[Einleitung]
Wo ist die Hand so zart, dass ohne Irren ...

Trotz seiner altmodisch wirkenden, schwülstigen Form spricht das Einleitungs-Gedicht gerade das für jene Zeit Neue und
sogar Moderne der 'Judenbuche' aus: dass man nämlich das Böse oder das Verbrechen nicht einfach verurteilen, sondern dass
man es zu verstehen bemüht sein soll. Wer in behüteten Verhältnissen aufgewachsen sei ('von frommer Hand gepflegt'), solle sich
erst einmal klar machen, was ein ungeschulter Verstand ('beschränkten Hirnes Wirren'), ärmliche Familienverhältnisse (ein 'arm
verkümmert Sein'), problematische Erbanlagen ('eitlen Blutes Drang') und schlechte Beispiele ('jedes Wort, das unvergessen ...') mit sich bringen
könnten. Dann werde er wohl den Stein ruhen lassen, den er sonst auf einen solchen Täter werfen wollte.

Mit diesem 'Programm' ist die "Judenbuche" ein Werk des Frührealismus, das sich neben Georg Büchners "Woyzeck" oder
Gottfried Kellers "Grünen Heinrich" stellen lässt, ja sogar die naturalistischen Werke Gerhart Hauptmanns im Ansatz schon
enthält. Und wie dieser Inhalt so zu Teilen auch die Form. In ihrer sachlichen, analytisch genauen Behandlung bestimmter westfälischer
Verhältnisse ist die Novelle wirklich das 'Sittengemälde', das der Untertitel ankündigt, so wie sie ja für einen solchen Zusammenhang
ursprünglich auch geplant war (siehe unter
ENTSTEHUNG).

Diese realistische Schicht wird allerdings von einer zweiten, ganz anderen Schicht durchzogen, nämlich von einer Schicht romantischer und
sogar schauerromantischer Elemente. Der Rachespruch der Juden, der Friedrich Mergel 28 Jahre nach seiner Flucht zurück an den Ort seiner
Untat führt, ist ein solches schauerromantisches Element, aber auch die stürmisch-unheimliche Nacht, in der Friedrichs Vater tot
aufgefunden wird, die düsteren Szenen im Brederholz, das Gewitter bei der Entdeckung der Leiche Aarons oder Mergels Selbstmord in
den Tagen des Äquinoktiums gehören dazu.

Ebenso und mehr noch aber weist Annette von Droste-Hülshoffs Erzählweise romantische Momente auf. Den erkenntnissicheren Erzählpartien
über die sozialen Verhältnisse stehen immer wieder verkürzte, verrätselte oder sogar irreführende Mitteilungen über einzelne
Vorgänge gegenüber. Die ganze Anlage der 'Judenbuche' als Kriminalgeschichte hat eine romantische Wurzel, da sie von einem mit seinem Wissen
spielenden und insoweit 'unzuverlässigen' Erzähler herstammt.
Dass diese beiden - im Grunde gegensätzlichen - Tendenzen sich zu einer Einheit zusammenfügen, wird gern behauptet, ist aber ebenso
auch zu bestreiten, von diversen Einzelschwächen, die sich bei näherem Hinsehen zeigen, gar nicht gesprochen.
Doch müssen Werke, um eine Befassung mit ihnen zu lohnen, nicht perfekt sein, es genügt, dass sie aufschlussreich sind.
In dieser Hinsicht verspricht aber gerade die Zweiseitigkeit der Novelle, also ihr realistischer Kern und seine romantische Einkleidung, interessante
Befunde. Zu ihrer Erschließung führen im Wesentlichen zwei Aufgaben:

1. für die beiden Verbrechen aufzuhellen,
was der
Wahrscheinlichkeit nach geschehen ist;

2. für Friedrich Mergel aufzuhellen,
warum es geschehen ist. Hier aber sind zu unterscheiden rationale Ursachen wie Friedrichs
Charakter und sein familiäres Milieu und eine irrationale Ursache zu nennen Schicksal oder Bestimmung.
Die nachfolgende Kommentierung gilt vor allem diesen Aspekten.
[Erster Teil]
Denn wer nach seiner Überzeugung handelt, und sei sie noch so mangelhaft, kann nie ganz zugrunde gehen, wogegen nichts
seelentötender wirkt, als gegen das innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch nehmen.
Mit diesem Urteil fasst die Erzählerin die ganze Problematik der Entwicklung Friedrich Mergels im Voraus zusammen. Bis zu dem Zeitpunkt,
wo Friedrich den Förster einen falschen Weg schickt, handelt er noch in Übereinstimmung mit seiner Überzeugung, danach aber, als er
den Anscheinsbeweis seiner Unschuld als äußeres Recht für sich in Anspruch nimmt, geht es mit seiner
Moral bergab.
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Margreth Semmler war eine brave, anständige Person, ... und so musste es jedem unbegreiflich sein, was sie zu diesem Schritte
getrieben. Wir glauben den Grund eben in dieser ihrer selbstbewussten Vollkommenheit zu finden.
Das hochmütige Selbstbewusstsein der Mutter findet sich auch bei ihrem Sohn Friedrich, d.h. er hat es von ihr und wird deshalb
seine Möglichkeiten ebenso überschätzen wie sie. Bereits seine Erbanlagen sind also an seiner unglücklichen Entwicklung mit schuld.
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Sie hatten sich kaum niedergelegt, so erhob sich eine Windsbraut, als ob sie das Haus mitnehmen wollte. Die Bettstatt bebte, und im Schornstein
rasselte es wie ein Kobold.
Die über vier Absätze ausgedehnte Beschreibung der unheimlichen Nacht ist unverkennbar ein Schauer-Element. Sie ist weder für die
Handlung noch für die Lebenserfahrung der beiden Wartenden von besonderer Bedeutung, es hätte ebenso einfach mitgeteilt werden
können, dass eines Nachts Friedrichs Vater tot im Brederholz aufgefunden wurde. Die Feststellung
"Da bringen sie mir das Schwein wieder!"
zieht unter die ganze Unheimlichkeits-Atmosphäre ja auch einen drastischen Schlussstrich.
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"Er hat neulich den Aaron geprügelt und ihm sechs Groschen genommen." - "Hat er dem Aaron Geld genommen, so hat
ihn der verfluchte Jude gewiss zuvor darum betrogen ..."
Das allgemeine Vorurteil gegen die Juden war zu jener Zeit noch allein religiös begründet: sie hatten 'Christus ans Kreuz geschlagen' und waren
damit die Urfeinde des Christentums. Friedrich Mergel erfährt früh, dass man den Juden ungestraft Gewalt antun darf; denn wenn jemand
einen Juden verprügelt und ihm dabei lächerliche sechs Groschen wegnimmt, so wird ihn natürlich der Jude nicht zuvor
um dieses Geld betrogen haben. Vielmehr dürfte es um eine Meinungsverschiedenheit wegen einer verkauften Ware gegangen sein, die aber
üblicherweise nicht per Faustrecht entschieden werden durfte.
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"Höre, Fritz, das Holz lässt unser Herrgott frei wachsen, und das Wild wechselt aus eines Herren Lande in das andere; die
können niemand angehören. Doch das verstehst du noch nicht ..."
Der Gedanke, dass der Wald und das Wild allen gehören, leuchtet als Rechtfertigung für das Handeln der Bauern so unmittelbar ein, dass ihn
jedes Kind - also auch Friedrich - versteht, und so hat er bald auch keine Skrupel, bei den Holzdiebstählen dabei zu sein.
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Es war ihm äußerst empfindlich, wenn, solange er Kind war, jemand des Verstorbenen nicht allzu löblich gedachte; ein
Kummer, den ihm das Zartgefühl der Nachbarn nicht ersparte. ... Der alte Mergel war das Gespenst des Brederholzes geworden.
Die Hänseleien wegen seines Vaters machen Friedrich Mergel zum Außenseiter und heizen sein Geltungsbedürfnis zusätzlich an.