass Ihr es gut mit mir meint!« - »Allweg kannst du das
verlangen!« - »Und dass Ihr jederzeit Eure Waren, sei es Obst,
seien es Kartoffeln, sei es Gemüse, erst zu mir bringet und mir anbietet,
ehe Ihr auf den Markt gehet, damit ich sicher sei, eine rechte Bäuerin an
der Hand zu haben, auf die ich mich verlassen kann! Was irgendeiner gibt für
die Ware, werde ich gewiss auch geben mit tausend Freuden, Ihr kennt mich ja!
Ach, es ist nichts Schöneres, als wenn eine wohlhabende Stadtfrau, die so ratlos
in ihren Mauern sitzt und doch so vieler Dinge benötigt ist, und eine rechtschaffene
ehrliche Landfrau, erfahren in allem Wichtigen und Nützlichen, eine gute und dauerhafte
Freundschaft zusammen haben! Es kommt einem zugut in hundert Fällen, in Freud und
Leid, bei Gevatterschaften und Hochzeiten, wenn die Kinder unterrichtet werden und
konfirmiert, wenn sie in die Lehre kommen und wenn sie in die Fremde sollen! Bei
Misswachs und Überschwemmungen, bei Feuersbrünsten und Hagelschlag,
wofür uns Gott behüte!« - »Wofür uns Gott behüte!«,
sagte die gute Frau schuchzend und trocknete mit ihrer Schürze die Augen;
»welch ein verständiges und tiefsinniges Bräutlein bist du, ja,
dir wird es gut gehen, da müsste keine Gerechtigkeit in der Welt sein!
Schön, sauber, klug und weise bist du, arbeitsam und geschickt zu allen Dingen!
Keine ist feiner und besser als du, in und außer dem Dorfe, und wer dich hat,
der muss meinen, er sei im Himmelreich, oder er ist ein Schelm und hat es mit
mir zu tun. Hör, Sali! dass du nur recht artlich bist mit meinem
Vreeli, oder ich will dir den Meister zeigen, du Glückskind, das du bist,
ein solches Röslein zu brechen!« - »So nehmt jetzt auch hier noch
mein Bündel mit, wie Ihr mir versprochen habt, bis ich es abholen lassen werde!
Vielleicht komme ich aber selbst in der Kutsche und hole es ab, wenn Ihr nichts
dagegen habt! Ein Töpfchen Milch werdet Ihr mir nicht abschlagen alsdann,
und etwa eine schöne Mandeltorte dazu werde ich schon selbst mitbringen!« -
»Tausendskind! Gib her den Bündel!« Vrenchen lud ihr auf das
zusammengebundene Bett, das sie schon auf dem Kopfe trug, einen langen Sack,
in welchen es sein Plunder und Habseliges gestopft, sodass die arme Frau
mit einem schwankenden Turme auf dem Haupte dastand. »Es wird mir doch fast
zu schwer auf einmal«, sagte sie, »könnte ich nicht zweimal dran machen?«
»Nein nein! wir müssen jetzt augenblicklich gehen, denn wir haben einen weiten
Weg, um vornehme Verwandte zu besuchen, die sich jetzt gezeigt haben, seit wir reich sind!
Ihr wisst ja, wie es geht!« - »Weiß wohl! so behüt dich Gott und
denk an mich in deiner Herrlichkeit!«

Die Bäuerin zog ab mit ihrem Bündelturme, mit Mühe das Gleichgewicht
behauptend, und hinter ihr drein ging ihr Knechtchen, das sich in Vrenchens einst
bunt bemalte Bettstatt hineinstellte, den Kopf gegen den mit verblichenen Sternen
bedeckten Himmel derselben stemmte und, ein zweiter Simson, die zwei vorderen
zierlich geschnitzten Säulen fasste, welche diesen Himmel trugen. Als
Vrenchen, an Sali gelehnt, dem Zuge nachschaute und den wandelnden Tempel zwischen
den Gärten sah, sagte es: »Das gäbe noch ein artiges Gartenhäuschen
oder eine Laube, wenn man's in einen Garten pflanzte, ein Tischchen und ein Bänklein
drein stellte und Winden drum herumsäete! Wolltest du mit darin sitzen,
Sali?« - »Ja, Vreeli! besonders wenn die Winden aufgewachsen wären!«
»Was stehen wir noch?«, sagte Vrenchen, »nichts hält uns mehr
zurück!« »So komm und schließ das Haus zu! Wem willst du denn
den Schlüssel übergeben?« Vrenchen sah sich um. »Hier an die
Helbart wollen wir ihn hängen; sie ist über hundert Jahr in diesem Hause
gewesen, habe ich den Vater oft sagen hören, nun steht sie da als der letzte
Wächter!« Sie hingen den rostigen Hausschlüssel an einen rostigen
Schnörkel der alten Waffe, an welcher die Bohnen rankten, und gingen davon.
Vrenchen wurde aber bleicher und verhüllte ein Weilchen die Augen, dass
Sali es führen musste, bis sie ein Dutzend Schritte entfernt waren. Es
sah aber nicht zurück. »Wo gehen wir nun zuerst hin?«, fragte es.
»Wir wollen ordentlich über Land gehen«, erwiderte Sali, »wo
es uns freut den ganzen Tag, uns nicht übereilen, und gegen Abend werden wir
dann schon einen Tanzplatz finden!« - »Gut!«, sagte Vrenchen,
»den ganzen Tag werden wir beisammen sein und gehen, wo wir Lust haben.
Jetzt ist mir aber elend, wir wollen gleich im andern Dorf einen Kaffee trinken!« -
»Versteht sich!«, sagte Sali, »mach nur, dass wir aus diesem Dorf
wegkommen!«

Bald waren sie auch im freien Felde und gingen still nebeneinander durch die
Fluren; es war ein schöner Sonntagmorgen im September, keine Wolke stand am
Himmel, die Höhen und die Wälder waren mit einem zarten Duftgewebe
bekleidet, welches die Gegend geheimnisvoller und feierlicher machte, und von
allen Seiten tönten die Kirchenglocken herüber, hier das harmonische
tiefe Geläute einer reichen Ortschaft, dort die geschwätzigen zwei
Bimmelglöcklein eines kleinen armen Dörfchens. Das liebende Paar
vergaß, was am Ende dieses Tages werden sollte, und es gab sich einzig
der hoch aufatmenden wortlosen Freude hin, sauber gekleidet und frei, wie
zwei Glückliche, die sich von Rechts wegen angehörten, in den Sonntag
hineinzuwandeln. Jeder in der Sonntagsstille verhallende Ton oder ferne Ruf
klang ihnen erschütternd durch die Seele; denn die Liebe ist eine Glocke,
welche das Entlegenste und Gleichgültigste widertönen lässt
und in eine besondere Musik verwandelt. Obgleich sie hungrig waren, dünkte
sie die halbe Stunde Weges bis zum nächsten Dorf nur ein Katzensprung lang
zu sein, und sie betraten zögernd das Wirtshaus am Eingang des Ortes. Sali
bestellte ein gutes Frühstück, und während es bereitet wurde,
sahen sie mäuschenstill der sicheren und freundlichen Wirtschaft in der
großen reinlichen Gaststube zu. Der Wirt war zugleich ein Bäcker,
das eben Gebackene durchduftete angenehm das ganze Haus, und Brot aller Art
wurde in gehäuften Körben herbeigetragen, da nach der Kirche die
Leute hier ihr Weißbrot holten oder ihren Frühschoppen tranken.
Die Wirtin, eine artige und saubere Frau, putzte gelassen und freundlich ihre
Kinder heraus, und sowie eines entlassen war, kam es zutraulich zu Vrenchen
gelaufen, zeigte ihm seine Herrlichkeiten und erzählte von allem, dessen
es sich erfreute und rühmte. Wie nun der wohlduftende starke Kaffee kam,
setzten sich die zwei Leutchen schüchtern an den Tisch, als ob sie da zu
Gast gebeten wären. Sie ermunterten sich jedoch bald und flüsterten
bescheiden, aber glückselig miteinander; ach, wie schmeckte dem
aufblühenden Vrenchen der gute Kaffee, der fette Rahm, die frischen,
noch warmen Brötchen, die schöne Butter und der Honig, der Eierkuchen
und was alles noch für Leckerbissen da waren! Sie schmeckten ihm, weil es
den Sali dazu ansah, und es aß so vergnügt, als ob es ein Jahr lang
gefastet hätte. Dazu freute es sich über das feine Geschirr,
über die silbernen Kaffeelöffelchen; denn die Wirtin schien sie
für rechtliche junge Leutchen zu halten, die man anständig bedienen
müsse, und setzte sich auch ab und zu plaudernd zu ihnen, und die beiden
gaben ihr verständigen Bescheid, welches ihr gefiel. Es ward dem guten
Vrenchen so wählig zumut, dass es nicht wusste, mochte es lieber
wieder ins Freie, um allein mit seinem Schatz herumzuschweifen, durch Auen
und Wälder, oder mochte es lieber in der gastlichen Stube bleiben, um
wenigstens auf Stunden sich an einem stattlichen Orte zu Hause zu träumen.
Doch Sali erleichterte die Wahl, indem er ehrbar und geschäftig zum Aufbruch
mahnte, als ob sie einen bestimmten und wichtigen Weg zu machen hätten. Die
Wirtin und der Wirt begleiteten sie bis vor das Haus und entließen sie auf
das Wohlwollendste wegen ihres guten Benehmens, trotz der durchscheinenden
Dürftigkeit, und das arme junge Blut verabschiedete sich mit den besten
Manieren von der Welt und wandelte sittig und ehrbar von hinnen. Aber auch
als sie schon wieder im Freien waren und einen stundenlangen Eichwald betraten,
gingen sie noch in dieser Weise nebeneinander her, in angenehme Träume
vertieft, als ob sie nicht aus zank- und elenderfüllten Häusern
herkämen, sondern guter Leute Kind wären, welche in lieblicher
Hoffnung wandelten. Vrenchen senkte das Köpfchen tiefsinnig gegen seine
blumengeschmückte Brust und ging, die Hände sorglich an das Gewand
gelegt, einher auf dem glatten feuchten Waldboden; Sali dagegen schritt
schlank aufgerichtet, rasch und nachdenklich, die Augen auf die festen
Eichenstämme geheftet, wie ein Bauer, der überlegt, welche
Bäume er am vorteilhaftesten fällen soll. Endlich erwachten sie
aus diesen vergeblichen Träumen, sahen sich an und entdeckten, dass
sie immer noch in der Haltung gingen, in welcher sie das Gasthaus verlassen,
erröteten und ließen traurig die Köpfe hängen.
Aber Jugend
hat keine Tugend; der Wald war grün, der Himmel blau und sie allein in der
weiten Welt, und sie überließen sich alsbald wieder diesem Gefühle.
Doch blieben sie nicht lange mehr allein, da die schöne Waldstraße sich
belebte mit lustwandelnden Gruppen von jungen Leuten sowie mit einzelnen Paaren,
welche schäkernd und singend die Zeit nach der Kirche verbrachten. Denn die
Landleute haben so gut ihre ausgesuchten Promenaden und Lustwälder wie die
Städter, nur mit dem Unterschied, dass dieselben keine Unterhaltung
kosten und noch schöner sind; sie spazieren nicht nur mit einem besondern
Sinn des Sonntags durch ihre blühenden und reifenden Felder, sondern sie
machen sehr gewählte Gänge durch Gehölze und an grünen Halden
entlang, setzen sich hier auf eine anmutige fernsichtige Höhe, dort an einen
Waldrand, lassen ihre Lieder ertönen und die schöne Wildnis ganz behaglich
auf sich einwirken; und da sie dies offenbar nicht zu ihrer Pönitenz tun,
sondern zu ihrem Vergnügen, so ist wohl anzunehmen, dass sie Sinn für
die Natur haben, auch abgesehen von ihrer Nützlichkeit. Immer brechen sie was
Grünes ab, junge Bursche wie alte Mütterchen, welche die alten Wege ihrer
Jugend aufsuchen, und selbst steife Landmänner in den besten Geschäftsjahren,
wenn sie über Land gehen, schneiden sich gern eine schlanke Gerte, sobald sie
durch einen Wald gehen, und schälen die Blätter ab, von denen sie nur oben
ein grünes Büschel stehen lassen. Solche Rute tragen sie wie ein Zepter vor
sich hin; wenn sie in eine Amtsstube oder Kanzlei treten, so stellen sie die Gerte
ehrerbietig in einen Winkel, vergessen aber auch nach den ernstesten Verhandlungen
nie, dieselbe säuberlich wieder mitzunehmen und unversehrt nach Hause zu tragen,
wo es erst dem kleinsten Söhnchen gestattet ist, sie zugrunde zu richten. -
Als Sali und Vrenchen die vielen Spaziergänger sahen, lachten sie ins
Fäustchen und freuten sich, auch gepaart zu sein, schlüpften aber
seitwärts auf engere Waldpfade, wo sie sich in tiefen Einsamkeiten verloren.
Sie hielten sich auf, wo es sie freute, eilten vorwärts und ruhten wieder,
und wie keine Wolke am reinen Himmel stand, trübte auch keine Sorge in diesen
Stunden ihr Gemüt; sie vergaßen, woher sie kamen und wohin sie gingen,
und benahmen sich so fein und ordentlich dabei, dass trotz aller frohen Erregung
und Bewegung Vrenchens niedlicher einfacher Aufputz so frisch und unversehrt blieb,
wie er am Morgen gewesen war. Sali betrug sich auf diesem Wege nicht wie ein beinahe
zwanzigjähriger Landbursche oder der Sohn eines verkommenen Schenkwirtes,
sondern wie wenn er einige Jahre jünger und sehr wohlerzogen wäre,
und es war beinahe komisch, wie er nur immer sein feines lustiges Vrenchen ansah,
voll Zärtlichkeit, Sorgfalt und Achtung. Denn die armen Leutchen mussten
an diesem einen Tage, der ihnen vergönnt war, alle Manieren und Stimmungen
der Liebe durchleben und sowohl die verlorenen Tage der zarteren Zeit nachholen
als das leidenschaftliche Ende vorausnehmen mit der Hingabe ihres Lebens.

So liefen sie sich wieder hungrig und waren erfreut, von der Höhe eines
schattenreichen Berges ein glänzendes Dorf vor sich zu sehen, wo sie
Mittag halten wollten. Sie stiegen rasch hinunter, betraten dann aber ebenso
sittsam diesen Ort, wie sie den vorigen verlassen. Es war niemand um den Weg,
der sie erkannt hätte; denn besonders Vrenchen war die letzten Jahre
hindurch gar nicht unter die Leute und noch weniger in andere Dörfer
gekommen. Deshalb stellten sie ein wohlgefälliges ehrsames Pärchen
vor, das irgendeinen angelegentlichen Gang tut. Sie gingen ins erste Wirtshaus
des Dorfes, wo Sali ein erkleckliches Mahl bestellte; ein eigener Tisch wurde
ihnen sonntäglich gedeckt, und sie saßen wieder still und bescheiden
daran und beguckten die schön getäfelten Wände von gebohntem
Nussbaumholz, das ländliche, aber glänzende und wohlbestellte
Büffet von gleichem Holze und die klaren weißen Fenstervorhänge.
Die Wirtin trat zutulich herzu und setzte ein Geschirr voll frischer Blumen auf
den Tisch. »Bis die Suppe kommt«, sagte sie, »könnt ihr,
wenn es euch gefällig ist, einstweilen die Augen sättigen an dem
Strauße. Allem Anschein nach, wenn es erlaubt ist zu fragen, seid ihr ein
junges Brautpaar, das gewiss nach der Stadt geht, um sich morgen kopulieren
zu lassen?« Vrenchen wurde rot und wagte nicht aufzusehen, Sali sagte auch
nichts, und die Wirtin fuhr fort: »Nun, ihr seid freilich beide noch wohl
jung, aber jung geheiratet lebt lang, sagt man zuweilen, und ihr seht wenigstens
hübsch und brav aus und braucht euch nicht zu verbergen. Ordentliche Leute
können etwas zuwege bringen, wenn sie so jung zusammenkommen und fleißig
und treu sind. Aber das muss man freilich sein, denn die Zeit ist kurz und
doch lang und es kommen viele Tage, viele Tage! Je nun, schön genug sind
sie und amüsant dazu, wenn man gut haushält damit! Nichts für
ungut, aber es freut mich, euch anzusehen, so ein schmuckes Pärchen seid
ihr!« Die Kellnerin brachte die Suppe, und da sie einen Teil dieser Worte
noch gehört und lieber selbst geheiratet hätte, so sah sie Vrenchen
mit scheelen Augen an, welches nach ihrer Meinung so gedeihliche Wege ging.
In der Nebenstube ließ die unliebliche Person ihren Unmut frei und sagte
zur Wirtin, welche dort zu schaffen hatte, so laut, dass man es hören
konnte: »Das ist wieder ein rechtes Hudelvölkchen, das, wie es geht
und steht, nach der Stadt läuft und sich kopulieren lässt, ohne
einen Pfennig, ohne Freunde, ohne Aussteuer und ohne Aussicht als auf Armut
und Bettelei! Wo soll das noch hinaus, wenn solche Dinger heiraten, die die
Jüppe noch nicht allein anziehen und keine Suppe kochen können?
Ach der hübsche junge Mensch kann mich nur dauern, der ist schön
petschiert mit seiner jungen Gungeline!« - »Bscht! willst du wohl
schweigen, du hässiges Ding!«, sagte die Wirtin, »denen lasse
ich nichts geschehen! Das sind gewiss zwei recht ordentliche Leutlein aus
den Bergen, wo die Fabriken sind; dürftig sind sie gekleidet, aber sauber,
und wenn sie sich nur gern haben und arbeitsam sind, so werden sie weiter kommen
als du mit deinem bösen Maul! Du kannst freilich noch lang warten, bis dich
einer abholt, wenn du nicht freundlicher bist, du Essighafen!«

So genoss Vrenchen alle Wonnen einer Braut, die zur Hochzeit reiset: die
wohlwollende Ansprache und Aufmunterung einer sehr vernünftigen Frau,
den Neid einer heiratslustigen bösen Person, welche aus Ärger den
Geliebten lobte und bedauerte, und ein leckeres Mittagsmahl an der Seite eben
dieses Geliebten! Es glühte im Gesicht wie eine rote Nelke, das Herz klopfte
ihm, aber es aß und trank nichtsdestominder mit gutem Appetit und war mit der
aufwartenden Kellnerin nur um so artiger, konnte aber nicht unterlassen, dabei den
Sali zärtlich anzusehen und mit ihm zu lispeln, sodass es diesem auch
ganz kraus im Gemüt wurde. Sie saßen indessen lang und gemächlich
am Tische, wie wenn sie zögerten und sich scheuten, aus der holden Täuschung
herauszugehen. Die Wirtin brachte zum Nachtisch süßes Backwerk, und Sali
bestellte feinern und stärkern Wein dazu, welcher Vrenchen feurig durch die
Adern rollte, als es ein wenig davon trank; aber es nahm sich in acht, nippte
bloß zuweilen und saß so züchtig und verschämt da wie eine
wirkliche Braut. Halb spielte es aus Schalkheit diese Rolle und aus Lust, zu
versuchen, wie es tue, halb war es ihm in der Tat so zumut und vor Bangigkeit
und heißer Liebe wollte ihm das Herz brechen, sodass es ihm zu eng
ward innerhalb der vier Wände und es zu gehen begehrte. Es war, als ob
sie sich scheuten, auf dem Wege wieder so abseits und allein zu sein; denn sie
gingen unverabredet auf der Hauptstraße weiter, mitten durch die Leute,
und sahen weder rechts noch links. Als sie aber aus dem Dorfe waren und auf
das nächst gelegene zugingen, wo Kirchweih war, hing sich Vrenchen an Salis
Arm und flüsterte mit zitternden Worten: »Sali! warum sollen wir uns
nicht haben und glücklich sein?« - »Ich weiß auch nicht
warum!«, erwiderte er und heftete seine Augen an den milden Herbstsonnenschein,
der auf den Auen webte, und er musste sich bezwingen und das Gesicht ganz
sonderbar verziehen. Sie standen still, um sich zu küssen; aber es zeigten
sich Leute, und sie unterließen es und zogen weiter. Das große Kirchdorf,
in dem Kirchweih war, belebte sich schon von der Lust des Volkes; aus dem
stattlichen Gasthofe tönte eine pomphafte Tanzmusik, da die jungen Dörfler
bereits um Mittag den Tanz angehoben, und auf dem Platz vor dem Wirtshause war ein
kleiner Markt aufgeschlagen, bestehend aus einigen Tischen mit Süßigkeiten
und Backwerk und ein paar Buden mit Flitterstaat, um welche sich die Kinder und
dasjenige Volk drängten, welches sich einstweilen mehr mit Zusehen begnügte.
Sali und Vrenchen traten auch zu den Herrlichkeiten und ließen ihre Augen
darüber fliegen; denn beide hatten zugleich die Hand in der Tasche und
jedes wünschte dem andern etwas zu schenken, da sie zum ersten und einzigen
Male miteinander zu Markt waren; Sali kaufte ein großes Haus von Lebkuchen,
das mit Zuckerguss freundlich geweißt war, mit einem grünen Dach,
auf welchem weiße Tauben saßen und aus dessen Schornstein ein Amörchen
guckte als Kaminfeger; an den offenen Fenstern umarmten sich pausbäckige
Leutchen mit winzig kleinen roten Mündchen, die sich recht eigentlich
küssten, da der flüchtige praktische Maler mit einem Kleckschen
gleich zwei Mündchen gemacht, die so ineinander verflossen. Schwarze
Pünktchen stellten muntere Äuglein vor. Auf der rosenroten Haustür
aber waren diese Verse zu lesen:
Tritt in mein Haus, o Liebste!
Doch sei dir unverhehlt:
Drin wird allein nach Küssen
Gerechnet und gezählt.
Die Liebste sprach: »O Liebster,
Mich schrecket nichts zurück!
Hab alles wohl erwogen:
In dir nur lebt mein Glück!
Und wenn ich's recht bedenke,
Kam ich deswegen auch!«
Nun denn, spazier mit Segen
Herein und üb den Brauch!
|

Ein Herr in einem blauen Frack und eine Dame mit einem sehr hohen Busen komplimentierten
sich diesen Versen gemäß in das Haus hinein, links und rechts an
die Mauer gemalt. Vrenchen schenkte Sali dagegen ein Herz, auf dessen einer
Seite ein Zettelchen klebte mit den Worten:
Ein süßer Mandelkern steckt in dem Herze hier,
Doch süßer als der Mandelkern ist meine Lieb zu dir!
|

Und auf der anderen Seite:
Wenn du dies Herz gegessen, vergiss dies Sprüchlein nicht:
Viel eh'r als meine Liebe mein braunes Auge bricht!
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Sie lasen eifrig die Sprüche, und nie ist etwas Gereimtes und Gedrucktes
schöner befunden und tiefer empfunden worden als diese
Pfefferkuchensprüche; sie hielten, was sie lasen, in besonderer
Absicht auf sich gemacht, so gut schien es ihnen zu passen. »Ach«,
seufzte Vrenchen, »du schenkst mir ein Haus! Ich habe dir auch eines
und erst das wahre geschenkt; denn unser Herz ist jetzt unser Haus, darin
wir wohnen, und wir tragen so unsere Wohnung mit uns, wie die Schnecken!
Andere haben wir nicht!« »Dann sind wir aber zwei Schnecken,
von denen jede das Häuschen der andern trägt!«, sagte Sali,
und Vrenchen erwiderte: »Desto weniger dürfen wir voneinander
gehen, damit jedes seiner Wohnung nah bleibt!« Doch wussten sie
nicht, dass sie in ihren Reden eben solche Witze machten als auf den
vielfach geformten Lebkuchen zu lesen waren, und fuhren fort diese
süße einfache Liebesliteratur zu studieren, die da ausgebreitet
lag und besonders auf vielfach verzierte kleine und große Herzen
geklebt war. Alles dünkte sie schön und einzig zutreffend; als
Vrenchen auf einem vergoldeten Herzen, das wie eine Lyra mit Saiten bespannt
war, las: »Mein Herz ist wie ein Zitherspiel, rührt man es viel,
so tönt es viel!«, ward ihm so musikalisch zumut, dass es
glaubte, sein eigenes Herz klingen zu hören. Ein Napoleonsbild war
da, welches aber auch der Träger eines verliebten Spruches sein
musste, denn es stand darunter geschrieben: »Groß war
der Held Napoleon, sein Schwert von Stahl, sein Herz von Ton; meine
Liebe trägt ein Röslein frei, doch ist ihr Herz wie Stahl
so treu« - Während sie aber beiderseitig in das Lesen
vertieft schienen, nahm jedes die Gelegenheit wahr, einen heimlichen
Einkauf zu machen. Sali kaufte für Vrenchen ein vergoldetes
Ringelchen mit einem grünen Glassteinchen und Vrenchen einen Ring
von schwarzem Gämshorn, auf welchem ein goldenes Vergissmeinnicht
eingelegt war. Wahrscheinlich hatten sie den gleichen Gedanken, sich diese
armen Zeichen bei der Trennung zu geben.

Während sie in diese Dinge sich versenkten, waren sie so vergessen,
dass sie nicht bemerkten, wie nach und nach ein weiter Ring sich um sie
gebildet hatte von Leuten, die sie aufmerksam und neugierig betrachteten.
Denn da viele junge Bursche und Mädchen aus ihrem Dorfe hier waren,
so waren sie erkannt worden, und alles stand jetzt in einiger Entfernung
um sie herum und sah mit Verwunderung auf das wohlgeputzte Paar, welches
in andächtiger Innigkeit die Welt um sich her zu vergessen schien.
»Ei seht!«, hieß es, »das ist ja wahrhaftig das Vrenchen
Marti und der Sali aus der Stadt! Die haben sich ja säuberlich gefunden
und verbunden! Und welche Zärtlichkeit und Freundschaft, seht doch,
seht! Wo die wohl hinaus wollen?« Die Verwunderung dieser Zuschauer
war ganz seltsam gemischt aus Mitleid mit dem Unglück, aus Verachtung
der Verkommenheit und Schlechtigkeit der Eltern und aus Neid gegen das
Glück und die Einigkeit des Paares, welches auf eine ganz
ungewöhnliche und fast vornehme Weise verliebt und aufgeregt war
und in dieser rückhaltlosen Hingebung und Selbstvergessenheit dem
rohen Völkchen ebenso fremd erschien wie in seiner Verlassenheit
und Armut. Als sie daher endlich aufwachten und um sich sahen, erschauten
sie nichts als gaffende Gesichter von allen Seiten; niemand grüßte
sie und sie wussten nicht, sollten sie jemand grüßen, und
diese Verfremdung und Unfreundlichkeit war von beiden Seiten mehr
Verlegenheit als Absicht. Es wurde Vrenchen bang und heiß, es
wurde bleich und rot, Sali nahm es aber bei der Hand und führte
das arme Wesen hinweg, das ihm mit seinem Haus in der Hand willig
folgte, obgleich die Trompeten im Wirtshause lustig schmetterten und
Vrenchen so gern tanzen wollte. »Hier können wir nicht
tanzen!«, sagte Sali, als sie sich etwas entfernt hatten, »wir
würden hier wenig Freude haben, wie es scheint!« »Jedenfalls«,
sagte Vrenchen traurig, »es wird auch am besten sein, wir lassen es
ganz bleiben und ich sehe, wo ich ein Unterkommen finde!«
»Nein«, rief Sali, »du sollst einmal tanzen, ich habe
dir darum Schuhe gebracht! Wir wollen gehen, wo das arme Volk sich
lustig macht, zu dem wir jetzt auch gehören, da werden sie uns
nicht verachten; im Paradiesgärtchen wird jedes Mal auch getanzt,
wenn hier Kirchweih ist, da es in die Kirchgemeinde gehört, und
dorthin wollen wir gehen, dort kannst du zur Not auch übernachten.«
Vrenchen schauerte zusammen bei dem Gedanken, nun zum ersten Mal an einem
unbekannten Ort zu schlafen; doch folgte es willenlos seinem Führer,
der jetzt alles war, was es in der Welt hatte. Das Paradiesgärtlein
war ein schön gelegenes Wirtshaus an einer einsamen Berghalde, das
weit über das Land weg sah, in welchem aber an solchen
Vergnügungstagen nur das ärmere Volk, die Kinder der ganz
kleinen Bauern und Tagelöhner und sogar mancherlei fahrendes Gesinde
verkehrte. Vor hundert Jahren war es als ein kleines Landhaus von einem
reichen Sonderling gebaut worden, nach welchem niemand mehr da wohnen mochte,
und da der Platz sonst zu nichts zu gebrauchen war, so geriet der wunderliche
Landsitz in Verfall und zuletzt in die Hände eines Wirtes, der da sein
Wesen trieb. Der Name und die demselben entsprechende Bauart waren aber dem
Hause geblieben. Es bestand nur aus einem Erdgeschoss, über welchem
ein offener Estrich gebaut war,
dessen Dach an den vier Ecken von Bildern aus
Sandstein getragen wurde, so die vier Erzengel vorstellten und gänzlich
verwittert waren. Auf dem Gesimse des Daches saßen ringsherum kleine
musizierende Engel mit dicken Köpfen und Bäuchen, den Triangel,
die Geige, die Flöte, Zimbel und Tamburin spielend, ebenfalls aus
Sandstein, und die Instrumente waren ursprünglich vergoldet gewesen.
Die Decke inwendig sowie die Brustwehr des Estrichs und das übrige
Gemäuer des Hauses waren mit verwaschenen Freskomalereien bedeckt,
welche lustige Engelscharen sowie singende und tanzende Heilige darstellten.
Aber alles war verwischt und undeutlich wie ein Traum und überdies
reichlich mit Weinreben übersponnen, und blaue reifende Trauben hingen
überall in dem Laube. Um das Haus herum standen verwilderte Kastanienbäume,
und knorrige starke Rosenbüsche, auf eigene Hand fortlebend, wuchsen da
und dort so wild herum wie anderswo die Holunderbäume. Der Estrich diente
zum Tanzsaal; als Sali mit Vrenchen daherkam, sahen sie schon von Weitem die
Paare unter dem offenen Dache sich drehen, und rund um das Haus zechten und
lärmten eine Menge lustiger Gäste. Vrenchen, welches andächtig
und wehmütig sein Liebeshaus trug,
glich einer heiligen Kirchenpatronin auf alten Bildern, welche das Modell
eines Domes oder Klosters auf der Hand hält, so sie gestiftet; aber aus
der frommen Stiftung, die ihm im Sinne lag, konnte nichts werden. Als es aber
die wilde Musik hörte, welche vom Estrich ertönte, vergaß es
sein Leid und verlangte endlich nichts, als mit Sali zu tanzen. Sie drängten
sich durch die Gäste, die vor dem Hause saßen und in der Stube,
verlumpte Leute aus Seldwyla, die eine billige Landpartie machten, armes
Volk von allen Enden, und stiegen die Treppe hinauf, und sogleich drehten
sie sich im Walzer herum, keinen Blick voneinander abwendend. Erst als der
Walzer zu Ende, sahen sie sich um; Vrenchen hatte sein Haus zerdrückt
und zerbrochen und wollte eben betrübt darüber werden, als es
noch mehr erschrak über den schwarzen Geiger, in dessen Nähe sie
standen. Er saß auf einer Bank, die auf einem Tische stand, und sah so
schwarz aus wie gewöhnlich; nur hatte er heute einen grünen
Tannenbusch auf sein Hütchen gesteckt, zu seinen Füßen hatte
er eine Flasche Rotwein und ein Glas stehen, welche er nie umstieß,
obgleich er fortwährend mit den Beinen strampelte, wenn er geigte, und
so eine Art von Eiertanz damit vollbrachte. Neben ihm saß noch ein
schöner, aber trauriger junger Mensch mit einem Waldhorn, und ein
Buckliger stand an einer Bassgeige. Sali erschrak auch, als er den Geiger
erblickte; dieser grüßte sie aber auf das Freundlichste und rief:
»Ich habe doch gewusst, dass ich euch noch einmal aufspielen
werde! So macht euch nur recht lustig, ihr Schätzchen, und tut mir
Bescheid!« Er bot Sali das volle Glas, und Sali trank und tat ihm
Bescheid. Als der Geiger sah, wie erschrocken Vrenchen war, suchte er ihm
freundlich zuzureden und machte einige fast anmutige Scherze, die es zum
Lachen brachten. Es ermunterte sich wieder, und nun waren sie froh, hier
einen Bekannten zu haben und gewissermaßen unter dem besondern Schutze
des Geigers zu stehen. Sie tanzten nun ohne Unterlass, sich und die Welt
vergessend in dem Drehen, Singen und Lärmen, welches in und außer
dem Hause rumorte und vom Berge weit in die Gegend hinausschallte, welche
sich allmählich in den silbernen Duft des Herbstabends hüllte.
Sie tanzten, bis es dunkelte und der größere Teil der lustigen
Gäste sich schwankend und johlend nach allen Seiten entfernte. Was
noch zurückblieb, war das eigentliche Hudelvölkchen, welches
nirgends zu Hause war und sich zum guten Tag auch noch eine gute Nacht
machen wollte. Unter diesen waren einige, welche mit dem Geiger gut bekannt
schienen und fremdartig aussahen in ihrer zusammengewürfelten Tracht.
Besonders ein junger Bursche fiel auf, der eine grüne Manchesterjacke
trug und einen zerknitterten Strohhut, um den er einen Kranz von Ebereschen
oder Vogelbeerbüscheln gebunden hatte. Dieser führte eine wilde
Person mit sich, die einen Rock von kirschrotem weißgetüpfeltem
Kattun trug und sich einen Reifen von Rebenschoßen um den Kopf gebunden,
sodass an jeder Schläfe eine blaue Traube hing. Dies Paar war
das ausgelassenste von allen, tanzte und sang unermüdlich und war
in allen Ecken zugleich. Dann war noch ein schlankes hübsches
Mädchen da, welches ein schwarzseidenes abgeschossenes Kleid trug
und ein weißes Tuch um den Kopf, dass der Zipfel über den
Rücken fiel. Das Tuch zeigte rote, eingewobene Streifen und war eine
gute leinene Handzwehle oder Serviette. Darunter leuchteten aber ein paar
veilchenblaue Augen hervor. Um den Hals und auf der Brust hing eine
sechsfache Kette von Vogelbeeren auf einen Faden gezogen und ersetzte die
schönste Korallenschnur. Diese Gestalt tanzte fortwährend allein
mit sich selbst und verweigerte hartnäckig mit einem der Gesellen zu
tanzen. Nichtsdestominder bewegte sie sich anmutig und leicht herum und
lächelte jedes Mal, wenn sie sich an dem traurigen Waldhornbläser
vorüberdrehte, wozu dieser immer den Kopf abwandte. Noch einige andere
vergnügte Frauensleute waren da mit ihren Beschützern, alle von
dürftigem Aussehen, aber sie waren um so lustiger und in bester Eintracht
untereinander. Als es gänzlich dunkel war, wollte der Wirt keine Lichter
anzünden, da er behauptete, der Wind lösche sie aus, auch ginge der
Vollmond sogleich auf, und für das, was ihm diese Herrschaften einbrächten,
sei das Mondlicht gut genug. Diese Eröffnung wurde mit großem
Wohlgefallen aufgenommen; die ganze Gesellschaft stellte sich an die Brüstung
des luftigen Saales und sah dem Aufgange des Gestirnes entgegen, dessen Röte
schon am Horizonte stand; und sobald der Mond aufging und sein Licht quer durch
den Estrich des Paradiesgärtels warf, tanzten sie im Mondschein weiter, und
zwar so still, artig und seelenvergnügt, als ob sie im Glanze von hundert
Wachskerzen tanzten. Das seltsame Licht machte alle vertrauter, und so konnten
Sali und Vrenchen nicht umhin, sich unter die gemeinsame Lustbarkeit zu mischen
und auch mit andern zu tanzen. Aber jedes Mal, wenn sie ein Weilchen getrennt
gewesen, flogen sie zusammen und feierten ein Wiedersehen, als ob sie sich
jahrelang gesucht und endlich gefunden. Sali machte ein trauriges und unmutiges
Gesicht, wenn er mit einer anderen tanzte, und drehte fortwährend das Gesicht
nach Vrenchen hin, welches ihn nicht ansah, wenn es vorüberschwebte, glühte
wie eine Purpurrose und überglücklich schien, mit wem es auch tanzte.
»Bist du eifersüchtig, Sali?«, fragte es ihn, als die Musikanten
müde waren und aufhörten. »Gott bewahre!«, sagte er, »ich
wüsste nicht, wie ich es anfangen sollte!« - »Warum bist du
denn so bös, wenn ich mit andern tanze?« - »Ich bin nicht
darüber bös, sondern weil ich mit andern tanzen muss! Ich kann
kein anderes Mädchen ausstehen, es ist mir, als wenn ich ein Stück
Holz im Arm habe, wenn du es nicht bist! Und du? wie geht es dir?« -
»Oh, ich bin immer wie im Himmel, wenn ich nur tanze und weiß,
dass du zugegen bist! Aber ich glaube, ich würde sogleich tot umfallen,
wenn du weggingest und mich daließest!« Sie waren hinabgegangen und
standen vor dem Hause; Vrenchen umschloss ihn mit beiden Armen, schmiegte
seinen schlanken zitternden Leib an ihn, drückte seine glühende Wange,
die von heißen Tränen feucht war, an sein Gesicht und sagte schluchzend:
»Wir können nicht zusammen sein, und doch kann ich nicht von dir lassen,
nicht einen Augenblick mehr, nicht eine Minute!« Sali umarmte und drückte
das Mädchen heftig an sich und bedeckte es mit Küssen. Seine verwirrten
Gedanken rangen nach einem Ausweg, aber er sah keinen. Wenn auch das Elend und die
Hoffnungslosigkeit seiner Herkunft zu überwinden gewesen wären, so war
seine Jugend und unerfahrene Leidenschaft nicht beschaffen, sich eine lange Zeit
der Prüfung und
Entsagung vorzunehmen und zu überstehen, und dann wäre
erst noch Vrenchens Vater dagewesen, welchen er zeitlebens elend gemacht. Das Gefühl,
in der bürgerlichen Welt nur in einer ganz ehrlichen und gewissenfreien Ehe
glücklich sein zu können, war in ihm ebenso lebendig wie in Vrenchen,
und in beiden verlassenen Wesen war es die letzte Flamme der Ehre, die in früheren
Zeiten in ihren Häusern geglüht hatte und welche die sich sicher fühlenden
Väter durch einen unscheinbaren Missgriff ausgeblasen und zerstört
hatten, als sie, eben diese Ehre zu äufnen wähnend durch Vermehrung ihres
Eigentums, so gedankenlos sich das Gut eines Verschollenen aneigneten, ganz gefahrlos,
wie sie meinten. Das geschieht nun freilich alle Tage; aber zuweilen stellt das
Schicksal ein Exempel auf und lässt zwei solche Äufner ihrer Hausehre
und ihres Gutes zusammentreffen, die sich dann unfehlbar aufreiben und auffressen wie
zwei wilde Tiere. Denn die Mehrer des Reiches verrechnen sich nicht nur auf den Thronen,
sondern zuweilen auch in den niedersten Hütten und langen ganz am entgegengesetzten
Ende an, als wohin sie zu kommen trachteten, und der Schild der Ehre ist im Umsehen eine
Tafel der Schande. Sali und Vrenchen hatten aber noch die Ehre ihres Hauses gesehen in
zarten Kinderjahren und erinnerten sich, wie wohlgepflegte Kinderchen sie gewesen und
dass ihre Väter ausgesehen wie andere Männer, geachtet und sicher. Dann
waren sie auf lange getrennt worden, und als sie sich wiederfanden, sahen sie in sich
zugleich das verschwundene Glück des Hauses, und beider Neigung klammerte sich
nur um so heftiger ineinander. Sie mochten so gern fröhlich und glücklich
sein, aber nur auf einem guten Grund und Boden, und dieser schien ihnen unerreichbar,
während ihr wallendes Blut am liebsten gleich zusammengeströmt wäre.
»Nun ist es Nacht«, rief Vrenchen, »und wir sollen uns trennen!« -
»Ich soll nach Hause gehen und dich allein lassen?«, rief Sali, »nein,
das kann ich nicht!« - »Dann wird es Tag werden und nicht besser um uns
stehen!«

»Ich will euch einen guten Rat geben, ihr närrischen Dinger!«, tönte
eine schrille Stimme hinter ihnen, und der Geiger trat vor sie hin. »Da steht ihr«,
sagte er, »wisst nicht wo hinaus und hättet euch gern. Ich rate euch,
nehmt euch, wie ihr seid, und säumet nicht. Kommt mit mir und meinen guten Freunden
in die Berge, da brauchet ihr keinen Pfarrer, kein Geld, keine Schriften, keine Ehre,
kein Bett, nichts als euern guten Willen! Es ist gar nicht so übel bei uns, gesunde
Luft und genug zu essen, wenn man tätig ist; die grünen Wälder sind unser
Haus, wo wir uns liebhaben, wie es uns gefällt, und im Winter machen wir uns die
wärmsten Schlupfwinkel oder kriechen den Bauern ins warme Heu. Also kurz entschlossen,
haltet gleich hier Hochzeit und kommt mit uns, dann seid ihr aller Sorgen los und habt
euch für immer und ewiglich, solange es euch gefällt wenigstens; denn alt werdet
ihr bei unserm freien Leben, das könnt ihr glauben! Denkt nicht etwa, dass ich
euch nachtragen will, was eure Alten an mir getan! Nein! es macht mir zwar Vergnügen,
euch da angekommen zu sehen, wo ihr seid; allein damit bin ich zufrieden und werde euch
behilflich und dienstfertig sein, wenn ihr mir folgt.« Er sagte das wirklich in einem
aufrichtigen und gemütlichen Tone. »Nun, besinnt euch ein bisschen, aber
folget mir, wenn ich euch gut zum Rat bin! Lasst fahren die Welt und nehmet euch und
fraget niemandem was nach! Denkt an das lustige Hochzeitbett im tiefen Wald oder auf
einem Heustock, wenn es euch zu kalt ist!« Damit ging er ins Haus. Vrenchen zitterte
in Salis Armen und dieser sagte: »Was meinst du dazu? Mich dünkt, es wäre
nicht übel, die ganze Welt in den Wind zu schlagen und uns dafür zu lieben ohne
Hindernis und Schranken!« Er sagte es aber mehr als einen verzweifelten Scherz denn
im Ernst. Vrenchen aber erwiderte ganz treuherzig und küsste ihn: »Nein,
dahin möchte ich nicht gehen, denn da geht es auch nicht nach meinem Sinne zu. Der
junge Mensch mit dem Waldhorn und das Mädchen in dem seidenen Rock gehören
auch so zueinander und sollen sehr verliebt gewesen sein. Nun sei letzte Woche die Person
ihm zum ersten Mal untreu geworden, was ihm nicht in den Kopf wolle, und deshalb sei er so
traurig und schmolle mit ihr und mit den andern, die ihn auslachen. Sie aber tut eine
mutwillige Buße, indem sie allein tanzt und mit niemandem spricht, und lacht ihn
auch nur aus damit. Dem armen Musikanten sieht man es jedoch an, dass er sich noch
heute mit ihr versöhnen wird. Wo es aber so hergeht, möchte ich nicht sein,
denn nie möcht ich dir untreu werden, wenn ich auch sonst noch alles ertragen würde,
um dich zu besitzen!« Indessen aber fieberte das arme Vrenchen immer heftiger an Salis
Brust; denn schon seit dem Mittag, wo jene Wirtin es für eine Braut gehalten und es
eine solche ohne Widerrede vorgestellt, tobte ihm das Brautwesen im Blute, und je
hoffnungsloser es war, um so wilder und unbezwinglicher. Dem Sali erging es ebenso
schlimm, da die Reden des Geigers, so wenig er ihnen folgen mochte, dennoch seinen
Kopf verwirrten, und er sagte mit ratlos stockender Stimme: »Komm herein, wir
müssen wenigstens noch was essen und trinken.« Sie gingen in die Gaststube,
wo niemand mehr war als die kleine Gesellschaft der Heimatlosen, welche bereits um
einen Tisch saß und eine spärliche Mahlzeit hielt. »Da kommt unser
Hochzeitpaar!«, rief der Geiger, »jetzt seid lustig und fröhlich und
lasst euch zusammengeben!« Sie wurden an den Tisch genötigt und
flüchteten sich vor sich selbst an denselben hin; sie waren froh, nur für
den Augenblick unter Leuten zu sein. Sali bestellte Wein und reichlichere Speisen,
und es begann eine große Fröhlichkeit. Der Schmollende hatte sich mit der
Untreuen versöhnt, und das Paar liebkoste sich in begieriger Seligkeit; das andere
wilde Paar sang und trank und ließ es ebenfalls nicht an Liebesbezeugungen fehlen,
und der Geiger nebst dem buckligen Bassgeiger lärmten ins Blaue hinein. Sali
und Vrenchen waren still und hielten sich umschlungen; auf einmal gebot der Geiger
Stille und führte eine spaßhafte Zeremonie auf, welche eine Trauung vorstellen
sollte. Sie mussten sich die Hände geben, und die Gesellschaft stand auf und
trat der Reihe nach zu ihnen, um sie zu beglückwünschen und in ihrer
Verbrüderung willkommen zu heißen. Sie ließen es geschehen, ohne ein
Wort zu sagen, und betrachteten es als einen Spaß, während es sie doch kalt
und heiß durchschauerte.

Die kleine Versammlung wurde jetzt immer lauter und aufgeregter, angefeuert durch
den stärkern Wein, bis plötzlich der Geiger zum Aufbruch mahnte.
»Wir haben weit«, rief er, »und Mitternacht ist vorüber! Auf!
Wir wollen dem Brautpaar das Geleit geben, und ich will vorausgeigen, dass es
eine Art hat!« Da die ratlosen Verlassenen nichts Besseres wussten und
überhaupt ganz verwirrt waren, ließen sie abermals geschehen, dass
man sie voranstellte und die übrigen zwei Paare einen Zug hinter ihnen
formierten, welchen der Bucklige abschloss mit seiner Bassgeige über
der Schulter. Der Schwarze zog voraus und spielte auf seiner Geige wie besessen den
Berg hinunter, und die andern lachten, sangen und sprangen hintendrein. So strich
der tolle nächtliche Zug durch die stillen Felder und durch das Heimatdorf
Salis und Vrenchens, dessen Bewohner längst schliefen.

Als sie durch die stillen Gassen kamen und an ihren verlorenen Vaterhäusern
vorüber, ergriff sie eine schmerzhaft wilde Laune und sie tanzten mit den andern
um die Wette hinter dem Geiger her, küssten sich, lachten und weinten. Sie
tanzten auch den Hügel hinauf, über welchen der Geiger sie führte,
wo die drei Äcker lagen, und oben strich der schwärzliche Kerl die Geige
noch einmal so wild, sprang und hüpfte wie ein Gespenst, und seine Gefährten
blieben nicht zurück in der Ausgelassenheit, sodass es ein wahrer Blocksberg
war in der stillen Höhe; selbst der Bucklige sprang keuchend mit seiner Last herum,
und keines schien mehr das andere zu sehen. Sali fasste Vrenchen fester in den Arm
und zwang es stillzustehen; denn er war zuerst zu sich gekommen. Er küsste es,
damit es schweige, heftig auf den Mund, da es sich ganz vergessen hatte und laut sang.
Es verstand ihn endlich, und sie standen still und lauschend, bis ihr tobendes
Hochzeitgeleite das Feld entlanggerast war und, ohne sie zu vermissen, am Ufer des
Stromes hinauf sich verzog. Die Geige, das Gelächter der Mädchen und die
Jauchzer der Bursche tönten aber noch eine gute Zeit durch die Nacht, bis
zuletzt alles verklang und still wurde.

»Diesen sind wir entflohen«, sagte Sali, »aber wie entfliehen wir
uns selbst? Wie meiden wir uns?«

Vrenchen war nicht imstande zu antworten und lag hoch aufatmend an seinem Halse.
»Soll ich dich nicht lieber ins Dorf zurückbringen und Leute wecken,
dass sie dich aufnehmen? Morgen kannst du ja dann deines Weges ziehen, und
gewiss wird es dir wohlgehen, du kommst überall fort!«

»Fortkommen, ohne dich!«

»Du musst mich vergessen!«

»Das werde ich nie! Könntest denn du es tun?«

»Darauf kommt's nicht an, mein Herz!«, sagte Sali und streichelte ihm die
heißen Wangen, je nachdem es sie leidenschaftlich an seiner Brust herumwarf,
»es handelt sich jetzt nur um dich; du bist noch so ganz jung und es kann dir
noch auf allen Wegen gut gehen!«

»Und dir nicht auch, du alter Mann?«

»Komm!«, sagte Sali und zog es fort. Aber sie gingen nur einige Schritte
und standen wieder still, um sich bequemer zu umschlingen und zu herzen. Die Stille
der Welt sang und musizierte ihnen durch die Seelen, man hörte nur den Fluss
unten sacht und lieblich rauschen im langsamen Ziehen.

»Wie schön ist es da ringsherum! Hörst du nicht etwas tönen,
wie ein schöner Gesang oder ein Geläute?«

»Es ist das Wasser, das rauscht! Sonst ist alles still.«

»Nein, es ist noch etwas anderes, hier, dort hinaus, überall tönt's!«

»Ich glaube, wir hören unser eigenes Blut in unsern Ohren rauschen!«

Sie horchten ein Weilchen auf diese eingebildeten oder wirklichen Töne, welche
von der großen Stille herrührten oder welche sie mit den magischen Wirkungen
des Mondlichtes verwechselten, welches nah und fern über die weißen Herbstnebel
wallte, welche tief auf den Gründen lagen. Plötzlich fiel Vrenchen etwas ein;
es suchte in seinem Brustgewand und sagte: »Ich habe dir noch ein Andenken gekauft,
das ich dir geben wollte!« Und es gab ihm den einfachen Ring und steckte ihm
denselben selbst an den Finger. Sali nahm sein Ringlein auch hervor und steckte ihn
an Vrenchens Hand, indem er sagte: »So haben wir die gleichen Gedanken gehabt!«
Vrenchen hielt seine Hand in das bleiche Silberlicht und betrachtete den Ring.
»Ei, wie ein feiner Ring!«, sagte es lachend; »nun sind wir aber
doch verlobt und versprochen, du bist mein Mann und ich deine Frau, wir wollen
es einmal einen Augenblick lang denken, nur bis jener Nebelstreif am Mond vorüber
ist oder bis wir zwölf gezählt haben! Küsse mich zwölf Mal!«

Sali liebte gewiss ebenso stark als Vrenchen, aber die Heiratsfrage war in
ihm doch nicht so leidenschaftlich lebendig als ein bestimmtes Entweder-Oder, als
ein unmittelbares Sein oder Nichtsein, wie in Vrenchen, welches nur das eine zu fühlen
fähig war und mit leidenschaftlicher Entschiedenheit unmittelbar Tod oder Leben
darin sah. Aber jetzt ging ihm endlich ein Licht auf, und das weibliche Gefühl
des jungen Mädchens ward in ihm auf der Stelle zu einem wilden und heißen
Verlangen, und eine glühende Klarheit erhellte ihm die Sinne. So heftig er
Vrenchen schon umarmt und liebkost hatte, tat er es jetzt doch ganz anders und
stürmischer und übersäete es mit Küssen. Vrenchen fühlte
trotz aller eigenen Leidenschaft auf der Stelle diesen Wechsel, und ein heftiges
Zittern durchfuhr sein ganzes Wesen, aber ehe jener Nebelstreif am Monde vorüber
war, war es auch davon ergriffen. Im heftigen Schmeicheln und Ringen begegneten sich
ihre ringgeschmückten Hände und fassten sich fest, wie von selbst eine
Trauung vollziehend, ohne den Befehl eines Willens. Salis Herz klopfte bald wie mit
Hämmern, bald stand es still, er atmete schwer und sagte leise: »Es gibt
eines für uns, Vrenchen, wir halten Hochzeit zu dieser Stunde und gehen dann
aus der Welt - dort ist das tiefe Wasser - dort scheidet uns niemand mehr und wir
sind zusammen gewesen - ob kurz oder lang, das kann uns dann gleich sein.«

Vrenchen sagte sogleich: »Sali - was du da sagst, habe ich schon lang bei mir
gedacht und ausgemacht, nämlich dass wir sterben könnten und dann alles vorbei
wäre - so schwör mir es, dass du es mit mir tun willst!«

»Es ist schon so gut wie getan, es nimmt dich niemand mehr aus meiner Hand als
der Tod!«, rief Sali außer sich. Vrenchen aber atmete hoch auf, Tränen
der Freude entströmten seinen Augen; es raffte sich auf und sprang leicht wie
ein Vogel über das Feld gegen den Fluss hinunter. Sali eilte ihm nach;
denn er glaubte, es wolle ihm entfliehen, und Vrenchen glaubte, er wolle es
zurückhalten. So sprangen sie einander nach und Vrenchen lachte wie ein
Kind, welches sich nicht will fangen lassen. »Bereust du es schon?«,
rief eines zum andern, als sie am Flusse angekommen waren und sich ergriffen.
»Nein! es freut mich immer mehr!«, erwiderte ein jedes. Aller Sorgen
ledig gingen sie am Ufer hinunter und überholten die eilenden Wasser, so
hastig suchten sie eine Stätte, um sich niederzulassen; denn ihre Leidenschaft
sah jetzt nur den Rausch der Seligkeit, der in ihrer Vereinigung lag, und der ganze
Wert und Inhalt des übrigen Lebens drängte sich in diesem zusammen; was
danach kam, Tod und Untergang, war ihnen ein Hauch, ein Nichts, und sie dachten
weniger daran als ein Leichtsinniger denkt, wie er den andern Tag leben will, wenn
er seine letzte Habe verzehrt.

»Meine Blumen gehen mir voraus«, rief Vrenchen, »sieh,
sie sind ganz dahin und verwelkt!« Es nahm sie von der Brust, warf
sie ins Wasser und sang laut dazu: »Doch süßer als ein
Mandelkern ist meine Lieb zu dir!«

»Halt!«, rief Sali, »hier ist dein Brautbett!«

Sie waren an einen Fahrweg gekommen, der vom Dorfe her an den Fluss führte,
und hier war eine Landungsstelle, wo ein großes Schiff, hoch mit Heu beladen,
angebunden lag. In wilder Laune begann er unverweilt die starken Seile loszubinden.
Vrenchen fiel ihm lachend in den Arm und rief. »Was willst du tun? Wollen wir
den Bauern ihr Heuschiff stehlen zu guter Letzt?« »Das soll die Aussteuer
sein, die sie uns geben, eine schwimmende Bettstelle und ein Bett, wie noch keine
Braut gehabt! Sie werden überdies ihr Eigentum unten wiederfinden, wo es ja
doch hin soll, und werden nicht wissen, was damit geschehen ist. Sieh, schon
schwankt es und will hinaus!«

Das Schiff lag einige Schritte vom Ufer entfernt im tiefern Wasser. Sali hob
Vrenchen mit seinen Armen hoch empor und schritt durch das Wasser gegen das
Schiff; aber es liebkoste ihn so heftig ungebärdig und zappelte wie ein
Fisch, dass er im ziehenden Wasser keinen Stand halten konnte. Es strebte
Gesicht und Hände ins Wasser zu tauchen und rief »Ich will auch
das kühle Wasser versuchen! Weißt du noch, wie kalt und nass
unsere Hände waren, als wir sie uns zum ersten Mal gaben? Fische fingen
wir damals, jetzt werden wir selber Fische sein und zwei schöne große!« -
»Sei ruhig, du lieber Teufel!«, sagte Sali, der Mühe hatte,
zwischen dem tobenden Liebchen und den Wellen sich aufrecht zu halten,
»es zieht mich sonst fort!« Er hob seine Last in das Schiff und
schwang sich nach; er hob sie auf die hoch gebettete weiche und duftende
Ladung und schwang sich auch hinauf, und als sie oben saßen, trieb
das Schiff allmählich in die Mitte des Stromes hinaus und schwamm
dann, sich langsam drehend, zu Tal.

Der Fluss zog bald durch hohe dunkle Wälder, die ihn überschatteten,
bald durch offenes Land; bald an stillen Dörfern vorbei, bald an einzelnen
Hütten; hier geriet er in eine Stille, dass er einem ruhigen See glich
und das Schiff beinah stillhielt, dort strömte er um Felsen und ließ
die schlafenden Ufer schnell hinter sich; und als die Morgenröte aufstieg,
tauchte zugleich eine Stadt mit ihren Türmen aus dem silbergrauen Strome.
Der untergehende Mond, rot wie Gold, legte eine glänzende Bahn den Strom
hinauf, und auf dieser kam das Schiff langsam überquer gefahren. Als es
sich der Stadt näherte, glitten im Froste des Herbstmorgens zwei bleiche
Gestalten, die sich fest umwanden, von der dunklen Masse herunter in die kalten
Fluten.

Das Schiff legte sich eine Weile nachher unbeschädigt an eine Brücke
und blieb da stehen. Als man später unterhalb der Stadt die Leichen fand
und ihre Herkunft ausgemittelt hatte, war in den Zeitungen zu lesen, zwei junge
Leute, die Kinder zweier blutarmen zugrunde gegangenen Familien, welche in
unversöhnlicher Feindschaft lebten, hätten im Wasser den Tod gesucht,
nachdem sie einen ganzen Nachmittag herzlich miteinander getanzt und sich
belustigt auf einer Kirchweih. Es sei dies Ereignis vermutlich in Verbindung
zu bringen mit einem Heuschiff aus jener Gegend, welches ohne Schiffleute in
der Stadt gelandet sei, und man nehme an, die jungen Leute haben das Schiff
entwendet, um darauf ihre verzweifelte und gottverlassene Hochzeit zu halten,
abermals ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung
der Leidenschaften.