[Vorrede zum Ersten Band]
           
           
           
             Doch nicht solche Geschichten, wie sie in dem beschriebenen Charakter von Seldwyla liegen, will ich eigentlich in diesem 
             Büchlein erzählen, sondern einige sonderbare Abfällsel, die so zwischendurch passierten, gewissermaßen ausnahmsweise ...
                
              
            Mit der Erklärung, nicht vom gewöhnlichen Leben in Seldwyla erzählen zu wollen, sondern von Ausnahmefällen, übernimmt 
            Keller geradezu musterhaft das Programm des 'Poetischen Realismus'. Seit dem Aufkommen der Realismus-Forderung in den 1830er Jahren wird in 
            Deutschland darüber debattiert, wie die getreue Abbildung der Wirklichkeit sich mit dem Merkmal der Schönheit vereinbaren lasse, 
            das man für die 'Schöne Literatur' für unabdingbar hielt. Die Wirklichkeit sei leider in der Regel nicht schön, so wurde argumentiert, 
             sie aber zu beschönigen vertrage sich nicht mit der Idee des Realismus.
               
              
             Die gefundene Lösung: Die Dichter müssten das Leben dort aufsuchen, wo es noch schön sei, oder - wie  Friedrich Theodor Vischer 
             es in seiner "Aesthetik" (1857) formulierte -, die Dichter müssten sich an die grünen Stellen der Wirklichkeit halten. Immer 
             wieder wird die Liebe als eine solche 'grüne Stelle' genannt, oder es wird empfohlen, die Menschen nicht in ihrer Wochentagsexistenz, sondern 
             an ihren Sonntagen aufzusuchen. Das Schöne soll sich also aus der richtigen Auswahl der Lebensmomente ergeben, ohne dass das Lebensbild 
             deshalb über die Wahrscheinlichkeit hinausgehoben erscheint.
            
          
 
             
            Ob Keller mit seinen Novellen ein solches wahrscheinliches Lebensbild entwerfen kann, ist allgemein nicht zu beantworten. Theodor Fontane nannte 
            ihn wegen gewisser Stilzüge vom Ansatz her einen 'Märchenerzähler' (siehe unter GESTALTUNG zum 
5. Teil), für andere 
            war er ein fast schon das Hässliche  bevorzugender Realist. Tatsache ist, dass man beides in seinen Werken findet: einen Zug zum Hübschen und 
            Lieblichen, der in seiner Überdeutlichkeit allerdings manchmal schon wie zitiert wirkt, und die ungeschminkte Darstellung unschöner Lebensmomente, 
            die sogar  ins Boshafte übergehen kann. Nachfolgend wird auf diese Mischung, die zu beachten sich auch didaktisch lohnt, besonders hingewiesen.
            
               
 
          
      
       [Erster Teil]
             
           
           
             Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte ...
               
              
              Ein Zeitgenosse Kellers,  der Diplomat Alexander von Villers (1812-1880), hat in seinen "Briefen eines Unbekannten" (1881) die Unlogik dieses 
              Satzes beanstandet, nämlich dass er gerade soviel sage wie: dieser Baum würde ein Frosch sein, wenn es sich nicht um ein Pferd 
              handelte, mithin 'barer Unsinn' sei. Das ist zwar übertrieben, aber nicht ganz falsch. Richtiger könnte der Satz lauten: Diese Geschichte 
              wäre nicht erzählenswert, wenn sie nur Shakespeares 'Romeo und Julia' nachahmte, doch ist sie wirklich vorgekommen und zeigt wieder 
              einmal, wie tief im Menschenleben jede der Fabeln wurzelt, auf die die großen alten Werke gebaut sind. Wäre das aber besser? Kellers 
              umständliche und auch ein bisschen unbeholfen wirkende Formulierung hat etwas Treuherzig-Aufrichtiges, so wie wenn der Erzähler 
              selbst noch nach den richtigen Worten für das suchte, was ihm zu Herzen gegangen ist. 
            
           
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           Es gab auch jedes Mal einen mittlern Augenblick, wo die schimmernden Mützen aufrecht in der Luft schwankten und wie zwei weiße 
           Flammen gen Himmel züngelten.
             
              
              Inmitten der idyllischen Szenerie um die beiden pflügenden Bauern sind die 'züngelnden Flammen' ein fremdes, störendes 
              Element. Ohne Zweifel soll es andeuten, dass der Schein trügt und etwas Böses in dieser Idylle angelegt ist.
           
           
           
            
           
           
             So war der lange Morgen zum Teil vergangen, als von dem Dorfe her ein kleines artiges Fuhrwerklein sich näherte ... 
             Kinderwägelchen ... ein kleines Ding von Mädchen ... Zutätchen ...
                
              
            Der häufige Gebrauch von Verkleinerungsformen kann bei Keller verschiedene Bedeutungen haben: es kann sich um Verniedlichungen, 
            es kann sich aber auch um Abwertungen handeln. Hier liegt der positive Sinn vor, so wie auch in der gesamten ersten Kennzeichnung des 
            bäuerlichen Milieus die positiven Momente die maßgebenden sind.
               
               
               
    
            
           
           
             ... außerdem waren da noch verpackt allerlei seltsam gestaltete angebissene Äpfel und Birnen ... und eine völlig nackte Puppe mit 
             nur einem Bein und einem verschmierten Gesicht ...
                
              
           Um den allzu gefälligen, vielleicht schon unechten ('kitschigen') Eindruck der Kinderszene aufzuheben, stellt Keller ihr ohne jede Vorankündigung ein 
           drastisch unschönes Element gegenüber und gibt so zu erkennen, dass er jederzeit 'auch anders kann'. Der Gegensatz kennzeichnet hier also 
           weniger die geschilderte Wirklichkeit als die kauzige Natur des Erzählers bzw. Gottfried Kellers, der auch als Mensch zu solchen abrupten Derbheiten 
           neigte. In Gesellschaften wurde oft geradezu befürchtet, dass er aus der Rolle fallen und irgendwelche Anwesenden durch brüske 
           Bemerkungen vor den Kopf stoßen könnte.
           
               
          
           
           
           
             An einem sonnigen Septembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien dieser Äcker ...
                
          
           
           
           
             Es war ein Junge von sieben Jahren und ein Dirnchen von fünfen ...
                
              
          Die Altersangabe ist zugleich der Ausgangspunkt für die Bestimmung der Handlungsdauer: in einem September 
          beginnend, endet die Geschichte zwölf Jahre später wiederum an einem 'schönen Sonntagmorgen im September' (siehe 
          6. Teil, Absatz 3). Teils wird das Alter der Kinder, teils werden die übersprungenen Jahre zur Zeiteinteilung herangezogen. Die Datierung 
          der einzelnen Szenen ist auch eine didaktisch brauchbare Aufgabe, weil sie eine genaue Textdurchsicht erfordert und ein begründbares 
          Ergebnis liefert.
 
          
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             ... ein weithin scheinendes Silbergewölk ... welches lachend an ihren Bergen hinschwebte. "Die Lumpenhunde zu 
             Seldwyl kochen wieder gut!", sagte Manz ... 
                
              
              Der Kontrast zwischen dem lachend hinschwebenden Silbergewölk und den gut kochenden Lumpenhunden ist wiederum kennzeichnend 
              für Kellers drastische Art, schöne Eindrücke desillusionistisch aufzulösen.
           
          
          
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             ... eine einsame rote Mohnblume, die da noch blühte, wurde ihr als Haube über den Kopf gezogen ... bis der Knabe sie genugsam 
             besehen und mit einem Steine herunterwarf.
                
              
              Mit der Mohnblume und dem Steinwurf wird ein Motiv in der Erzählung angelegt, das sich in der Szene mit Vrenchens Vater später wiederholt. 
              Man sollte dies allerdings nicht 'Vorausdeutung' nennen. Die wiederholte Nennung der Steine - erst auf dem Acker, dann als Steinwurf, später als 
              Steinhaufen und Steinschlag - stellt hauptsächlich nur einen atmosphärischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Szenen her.  
              Darüber hinaus sind die Steine auch  'Stein des Anstoßes', stellen also für den Streit der Bauern das tatsächlich dar, was die 
              Redewendung meint.
           
  
               
           
           
             Die Kinder hielten den Kopf an die Ohren und setzten ihn dann feierlich auf einen Stein; da er noch mit der roten Mohnblume bedeckt war, so glich 
             der Tönende jetzt einem weissagenden Haupte ...
                
              
              Der hohle, nur noch summende Kopf der Puppe findet später seine Entsprechung in dem durch den Schlag Salis schwachsinnig gewordenen Marti, 
              auch wiederum ein Motiv, das zwei Handlungsteile miteinander verbindet. Die ausführliche Schilderung des Spiels der Kinder mit der 
              unbeschönigten Benennung seiner grausamen und hässlichen Züge hat es allerdings vor allem auf die mit der Romantik aufgekommene 
               Kinder-Sentimentalität abgesehen, die in der Literatur des Realismus im Großen und Ganzen fortbesteht.
           
      
       [Zweiter Teil]
             
               
           
           
             ... da der zehnjährige Salomon oder Sali, wie er genannt wurde, sich schon wacker auf Seite der größeren Burschen und 
             der Männer hielt ...
               
              
              Drei Jahre, vielleicht auch dreieinhalb Jahre vergehen bis zur Versteigerung des Ackers, denn als Manz den Acker an sich gebracht hat, heißt es,
          
            
           
           
           ... dass er den kaum elfjährigen Jungen ... nun mit hinaus sandte ...
             
              
              Für die Jahreszählung ist der Zeitpunkt der Versteigerung aber ohne Bedeutung.
           
           
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             ... vielmehr starrten sie nach verschiedener Richtung ins Blaue hinaus, als ob sie da wunder was für Merkwürdigkeiten im Auge hätten ...
               
              
              Mit seiner ironischen Kommentierung bezieht Keller deutlich gegen die beiden Bauern Stellung, ergreift also als Erzähler Partei. Dem mit der 
              Realismus-Forderung sich ausbildenden Gebot, dass der Erzähler sich jeder Parteinahme zu enthalten, d.h. strikt neutral oder 'objektiv' zu 
              erzählen habe, hat sich Keller nie unterworfen.  Er erzählt immer 'moralisch', gibt also klar zu erkennen, was er für gut und richtig, 
              und noch öfter, was er für  schlecht und falsch hält. Zu interpretieren gibt es in dieser Hinsicht also nicht viel, was allerdings nicht bedeutet, 
              dass man sich seinen Urteilen immer anschließen muss.
              
            
             ~~~~~~~~~~~~
           
            
           
           
           So ging es gewaltig rückwärts mit ihnen, und ehe zehn Jahre vorüber, steckten sie beide von Grund aus in Schulden ... 
           
             Die Frau des Marti, welche von guter Art war, hielt den Verfall nicht aus, härmte sich ab und starb, ehe ihre Tochter vierzehn Jahre alt war.
               
              
            Die beiden Zeitangaben stimmen nicht ganz überein. Vrenchen ist schon sechs Jahre nach der Versteigerung  vierzehn Jahre alt, und nachfolgend ergibt 
            sich, dass sie sechzehn ist, als Manz mit seiner Familie das Dorf verlassen muss. Die Verschuldung zeitigt ihre Folgen also schon deutlich bevor 'zehn Jahre 
            vorüber', nämlich bereits nach acht Jahren.
               
            
           
           
           ... wenn er es arg trieb, so machte sie es bunt, ließ sich nichts abgehen und gedieh zu der dicksten Blüte einer Vorsteherin 
           des zerfallenden Hauses. 
                
              
          Das Urteil über die Frau des Manz ist eine der bei Keller oft anzutreffenden Grobheiten gegenüber Frauen - er stellt in dieser 
          Hinsicht die große Ausnahme unter den Autoren des 19. Jahrhunderts dar.
          
      
       [Dritter Teil]
              
           
           
             Als es sechzehn Jahre zählte, war es schon ein schlank gewachsenes, ziervolles Mädchen ...
               
              
              Seit der Versteigerung des Ackers und damit der Trennung des Kinderpaares sind jetzt also acht Jahre vergangen. Zu Kellers 
              Lob der Gehemmtheit Vrenchens siehe unter 
LEBENSWELT.
 
             ~~~~~~~~~~~~
             
             
           
           
             ... kurzum, sie tat jetzt alles, da sie alt war, was besser gedient hätte, wenn sie es früher geübt.
               
              
              Da der Zeitpunkt, zu dem die Frau des Manz als geschwätzig, verlogen, eingebildet usw. geschildert wird, nur ein bis 
              zwei Jahre zurückliegt, ist ein verändertes Verhalten 'jetzt, da sie alt ist', nicht nachzuvollziehen. Keller hat nur 
              offenbar empfunden, dass ihm ihre Beurteilung allzu negativ geraten ist, und will eine Art Wiedergutmachung leisten.
              
            
      
      [Vierter Teil]
              
           
           
             Wenn man Manz vor zwölf Jahren, als er mit einem schönen Gespann pflügte auf dem Hügel über dem Ufer, 
             geweissagt hätte ...
               
              
             Mit dem Rückblick auf die Eingangsszene 'vor zwölf Jahren' wählt Keller den Zeitpunkt der Liebeshandlung deutlich so, dass die 
             damals fünf und sieben Jahre alten Kinder nun siebzehn und neunzehn sind.  Das ist auch das Alter des Paares in der Zeitungsmeldung, 
             von der sich Keller zu der Novelle hat anregen lassen (siehe unter 
ENTSTEHUNG).  Dass 
             andere Angaben auf einen größeren Zeitabstand hindeuten, fällt demgegenüber nicht ins Gewicht.
 
             ~~~~~~~~~~~~
             
             
           
           
             ... und in diesem Augenblicke erhellte ein Wolkenriss, der den grellen Abendschein durchließ, das nahe Gesicht des Mädchens ...
               
              
               Der Moment des 'Erkennens' oder Sich-Verliebens wird hier mit einem Sonnenstrahl verbunden, der natürlich auch einen symbolischen Sinn hat.
              
            
                   
           
           
             ... ihre Kinder aber atmeten kaum und waren still wie der Tod, gaben sich aber im Wegwenden ... schnell die Hände, welche vom 
             Wasser und von den Fischen feucht und kühl waren.
               
              
               Die vom Wasser und den Fischen noch feuchten Hände - dass die beiden Fische angefasst haben, ist im Grunde kaum 
               erschließbar - nehmen ihren gemeinsamen Tod vorweg, zumal auch umgekehrt an diesen Moment in der späteren Situation 
               wieder erinnert wird.
              
       [Fünfter Teil]
           
          
Die Gliederung der Novelle in sechs Teile, wie sie hier vorgenommen wird, sollte 
          nicht übersehen lassen, dass die Teile sehr verschieden lang sind. Die Teile eins bis vier umfassen zwar fast die gesamte 
          Handlungszeit von zwölf Jahren, machen aber nur gut ein Drittel des Textes aus, während auf die letzten sechs 
          Wochen bzw.  die Teile fünf und sechs annähernd zwei Drittel entfallen. Oder in Prozenten ausgedrückt: die Geschichte 
          der Elternfeindschaft mit 99 Prozent der Handlungszeit beansprucht ein Drittel des Textes,  die Geschichte  des Liebespaares mit 
          nur einem Prozent zwei Drittel. Keller wollte also vor allem eine Liebesgeschichte erzählen, und weit weniger wichtig, 
          als dass sie mit dem Tod des Paares endet, ist ihm, dass es sie gibt. In der jüngeren  Literaturwissenschaft mit ihrer 
         Bevorzugung gesellschaftlicher Fragestellungen werden diese Proportionen allerdings zumeist umgekehrt. Das Hauptgewicht der 
         Interpretationen und Unterrichtsvorschläge liegt hier auf den Umständen, die zur Feindschaft der Elternfamilien 
         geführt haben, und der Verlauf der Liebesgeschichte hängt ihnen als Folge nur an. 
          
 
         
          
          
 
         
            
          
          Je mehr für den Selbstmord des Paares allerdings eine gesellschaftlich verursachte Zwangsläufigkeit unterstellt wird, desto 
          problematischer wird es - sogar Keller selbst hat ja in dem ursprünglichen Schluss der Novelle diesen Selbstmord kritisch 
          kommentiert (siehe unter GESTALTUNG zum 
6. Teil). Zu Recht wird deshalb darauf hingewiesen, dass - sollte 
          der Selbstmord zum Thema gemacht werden - hier unbedingt nach Alternativen gefragt werden müsste, nicht zu vergessen die 
          längst anderen sozialen Möglichkeiten, die es heute - in unseren westlichen Gesellschaften jedenfalls - für Liebespaare 
          verfeindeter Eltern gäbe.
 
          
          
          
            
          
          Das berührt sich mit der Frage, ob Keller den Selbstmord überhaupt hinreichend glaubhaft machen kann. 
          Theodor Fontane (1819-1898)  sah - in einer Niederschrift von 1875 - die Glaubhaftigkeit dadurch beeinträchtigt,
 
          
          
          daß die erste Hälfte ganz in Realismus, die zweite Hälfte ganz in Romantizismus steckt; die erste Hälfte ist eine das 
          echteste Volksleben bis ins kleinste hinein wiedergebende Novelle, die zweite Hälfte ist, wenn nicht ein Märchen, so doch 
          durchaus märchenhaft. Und warum? Weil dieser Märchenton leichter zu treffen ist als der der Wirklichkeit. Wer nicht ganz mit 
          und unter dem Volke gelebt hat, hat diesen Ton auch nicht, er muß ihn sich also aus diesen und jenen Reminiszenzen aufbauen. 
          Dies mit zwei alten störrigen Bauern zu tun, glückt einem Talent wie dem Kellerschen, den 
          wirklichen Ton eines 
          sechzehnjährigen Dorfmädchens und eines zwanzigjährigen Bauernburschen zu treffen, ist aber fast unmöglich, 
          und so muß der Märchenton aushelfen. So sprechen sie denn nicht wie 'Vrenchen und Sali', sondern wie 'Brüderchen 
          und Schwesterchen', wogegen nichts zu sagen wäre, wenn die ganze Geschichte dem entspräche; aber das allmähliche 
          Hineingeraten aus mit realistischem Pinsel gemalter Wirklichkeit in romantische Sentimentalität ...  ist nicht gutzuheißen. 
          Die Zartheit, das Wegfallen alles Harten und Störenden, wodurch die zweite Hälfte dieser Erzählung sich auszeichnet, 
          ist schließlich doch nur das Resultat einer nicht vollkommen ausreichenden Kraft. Keller hat hier aus der Not eine Tugend gemacht.
           
          
          
 
          
          
          
           Etwas Ähnliches beobachtet Otto Ludwig (1813-1865), kommt aber zu einem entgegengesetzten Resultat:
           
 
            
          Die Wirkung der Novelle ist eine sehr schöne, nicht allein ist die Katastrophe wahrscheinlich und notwendig; man wünscht 
          auch nicht, daß die Katastrophe ausbliebe, daß die Geschichte einen anderen Ausgang erhielte. ... Seine [Kellers] Liebenden sterben 
          zunächst, weil das Elend der Armut ein Hindernis ihrer Liebesvereinigung durch die Ehe [ist], die sie nicht entbehren können; aber sie 
          sterben eben deshalb nicht allein, weil sie unglücklich lieben, sondern auch ... weil der Bursche des Mädchens Vater um den Verstand 
          gebracht hat, weil die Väter dem schwarzen Geiger den Acker gestohlen, weil dieser den Kindern mit geflucht, weil sie sich einmal als 
          Brautleute ausgegeben, weil sie von Getränk und Tanz und sinnlicher Geschlechtsbegierde berauscht sind. Ihre Geschichte ist nur das Ende 
          und die Erfüllung der Geschichte ihrer Eltern, sie sterben durch deren Schuld. 
           
     
          
          Ganz anders wiederum urteilt der schon zitierte Alexander von Villers in seinen "Briefen eines Unbekannten" (1881). Er sieht
 
            
            wirklich nirgends den tragischen Grund zum tragischen Ende, und ehe die Liebe ins Wasser geht, läuft sie [sich] doch erst die 
          Füße wund. ... Es fehlt an jedem Motiv; auch das Motiv: Furcht vor Schande nach dem Fall, fällt weg, denn der Fall [gemeint: ein 
          Kind] kommt ihnen gar nicht in den Sinn; konnte auch nicht wirken, denn die armen Dinger hatten ja so schon gar nichts, das wie Ehre oder 
          Ehrbarkeit aussah. Über solches Vorurteil zu lachen, waren sie recht dazu angetan ...
           
        
           
           
            
          
So bleibt es - wie oft - der persönlichen Abwägung überlassen, ob man den Ausgang 
          der Geschichte für  überzeugend  halten will oder nicht. Kaum zu bezweifeln ist allerdings, dass Otto Ludwig Recht hat, wenn er in diesem Ausgang 
          eine Art 'Happy end' sieht.  Jede Weiterführung der Handlung mit allen denkbaren Infragestellungen des Liebesverhältnisses wäre 
          wohl weniger erfreulich, d.h. Keller ist auch und gerade mit seinem Schluss ein 'poetischer' Realist. 
 
                  
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              Denn nichts gleicht dem Reichtum und der Unergründlichkeit eines Glückes, das an den Menschen herantritt in einer 
              so klaren und deutlichen Gestalt, vom Pfäfflein getauft und wohlversehen mit einem eigenen Namen, der nicht tönt wie andere Namen.
                   
              
             An diesen etwas dunklen Satz schloss sich in der Erstfassung von 1856 noch eine längere Textpassage an,  in der die individuelle Liebe 
             als Keim einer glücklichen Familie und diese wiederum als Grundlage einer glücklichen Gesellschaft behandelt wird. Da dies im Falle von 
             Sali und Vrenchen nicht eintritt, heißt es zuletzt, dass dennoch jeder solcher Liebesanfang etwas Schönes sei. Die in der Fassung von 
             1874 gestrichene Passage lautet:
             
              
             Dieses ist eine feine Sache und in ihr ruht das Geheimnis oder die Offenkunde von der Wohlfahrt des Lebens, von dem Aufbau der Familie und dessen, 
             was viele Familien zusammen sind. Es ist die Frühlingsblüte, aus welcher die Frucht der guten Familie erwächst; manche Gewächse 
             müssen zwei bis drei oder gar vier Mal blühen, bis eine Frucht geraten will, und alsdann hat die Weisheit der Natur oder der Götter es 
             so eingerichtet, daß den Blühenden die letzte Blume immer die feinste dünkt und sie meinen, es sei noch nie so schön gewesen. 
             Und ob nun die Natur allein oder die Götter dies also geordnet, so ist es wirklich ein gutes und zweckmäßiges Ding. Viele blühen 
             aber nur ein Mal und auch diese Blüte zerschlägt der Sturm, tötet der Frost oder ersäuft ein anhaltendes Regenwetter, und nie 
             wird eine Frucht daraus; viele blühen in einer Wildnis oder in einem wüsten Sumpfe in der Einsamkeit und es wird auch nichts daraus als 
             zuweilen eine herbe verkrüppelte Holzfrucht; denn alle guten Früchte wachsen in großer Gesellschaft, die Ähre steht neben der 
             Ähre und die Traube hängt neben der Traube tausendfältig. Aber Blumen sind es immer gewesen, ob etwas daraus geworden oder 
             nicht und ob sie gesehen oder ungesehen verblühten, und der Frühling ist schön, was auch aus ihm wird.
                  
             
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                 "Und unsere Eltern?", fragte Vrenchen ... "Sind wir schuld an dem, was sie getan und geworden sind?", sagte Sali ...
                   
              
             An dieser Zwiesprache fällt besonders auf, was Fontane gemeint hat, wenn er sagte, Sali und Vrenchen sprächen nicht wie junge 
             Leute vom Dorf, sondern wie 'Brüderchen und Schwesterchen' (siehe 
oben).
             
 
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                 ... sie legten zwei und dreimal den Hin- und Herweg zurück, still, glückselig und ruhig, sodass dieses einige Paar nun auch 
                 einem Sternenbilde glich, welches über die sonnige Rundung der Anhöhe und hinter derselben niederging ...  
              
             Mit der Rückbindung an die Eingangsszene nimmt Keller eine etwas absichtliche Motivverknüpfung vor, denn die beiden 'Sternbilder' haben 
             ebenso wenig miteinander zu tun wie der gleich danach auftauchende schwarze Geiger etwas mit ihnen als 'dunkler Stern'.  
             
              
            
            
                 Plötzlich sprang der schwarze Geiger mit einem Satze auf die rot bekleidete Steinmasse hinauf ...  
              
             Die Farben rot und schwarz bedeuten - spätestens seit Stendhals berühmtem Roman "Le rouge et le noir" (1830) - 
             Liebe und Tod, auch wenn sie dort für die Farben des Roulettes stehen. Aber auch in der Plötzlichkeit 
             seines Erscheinens ist der schwarze Geiger ein Todesbote.
             
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                 ... "du musst ungefähr siebzehn sein?" - "Siebzehn und ein halbes Jahr bin ich alt!", erwiderte Vrenchen, 
"und wie alt bist du? Ich weiß aber schon, du bist bald zwanzig!" ...  
              
             Mit den Altersangaben wird noch einmal verdeutlicht, was schon die bis hierher vergangenen zwölf Jahre besagen:  Sali und 
             Vrenchen sind ebenso als wie das Liebespaar in der Zeitungsmitteilung, auf die sich Keller bezieht 
             (siehe unter 
ENTSTEHUNG). 
             
 
             
       
            
            
                 ... und der arme Sali hielt in seinem Arm, was reiche Leute teuer bezahlt hätten, wenn sie es nur gemalt an ihren Wänden 
                 hätten sehen können. 
              
             In einer im Ganzen sehr positiven Besprechung der Novelle hat Berthold Auerbach (1812-1882) diese Bemerkung 1856 ausdrücklich 
             beanstandet.  Sie versetze den Leser aus dem Horizont des Geschehenden plötzlich in einen ganz fremdartigen. Es handle sich da noch 
             um ein Anhängsel jenes 'romantischen Drüberstehens', dessen sich der realistische Dichter zu enthalten habe. Keller indessen hat sich 
             dem Gebot der Erzählerneutralität nie unterworfen. An dieser Stelle kann man einen Bezug zu den 'reichen Leuten' von Berlin sehen, die er
             bei der Niederschrift der Novelle als eine Art Zaungast vor Augen hatte. 
             
             
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                 Ohne sich zu besinnen, raffte er einen Stein auf und schlug mit demselben den Alten gegen den Kopf ...  
              
            An dem Stein als 'Tatwaffe' erweist sich noch einmal die zentrale Bedeutung dieses Motivs, da aller Unfrieden und alles Unglück in dieser 
            Novelle mit Steinen zu tun hat.
             
             
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                 ... er machte nichts als Dummheiten,  ... setzte sich in die Sonne und streckte die Zunge heraus oder hielt lange Reden in die Bohnen hinein.  
 
            
            
                 ...  der gesunde und essbegierige Blödsinnige wurde noch gut gefüttert ...  
              
          Wie an diesen Formulierungen zu sehen ist, will Keller Mitleid mit Marti nicht aufkommen lassen. Das soll auch Vrenchen entlasten, die nach den 
          damaligen Vorstellungen an dem Unglück ihres Vaters weit mehr hätte Anteil nehmen müssen, als es hier der Fall ist.
         
              
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                 "Das weiß ich nicht", sagte Vrenchen, "ich werde dienen müssen und in die Welt hinaus! Ich werde es aber 
                 nicht aushalten ohne dich, und doch kann ich dich nie bekommen, auch wenn alles andere nicht wäre, bloß weil du meinen Vater 
                 geschlagen und um den Verstand gebracht hast! Dies würde immer ein schlechter Grundstein unserer Ehe sein ..." 
              
          An dieser Stelle schlägt der Märchenton besonders stark durch: 'in die Welt hinaus', wo es sich nach Lage der Dinge 
          nur um ein Dienstverhältnis im nahen Seldwyla handeln kann. Eine nicht ganz passende Sentimentalität ist es auch, wenn Vrenchen 
          vom 'Grundstein ihrer Ehe' spricht - oder soll ihr diese altkluge Banalität einen Anstrich von Gewöhnlichkeit geben? Für diesen 
          Fall hätte Keller auf eine entsprechende Kommentierung doch wohl nicht verzichtet.
           
           
                
            
            
              Denn die rechte Wange Vrenchens und die linke Salis, welche im Schlafe aneinander gelehnt hatten, waren von dem Drucke ganz rot 
              gefärbt, während die Blässe der anderen durch die kühle Nachtluft noch erhöht war. 
                  
          Die Stelle ist als Andeutung eines Wechsels vom Leben zum Tod zu verstehen, bereitet also den Gedanken an ein gemeinsames 
          Sterben vor, der wenig später erstmals ausgesprochen wird.
             
             
             
            
            
              "Ich will dir nicht abraten", sagte Vrenchen errötend, "denn ich glaube, ich müsste sterben, wenn ich 
              nicht morgen mit dir tanzen könnte." - "Es wäre das Beste, wir beide könnten sterben!", sagte Sali ... 
                  
          Es stellt eine geschickte, psychologisch gut begründete Überleitung zur Annäherung an den Todesgedanken dar, wenn 
          Sali die Redensart 'Ich glaube, ich müsste sterben' wörtlich nimmt und damit die Möglichkeit des gemeinsamen Sterbens wie 
          zur Probe erstmals anspricht. Vrenchen antwortet darauf nicht, aber sie weist den Gedanken auch nicht zurück.
             
      
            
          [Sechster Teil]
                
            
            
                 Sobald er in der Stadt war, trug er seine Uhr zu einem Uhrmacher, der ihm sechs oder sieben Gulden dafür gab ...
                   
              
              Der Verkauf der Uhr (oder ihr Herunterfallen, Stehenbleiben usw.) hat in der Literatur früherer Zeiten immer eine 
              Bedeutung. Die Taschenuhr war der Inbegriff der Pflichterfüllung, der Umgang mit ihr also ein Zeichen dafür, 
              wie ernst man seine Pflichten nahm. Hier bedeutet der Verkauf der Uhr natürlich den Verzicht auf eine weitere Lebensplanung.
 
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                 Seine Frau aber ... brachte ihm ein großes schwarzes Mailänder Halstuch mit rotem Rande ...
                   
              
              Die Farben rot und schwarz stehen wie bei den Mohnblumen und dem schwarzen Geiger für Liebe und Tod.
 
              
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                 "Ja, und er ist ein reicher Herr, er hat hunderttausend Gulden in der Lotterie gewonnen! ..."
                   
              
              Der Wunsch, durch einen Lotteriegewinn zu Wohlstand zu kommen, ist für Keller zwar grundsätzlich verwerflich, soll 
              hier aber zeigen, woran es Vrenchen eigentlich mangelt. Sie erträumt sich nicht irgendein Luxusleben, sondern gute 
              gesellschaftliche Beziehungen. Das Geld sollte ihr nur dazu dienen, freundlich und großzügig sein zu können.
 
              
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                  Bald waren sie auch im freien Felde ... es war ein schöner Sonntagmorgen im September ...
                   
              
              Mit der Monatsangabe endet die Handlung genau zwölf Jahre nach dem Septembermorgen, an dem sie beginnt 
              (siehe GESTALTUNG zum 
1. Teil).
  
              
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                 Denn die Landleute haben so gut ihre ausgesuchten Promenaden und Lustwälder wie die Städter ...
                   
              
              Städter = Wie die Bemerkung über die 'reichen Leute', die Sali um sein Glück beneiden würden (siehe unter 
              GESTALTUNG zum 
5. Teil), zeigt auch diese Stelle an, in welcher Umgebung die Novelle entstanden ist: Keller 
              wohnte 1855 nur einen Katzensprung  von der Berliner Promenade Unter den Linden entfernt und kannte natürlich auch den Tiergarten. 
  
              
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                 So genoss Vrenchen alle Wonnen einer Braut, die zur Hochzeit reiset: die wohlwollende Ansprache und Aufmunterung einer 
                 sehr vernünftigen Frau, den Neid einer heiratslustigen bösen Person, welche aus Ärger den Geliebten lobte und bedauerte, 
                 und ein leckeres Mittagsmahl an der Seite eben dieses Geliebten! 
                   
              
              Ob es wirklich zum gewöhnlichen Glück einer Braut zählt, sich von einer heiratslustigen bösen Person beneidet zu wissen, dürfte 
              nicht leicht zu ergründen sein. Für das Welt- und zumal das Frauenbild Kellers ist die Annahme einer solchen Bosheit aber typisch.
 
              
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                 Sie lasen eifrig die Sprüche, und nie ist etwas Gereimtes und Gedrucktes schöner befunden und tiefer empfunden 
                 worden als diese Pfefferkuchensprüche; sie hielten, was sie lasen, in besonderer Absicht auf sich gemacht ...
                   
              
              Die Sprüche wie auch das Pfefferkuchenhaus bezeugen in allem das Ideal der bürgerlichen Liebe und Ehe: das Heiraten 
              nach Neigung, das eigene Heim, die ewige Treue. Sali und Vrenchen, soll das besagen, geben sich nicht nur für ein anständiges 
              junges Paar aus, sie fühlen und denken auch so und würden gern ein solches Paar sein, wenn die Umstände es ihnen erlaubten.
 
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                 Das Paradiesgärtlein war ein schön gelegenes Wirtshaus ... in welchem aber an solchen Vergnügungstagen nur 
                 das ärmere Volk, die Kinder der ganz kleinen Bauern und Tagelöhner und sogar mancherlei fahrendes Gesinde verkehrte.
                    
                    
                  Der Name Paradiesgärtlein steht in einem ironischen Kontrast zu dem abgründigen, sittenlosen Treiben dort, hat aber auch 
                  einen Beiklang von Ungezwungenheit und  Natürlichkeit.
                    
                
            
            
                 Erst als der Walzer zu Ende, sahen sie sich um; Vrenchen hatte sein Haus zerdrückt und zerbrochen ...
                   
              
              Mit dem zerdrückten und zerbrochenen  Pfefferkuchenhaus ist der bürgerliche Lebenstraum ausgeträumt; es 
              gibt für Sali und Vrenchen nur noch den Abstieg in das morallose Leben des niedersten Volkes oder den Gang in den Tod. 
               
                 ~~~~~~~~~~~~
               
               
            
            
                 Vrenchen aber erwiderte ganz treuherzig und küsste ihn: "Nein, dahin möchte ich nicht gehen, denn da geht es 
                 auch nicht nach meinem Sinne zu ..."
                   
              
             Auch hier werden noch einmal die bürgerlichen Maßstäbe sichtbar gemacht, denen sich die Beiden verpflichtet fühlen, gemeint 
             als direkte Widerlegung der am Schluss zitierten Zeitungsmeinung, ihr Selbstmord sei  'ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung 
             und Verwilderung der Leidenschaften'. 
 
             
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                 "Weißt du noch, wie kalt und nass unsere Hände waren, als wir sie uns zum ersten Mal gaben? Fische fingen 
wir damals, jetzt werden wir selber Fische sein ..."
                   
              
             Mit diesem Rückbezug wird der Szene am Fluss eine symbolische Vorbedeutung zugewiesen, die sich allerdings ein bisschen sehr absichtlich 
             ausnimmt. Denn schon in jener Szene selbst sind die 'kalten Hände' nicht so ganz überzeugend (siehe unter GESTALTUNG 
             zum 
4. Teil).
  
              
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               ... abermals ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften. 
                  
               
               An dieser Stelle folgte in der Fassung von 1856 noch eine längere Passage über die 'Moral der Geschichte', die den Wortlaut hatte:
               
               
                  
                 
                 Was die Sittlichkeit betrifft, so bezweckt diese Erzählung keineswegs, die Tat zu beschönigen und zu verherrlichen; denn höher 
                 als diese verzweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entsagendes Zusammenraffen und ein stilles Leben voll treuer Mühe und Arbeit 
                 gewesen, und da diese die mächtigsten Zauberer sind in Verbindung mit der Zeit, so hätten sie vielleicht noch alles möglich 
                 gemacht; denn sie verändern mit ihrem unmerklichen Einflusse die Dinge, vernichten die Vorurteile, stellen die Ehre her und erneuern 
                 das Gewissen, so daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung ist. 
                 
                
 Was aber die Verwilderung der Leidenschaften angeht, so betrachten 
                 wir diesen und ähnliche Vorfälle, welche alle Tage im niedern Volke vorkommen, nur als ein weiteres Zeugnis, daß dieses 
                 allein es ist, welches die Flamme der kräftigen Empfindung und Leidenschaft nährt und wenigstens die Fähigkeit des Sterbens 
                 für eine Herzenssache aufbewahrt, daß sie zum Troste der Romanzendichter nicht aus der Welt verschwindet. Das gleichgültige 
                 Eingehen und Lösen von 'Verhältnissen' unter den gebildeten Ständen von heute, das selbstsüchtige frivole Spiel mit 
                 denselben, die große Leichtigkeit, mit welcher heutzutage junge Leutchen zu trennen und auseinander zu bringen sind, sind zehnmal 
                 widerwärtiger als jene Unglücksfälle, welche jetzt die Protokolle der Polizeibehörden füllen und ehedem die 
                 Schreibtafeln der Balladensänger füllten. Wir sehen alle Tage etwa einen wohlgekleideten Herrn, der seine Frau oder Braut mitten 
                 auf der Straße plötzlich stehen läßt und auf die Seite springt, weil irgend einem Schlächter eine alte Kuh entsprungen 
                 ist und bedrohlich dahergerannt kommt. Höchstens aus der Ferne, hinter einer Haustür hervor, schwingt er sein Stöckchen 
                 und macht: Bscht! Bscht! Solche Leute werden sich allerdings nicht aus Eigensinn und Leidenschaft ums Leben bringen, wenn man sie trennen will. 
                 Ebensowenig diejenigen, welche in allen Zeitungen ihre 'stattgefundene' Verlobung anzeigen und vierzehn Tage darauf einen Inseratenkrieg 
                 führen, wo jeder Part sich rühmt und behauptet, das 'Verhältnis' zuerst abgebrochen zu haben.
              
 
                 
               Keller widerspricht hier also einerseits der Annahme, dass das Paar sich zwangsläufig habe das Leben nehmen müssen, und 
               er greift andererseits die Leichtfertigkeit an, mit der in den 'gebildeten Ständen' Liebesverhältnisse geknüpft und wieder 
               gelöst würden. Für den 'Inseratenkrieg' um gescheiterte Verlobungen hatte er wahrscheinlich Beispiele aus Berliner Zeitungen 
               vor Augen. Schon kurz nach dem Erscheinen der Novelle erfuhr er allerdings, dass diese Moralpredigt 'allerorts Anstoß erregte'. In einem 
               Brief an Ludmilla Assing vom 21. April 1856 versprach er daher 
                 
                dieselbe wegzulassen, wenn je wieder ein Abdruck nötig würde. Eigentlich war es mehr eine Herausforderung von 
                mir, damit vielleicht irgend eine Hochgebildete empört und gereizt werden möchte, mir selbst das Gegenteil zu beweisen.
               
                
                Als Paul Heyse 1870  anfragte, ob er die Novelle in einen "Deutschen Novellenschatz" aufnehmen dürfte, kam Keller deshalb 
                sogleich auf die beabsichtigte Kürzung zu sprechen:
                
                 
                Die Erzählung leidet nämlich an einer schnöden schnarrenden Schlußbetrachtung. Glücklicher Weise ist dieselbe aus 
                mehreren Schwanzgelenken zusammengesetzt, welche man beliebig abschneiden kann. Ich bitte Sie also, ... entweder nach dem Satze "abermals ein 
                Zeichen der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften" den Schwanz zu kappen, was sich malitiös und 
                ironisch ausnehmen würde; oder den folgenden Absatz noch aufzunehmen und nach den Worten: "so daß die wahre Treue nie 
                ohne Hoffnung ist" abzuschneiden, was dann mehr tugendhaft und wohlmeinend klänge. Sollten Sie wider Erwarten finden, daß die 
                übrige Schlußnergelei doch stehen bleiben sollte (es war eine verjährte Stimmungssache), so können Sie's ganz stehen lassen; ich 
                glaube aber, es ist ein entschieden abfallender Mißklang.
                
          
 
                
                
                Heyse kürzte daraufhin noch radikaler und schloss mit dem Satz von den beiden Gestalten, die fest umschlungen in den Fluten verschwinden.
                Das war Keller dann allerdings doch der Sentimentalität zu viel, und so nahm er bei der Umarbeitung für die zweite Auflage den Absatz 
                über das Urteil der Zeitungen wieder mit auf.