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I.G. Farben. Das Ende

Der Farben-Trust war in der Nazizeit das größte Unternehmen Europas. Seit 1945 wird abgewickelt. Bis zur Pleite.

von Werner Abelshauser, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16. November 2003, S. 47.

 

Die Zerschlagung der I.G. Farbenindustrie AG stand für die Alliierten 1945 ganz oben auf der Liste der Kriegsziele. Die Sieger hielten den 1925 aus der Fusion der wichtigsten deutschen Chemieproduzenten enstandenen Farben-Trust für ebenso effizient wie gefährlich. Aus dem geschätzten Geschäftspartner amerikanischer Multis war Hitlers willigster und wichtigster Rüstungskonzern geworden. Es dauerte acht Jahre, bis der Konzern entflochten und der Großteil des I.G.-Vermögens auf 12 Nachfolgefirmen aufgeteilt war. Der schäbige Rest sollte in der I.G.-Farbenindustrie AG i. A. (in Abwicklung) unter der Kontrolle der Alliierten alsbald liquidiert werden.

Doch es kam anders: Totgesagte leben länger. Alle Jahre wieder zur Hauptversammlungszeit erinnerte der untote Restkonzern gespenstisch an Deutschland NS-Vergangenheit. Es waren nicht nur Phantomschmerzen, die von der Frankfurter Resteverwertung ausstrahlten. In erster Linie bemühten sich die Liquidatoren, das noch im Ausland beschlagnahmte I.G.-Vermögen zu mobilisieren. Mit dem Erlös aus Immobilien und Beteiligungen sollten zunächst die Ansprüche der Gläubiger der I.G. befriedigt werden. Etwaige Überschüsse standen den Nachfolgefirmen zu. Der Rechtsstreit über das Auslangsvermögen, der allerorten einsetzte, zog sich in die Länge und ließ die I.G. Farbenindustrie AG i.A. bald wider Erwarten zu einer dauerhaften Einrichtung des westdeutschen Wirtschaftslebens werden.

Die schiere Existenz eines I.G.-Merkpostens in der wirtschaftlichen Schlußbilanz des Dritten Reiches erfüllte aber auch andere Funktionen, so daß der Ruf nach rascher und vollständiger Liquidierung des I.G.-Restvermögens nicht allzu laut wurde. Für die Nachfolgefirmen des Chemietrusts diente die I.G. Farbenindustrie AG i.A. als eine Art von Blitzableiter, der Ansprüche auf Wiedergutmachung von Schäden von den prosperierenden Erben in Ludwigshafen, Leverkusen und Frankfurt-Höchst fernhielt.

Solche Ansprüche erhoben in erster Linie Zwangsarbeiter, die die I.G. Farben während des Krieges in großer Zahl beschäftigt hatte. 23 Spitzenmanager des Konzerns mußten sich 1948 vor dem amerikanischen Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg gegen ungeheuerliche Vorwürfen zur Wehr setzen. Während der Vorwurf der Ausbeutung von Zwangsarbeitern nahezu alle deutschen Rüstungsunternehmen traf, ging es im Fall der I.G. Farben um mehr: Sie sollte nicht nur verantwortlich für den Tod Tausender Arbeiter sein, die in Monowitz unweit von Auschwitz für den Konzern ein neues Werk errichteten. Mehr noch: Die I.G. Farben sahen sich mit der Anklage konfrontiert, über eine Beteiligung an der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung (Degesch) auch noch das Gas Zyklon B produziert zu haben, das die SS in Auschwitz zur Ermordung jüdischer Häflinge mißbraucht hatte.

Das Sondergericht hielt es freilich für erwiesen, daß die I.G. "eine menschenunwürdige Behandlung der Arbeiter nicht beabsichtigt oder vorsätzlich gefördert hat" und sprach den Konzern auch von der Anklage frei, "um den verbrecherischen Zweck" gewußt zu haben, dem das Gas zugeführt wurde. Zyklon B wurde seit langem in ganz Europa erfolgreich zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt und erwies sich zur Bekämpfung von Seuchen überall dort ganz unverzichtbar, wo Menschen ohne hinreichende sanitären Anlagen in Lagern zusammengepfercht wurden. Es erschien dem Gericht deshalb plausibel, daß das Gas gerade auch in der weitverzweigten Lagerwelt des NS-Regimes eingesetzt wurde, ohne daß die I.G.-Mitglieder im Aufsichtsrat der Degesch Verdacht auf mörderischen Mißbrauch schöpfen mußten.

Dagegen machte das Nürnberger Tribunal einzelne Manager der I.G. sehr wohl dafür verantwortlich, aus eigener Initiative das Zwangsarbeitssystem des Regimes unterstützt zu haben und sprach 13 der Angeklagten schuldig. Dem schloß sich 1953 das Frankfurter Landgericht an, vor dem der ehemalige Zwangsarbeiter Norbert Wollheim die I.G. Farben i. A. auf Schadensersatz verklagte. Das Gericht hielt es für erwiesen, daß Angestellte der I.G. ihre Fürsorgepflicht fahrlässig verletzt hätten und sprach Wollheim eine Entschädigung von 10.000 DM zu. Um einen Präzedenzfall zu vermeiden, gingen die Liquidatoren durch die Instanzen, bevor sie 1957 mit der Jewish Claims Agency einen Vergleich schlossen. Sie zahlten mehr als 30 Millionen DM an 7.655 Zwangsarbeiter und ließen sich die Zusicherung geben, daß damit weitere Ansprüche gegen die I.G. Farben entfielen. Andere westdeutsche Unternehmen, die wie Krupp, AEG oder Siemens am Weltmarkt operierten, schlossen sich dem Vergleich an und zahlten ihren ehemaligen jüdischen Zwangsarbeitern jeweils 5.000 DM.

Anziehungskraft übte die Rest-I.G. aber auch auf Spekulanten aus, die in den Liquidationsanteilscheinen der I.G. die Chance auf ein Schnäppchen sahen. Lange Zeit blieb nämlich unklar, ob es den Frankfurter Konzernabwicklern gelingen würde, Vermögenswerte der I.G., die bei Kriegsende im Ausland lagen, zurückzugewinnen. So hatte der Konzern während des Krieges seine amerikanische Tochterfirma General Aniline&Film Corp. (GAF) "verschweizert" und gehofft, sie in der Tarnung einer eidgenössischen Tochtergesellschaft über den Krieg hinwegretten zu können. In der Tat gelang es einer früheren Schweizer Tochter, Anfang der sechziger Jahre 122 Millionen Dollar durch Vergleich zurückzugewinnen. Sie weigerte sich jedoch, die I.G. Farben i. A. am Erlös zu beteiligen. Erst 1988 endete der Rechtsstreit mit einer Niederlage der Frankfurter Liquidatoren.

Noch einmal gerieten die Aktionäre der I.G. Farbenindustrie i. A. in Hochstimmung, als der Zusammenbruch der DDR die Aussicht eröffnete, auf das dort gelegene I.G.-Vermögen zuzugreifen. Sie zogen jedoch erneut den Kürzeren, weil sich die Bundesregierung weigerte, Vermögenswerte, die zwischen 1945 und 1949 von den Sowjets enteignet wurden, an die Eigentümer zu restituieren. Bis dahin lagen über 90 % der Liquidationsanteilscheine der I.G. im Streubesitz kleiner Aktionäre, die ein Kuriosum des deutschen Nachkriegsaktienmarktes in Händen hielten. Die Liquidationsanteilscheine im Gesamtbetrag von 1,36 Milliarden Reichsmark wurden zwar an sämtlichen deutschen Börsen im amtlichen Verkehr gehandelt, waren aber gar nicht erst auf Deutsche Mark umgestellt worden, weil sich dies wegen der unmittelbar bevorstehenden Liquidation der Firma nicht zu lohnen schien. Für die Anleger blieb dies jedoch ohne Bedeutung. Sie nahmen an den sporadischen Ausschüttungen des Unternehmens im Verhältnis der nominellen Reichsmarkbeträge ihrer Anteile teil.

Nachdem das Papier seinen Appeal ans breite Publikum weitgehend verloren hatte, wurde es immer mehr zum Spielball dubioser Insiderinteressen. 1993 löste sich die WCM Beteiligungs- und Grundbesitz-AG, Heidenheim/Brenz aus der I.G. Farben i. A. Sie übernahm zeitweise einen Aktienanteil von 46 % und profitierte am meisten von einer Barausschüttung der Rest-I.G. in Höhe von 9,60 DM je RM 100 Anteil, die noch mit einem jeweiligen Steuerguthaben von 5,40 DM verbunden war. Damit scholz das Vermögen der I-G. Farben i. A. von rund 80 auf 13 Millionen Euro.

Noch einmal, Ende der neunziger Jahre, geriet die Nachlaßverwaltung des einst größten europäischen Unternehmens ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Die Vorwürfe jüdischer Anlager und Sparer gegen in ihren Augen untreue Schweizer Banken ließen erneut Forderungen nach Entschädigungsleistungen für Zwangsarbeiter der I.G. Farben aufkommen. Das Frankfurter Unternehmen stellte sich unter der Leitung neuer Liquidatoren dieser Herausforderung und versprach 1999 die Anlage eines Stiftungskapitals in Höhe von 3 Millionen DM, aus dessen Erlöse erneut Entschädigungen gezahlt werden sollten. Bisher wurden freilich erst wenig mehr als 250000 Euro eingezahlt und die Aussicht, daß das Stiftungsvermögen noch wachsen könnte, ist äußerst gering. Nachdem die WCM von einer früheren Absichtserklärung abrückte, 2004 den restlichen Immobilienbestand der I.G. zum angeblich vereinbarten Preis zu übernehmen, mußten die Liquidatoren am 10. November den Gang zum Konkursrichter antreten. Damit scheint die Liquidierung der I.G. Farben 78 Jahre nach Gründung des Trusts bevorzustehen.

Und doch spiegelt sich in der Frankfurter Pleite nicht das Ende einer Epoche deutscher Industriegeschichte wider. In der I.G. Farbenindustrie AG i.A. verlängerte sich die in vielen Facetten schillernde Geschichte der I.G. Farben nur noch als Farce. Auch die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter muß unter dem Bankrott nicht leiden. Sie wird von der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft garantiert, an deren Zustandekommen die I.G. Farben-Nachfolger führend beteiligt waren.