Zur Wirkung allgemein

"Romeo und Julia auf dem Dorfe" wurde schon zu Lebzeiten Kellers die bekannteste seiner Seldwyler
Novellen. Bereits 1875 erschien eine separate Ausgabe davon, und es gab Übersetzungen ins Französische,
Dänische und Italienische. Ebenso früh zeigte sich das Bedürfnis nach einer Illustrierung. Der Basler
Historienmaler Ernst Stückelberg (1831-1903), von Keller hoch geschätzt, präsentierte schon 1867
auf der Pariser Weltausstellung ein Gemälde mit dem Titel "Jugendliebe oder Heimkehr von Sali und
Vrenchen", zu dem eine Nichte Kellers Modell gestanden hatte. 1869 gewann das Bild auf der Internationalen
Kunstausstellung in München die Goldmedaille. Keller erhielt davon 1881 eine Reproduktion
und hängte sie in seiner Züricher Wohnung auf.
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Ernst Stückelberg: Jugendliebe (1867)
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Zu anderen und weiteren Vorhaben dieser Art ging er allerdings auf Distanz. Als ihm der Verleger Ferdinand Weibert
im Februar 1884 eine illustrierte Geschenk-Ausgabe der Novelle vorschlug, antwortete er, dass er ein solches Angebot schon
von einem anderen Verlag erhalten und abgelehnt habe, und fügte hinzu:
... wie ich denn überhaupt für die Zeitrichtung, die Literatur immer mehr an das Schlepptau der Illustration
zu hängen, nicht gerade begeistert bin. Ich fürchte, das große Lesepublikum werde zuletzt das selbsttätige
innere Anschauen poetischer Gestaltung ganz verlernen und nichts mehr zu sehen imstande sein, wenn nicht ein Holzschnitt daneben
gedruckt ist.

Zu dieser Zeit wusste er schon von einem Zyklus großformatiger Bleistift-Zeichnungen des Genremalers Eduard Kurzbauer
(1840-1879), der zu seiner Dorfgeschichte in Wien ausgestellt worden war, fand diese Bilderserie aber auch malerisch ungeeignet.
Weibert beauftragte daraufhin den Berliner Akademie-Professor Paul Thumann mit der Illustrierung, welcher sich jedoch so viel
Zeit ließ, dass das Projekt zu Kellers Erleichterung auf der Strecke blieb.

Keinen Einfluss hatten er und seine Verleger aber auf die übersetzten Ausgaben, da rechtliche Bindungen hier noch nicht
bestanden. So erschien eine erste illustrierte Ausgabe des Werkes 1895 in Paris.
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Die französische Ausgabe von 1895
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Zu weiteren Illustrationen kam es dann aber
erst mit dem Freiwerden der Rechte ab 1919, wenn man von den acht Holzschnitten absieht, die 1917 Ernst Würtenberger
(1868-1934) als Graphikmappe herausgab.
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Ernst Würtenberger: Sali und Vrenchen (1917)
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Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind über 30 illustrierte Ausgaben von "Romeo und Julia auf dem Dorfe" erschienen, davon
die Mehrzahl allerdings nur mit wenig ansehnlichen Schwarz-Weiß-Bildern. Die hier einbezogenen zehn Ausgaben sind insgesamt die
markantesten, nicht nur zeichnerisch, sondern auch in der Originalität der Gestaltung.

Wie nahezu immer im 20. Jahrhundert geht es den Illustratoren allerdings weniger um ein Abbilden
als um die Kennzeichnung des Geschehens in einer bestimmten künstlerischen Sicht. Die Bilder sind deshalb oft zugleich
Deutung und lassen sich von Fall zu Fall auch daraufhin befragen. Sinnvolle Aufgaben lassen sich leicht darin finden, dass zu den
Abbildungen der betreffende Handlungsmoment wiedergegeben und seine Auffassung durch den Zeichner gekennzeichnet
werden muss. Auf didaktisch lohnende Aspekte ist nachfolgend hingewiesen.

Schon 1901 wurde der Stoff der Novelle von dem französischen Komponisten Frederick Delius (1862-1934) vertont. "A Village Romeo
et Juliette" heißt die Oper, die 1907 übersetzt auch nach Deutschland gelangte und seither eine ganze Anzahl von Inszenierungen
erlebt hat, die letzte 1987 am Stadttheater Bern. Die Handlung ist in sechs Akte ('Bilder') gegliedert und folgt - mit den gebotenen Raffungen - dem
Geschehen der Novelle recht genau.

Die nachfolgende Szene spielt in Vrenchens Haus, nachdem Sali deren Vater niedergeschlagen hat.
Ach, die Nacht bricht
herein, die letzte Nacht im alten Haus, singt Vrenchen, und Sali fragt:
Was willst du tun? Wo gehst du hin?
Hinaus in die Welt, antwortet sie, und er erwidert:
Nein, nein, das darf nicht sein, du darfst dich nicht trennen von mir. Wohin
du gehst, ich folge, Vrenchen, Vrenchen, mein Glück.
Eine Aufnahme mit dem Philharmonischen Orchester Kiel unter Klauspeter Seibel mit Eva Cristine Reimer (Sopran) und Karsten
Ruß (Tenor). Cpo 1998.

Ein weiteres Wirkungszeugnis des 20. Jahrhunderts stellen die Verfilmungen dar. Zwei von ihnen werden am Ende dieser Ebene,
unter den Bildern des sechsten Teils, vorgestellt und mit jeweils einem kurzen Szenenausschnitt dokumentiert.
[Erster Teil]

Die Zeichnung von Baumberger zeigt den mittleren Acker noch gewissermaßen unberührt (ohne die von Keller genannten Steine
und Disteln), aber schon einen drohenden Himmel. Die Zeichnung von Rossi ist eine Illustration im Stil des 19. Jahrhunderts und die von Walser
hat etwas von einer humoristischen Idylle.
An einem sonnigen Septembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien dieser Äcker, und zwar auf jedem der beiden
äußersten; der mittlere schien seit langen Jahren brach und wüst zu liegen ...
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Zeichnung von Otto Baumberger (1961)
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Das war ein grünbemaltes Kinderwägelchen, in welchem die Kinder der beiden Pflüger, ein Knabe und
ein kleines Ding von Mädchen, gemeinschaftlich den Vormittagsimbiss heranfuhren.
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Zeichnung von Luigi Rossi (1895)
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Wie nun die Männer mit Behagen ihr Frühstück einnahmen und mit zufriedenem Wohlwollen den Kindern
mitteilten, die nicht von der Stelle wichen, solange gegessen und getrunken wurde ...
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Zeichnung von Karl Walser (1924)
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