.:Forschungsschwerpunkte



FORSCHUNGSINTERESSEN

  • Zeitgeschichte Europas, insbesondere deutsche und russische Geschichte
  • Sowjetisierung Mittel- und Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg
  • Symbolische Politik und Führerkulte; Ikonoklasmus und Gewalt
  • Populäre Wahrnehmung politischer Ideologien und kommunistischer/sozialistischer Systeme
  • Geschichte der Emotionen, Vertrauen und Misstrauen in der Geschichte
  • Geschichte der Psychiatrie und des Alltagslebens unter dem Kommunismus
  • Vormoderne Grundlagen moderner Staaten und Subjektivitäten

Laufende Projekte:


Transnationale Subjektivitäten im globalen Konflikt: individuelle Räume und kommunikative Netzwerke während des ‚Kalten Krieges‘ (1945–1991)

(Ein Kooperationsprojekt mit der Staatlichen Pädagogischen Universität Jaroslavl, Russland)

Die Dominanz traditioneller Ansätze der Politik-, Militär- und Diplomatiegeschichte in der Erforschung des ‚Kalten Krieges‘ führte dazu, dass die Bedeutung des Individuums im globalen Konflikt der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend unerforscht blieb. Die aktuelle Neubewertung des ‚Kalten Krieges‘ als ein einzigartiger und dynamischer Raum der transnationalen Kommunikation ermöglicht es uns, von der Historiographie zuvor kaum berücksichtigte ‚kleine Leute‘ in den Fokus zu nehmen. Die gegenwärtige Forschungslandschaft bezeugt die Notwendigkeit einer Überprüfung der Hypothese, dass eben die ‚kleinen Menschen‘ zur Integration des globalen Konfliktes in den Alltag und in lokale Lebenswelten beitrugen und dabei hybride Identitäten schufen, Netzwerke und Gemeinschaften formierten, die durch ein Geflecht von ideologischen, intellektuellen, emotionalen, professionellen und familiären Bindungen gekennzeichnet waren. Unsere Gruppe plant Modelle, Räume und Praktiken der translokalen Subjektivitätsbildung zu untersuchen. Es wird angenommen, dass sie ein Resultat der Reflexion gewöhnlicher Subjekte über sich selbst im Rahmen der globalen Konfrontation von Kapitalismus und Sozialismus einerseits, sowie den steigenden Möglichkeiten der Mobilität, Kommunikation, und Zugang zu Informationen andererseits war. Das Leben einer Vielzahl von Akteuren — Experten, Wissenschaftler, Ärzte, Schriftsteller, Regisseure, Sportler, Musiker, Journalisten, Touristen, Seemänner und andere ‚normale Menschen‘ — die staatliche und symbolische Grenzen überwanden, personifizierten den globalen Konflikt. Neben der Absicht die bestehende Forschung in der Geschichtsschreibung zu theoretisieren und zu systematisieren, haben wir uns die Aufgabe gestellt, die Geschichte des ‚Kalten Krieges‘ von unten zu schreiben. Dafür sollen die individuellen Dimensionen des globalen Konfliktes rekonstruiert werden: die Erfahrungen der alltäglichen Interaktionen der ‚kleine Leute‘, ihre Mobilität, Körperlichkeit und Emotionalität, die Zirkulation von Wissen, Ideen, Objekten und Kapitalen zwischen der ‚Ersten‘, ‚Zweiten‘ und ‚Dritten Welt‘ aus der Perspektive der entangled history.



Erzwungenes Vertrauen: Emotionale Bindungen zwischen Bevölkerung und Staat in Sowjetrussland (1917-1991), Geschichte des Vertrauens und Mißtrauens

Vertrauen ist ein essentieller Bestandteil des menschlichen Lebens und fundamental für das Funktionieren moderner, komplexer Gesellschaften. Nicht nur Demokratien, sondern auch Diktaturen wie der sowjetische Staat und autoritäre Regime wie die sozialistischen Gesellschaften im Nachkriegseuropa brauchten Vertrauen als entscheidenden Beitrag zur sozialen Integration und zur Stabilität der politischen Ordnung. Aber wie viel Vertrauen benötigte eine Diktatur, um die Lebensfähigkeit des Regimes sicherzustellen? Wie schuf der Propagandastaat das Vertrauen, welches er brauchte, um sich zu legitimieren? Wie erlebte die Bevölkerung Vertrauen und Misstrauen in den Wirren des Alltags? Die Antworten auf diese Fragen sind wichtig, um die Probleme zu verstehen, die beim demokratischen Wandel in postkommunistischen Ländern auftreten, und zu erklären, wie heutzutage neoautoritäre Systeme entstehen. Mein Projekt, eine Kulturgeschichte von Vertrauen und Misstrauen im sowjetischen Russland in den Jahren 1917-1991, ist eine historische Untersuchung mit dem Ziel, die die Rollen von Vertrauen / Misstrauen als emotionale Stützen bei der Organisation des sowjetischen Staates und der sowjetischen Gesellschaft zu verdeutlichen. Meine These lautet, dass der sowjetische Staat den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch das paradoxe Prinzip des erzwungenen Vertrauens bewahrte: die Ineffizienz der Bürokratie gab der Bevölkerung ein Gefühl der Wehrlosigkeit, was sie dazu veranlasste, offiziellen Institutionen zu misstrauen und sich Netzwerken erzwungenen Vertrauens anzuschließen. Diese Netzwerke wurden von lokalen Patronen geleitet, welche unter dem vollständigen Schutz der Staatsspitze standen. Im Ergebnis wurde erzwungenes Vertrauen ein Charakteristikum der kommunistischen Moderne: der Anstieg des generalisierten Misstrauens war die grundlegende Voraussetzung, um obligatorisches Vertrauen in die bolschewistische Partei und den sowjetischen Staat zu bilden.



„Telefone des Vertrauens“: Selbstmord, Telefonseelsorge und empathische Moderne in Los Angeles, Berlin und Moskau (1950er-2000er)

Selbstmordprävention ist eines der großen Anliegen der Moderne. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betrachtet die Statistiken von Suizidraten als Spiegel der mentalen Gesundheit einer Nation. Als Reaktion auf die akute Nachfrage nach emotionaler Unterstützung für (selbstmordgefährdete) Menschen in komplizierten Lebenssituationen entstanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Sorgentelefone – „Telefone des Vertrauens“ – als moderne Institutionen der Empathie. Sie wurden zu den intimsten Kommunikationskanälen für gewöhnliche Menschen. So konnten sie über ihre schwierigen, privaten Umstände sprechen und bei Bedarf um Hilfe bitten, ohne ideologische, religiöse, politische, geschlechtsspezifische oder nationale Vorannahmen. „Telefone des Vertrauens“ ließen die Stimmen der marginalen Akteure nachhallen und sensibilisierten so auch die Öffentlichkeit bezüglich tabuisierter Probleme und unkonventioneller Themen. In diesem Projekt wird die Etablierung einer empathischen Moderne am Beispiel der ersten Sorgentelefone in Los Angeles, Berlin und Moskau untersucht. An der Schnittstelle der Kultur-, Emotions-, Medien- und Wissenschaftsgeschichte erforscht das Projekt den Einfluss der Telefonseelsorge auf die Dynamik der politischen, sozialen, normativen und geschlechtsspezifischen Ordnungen. Es arbeitet die Rolle heraus, die unsichtbaren Ressourcen wie Empathie/Indifferenz und Vertrauen/Misstrauen in der Bindung des modernen Subjekts an Gesellschaft und Staat zukommt, und es deckt die Funktionsweise von „grauen Zonen“ und „verborgenen Erfahrungen“ des Alltags in modernen Metropolen auf.