Effi und die Geheimrätin Zwicker waren seit fast drei Wochen
in Ems und bewohnten daselbst das Erdgeschoss einer reizenden
kleinen Villa. In ihrem zwischen ihren zwei Wohnzimmern gelegenen
gemeinschaftlichen Salon mit Blick auf den Garten stand ein Polysanderflügel,
auf dem Effi dann und wann eine Sonate, die Zwicker dann und wann
einen Walzer spielte; sie war ganz unmusikalisch und beschränkte
sich im wesentlichen darauf, für Niemann als Tannhäuser
zu schwärmen.
Es war ein herrlicher Morgen; in dem kleinen Garten zwitscherten
die Vögel, und aus dem angrenzenden Hause, drin sich ein
'Lokal' befand, hörte man trotz der frühen
Stunde bereits das Zusammenschlagen der Billardbälle. Beide
Damen hatten ihr Frühstück nicht im Salon selbst, sondern
auf einem ein paar Fuß hoch aufgemauerten und mit Kies bestreuten
Vorplatz eingenommen, von dem aus drei Stufen nach dem Garten
hinunterführten; die Markise ihnen zu Häupten war
aufgezogen, um den Genuss der frischen Luft in nichts zu
beschränken, und sowohl Effi wie die Geheimrätin waren
ziemlich emsig bei ihrer Handarbeit. Nur dann und wann wurden
ein paar Worte gewechselt.
»Ich begreife nicht«, sagte Effi, »dass ich
schon seit vier Tagen keinen Brief habe; er schreibt sonst täglich.
Ob Annie krank ist? Oder er selbst?«
Die Zwicker lächelte: »Sie werden erfahren, liebe Freundin,
dass er gesund ist, ganz gesund.«
Effi fühlte sich durch den Ton, in dem dies gesagt wurde,
wenig angenehm berührt und schien antworten zu wollen, aber
in eben diesem Augenblicke trat das aus der Umgegend von Bonn stammende
Hausmädchen, das sich von Jugend an daran gewöhnt hatte,
die mannigfachsten Erscheinungen des Lebens an Bonner Studenten
und Bonner Husaren zu messen, vom Salon her auf den Vorplatz hinaus,
um hier den Frühstückstisch abzuräumen. Sie hieß
Afra.
»Afra«, sagte Effi, »es muss doch schon neun
sein; war der Postbote noch nicht da?«
»Nein, noch nicht, gnäd'ge Frau.«
»Woran liegt es?«
»Natürlich an dem Postboten; er ist aus dem Siegen'schen
und hat keinen Schneid. Ich hab's ihm auch schon gesagt, das sei
die 'reine Lodderei'. Und wie ihm das Haar sitzt; ich glaube,
er weiß gar nicht, was ein Scheitel ist.«
»Afra, Sie sind mal wieder zu streng. Denken Sie doch: Postbote,
und so Tag aus Tag ein bei der ewigen Hitze ...«
»Ist schon recht, gnäd'ge Frau. Aber es gibt doch andere,
die zwingen's; wo's drin steckt, da geht es auch.« Und während
sie noch so sprach, nahm sie das Tablett geschickt auf ihre fünf
Fingerspitzen und stieg die Stufen hinunter, um durch den Garten
hin den näheren Weg in die Küche zu nehmen.
»Eine hübsche Person«, sagte die Zwicker. »Und
so quick und kasch, und ich möchte fast sagen von einer
natürlichen Anmut. Wissen Sie, liebe Baronin, dass mich
diese Afra ... übrigens ein wundervoller Name, und es soll sogar eine heilige
Afra gegeben haben, aber ich glaube nicht, dass unsere davon
abstammt...«
»Und nun, liebe Geheimrätin, vertiefen Sie sich wieder
in Ihr Nebenthema, das diesmal Afra heißt, und vergessen
darüber ganz, was Sie eigentlich sagen wollten ...«
»Doch nicht, liebe Freundin, oder ich finde mich wenigstens
wieder zurück. Ich wollte sagen, dass mich diese Afra
ganz ungemein an die stattliche Person erinnert, die ich in Ihrem
Hause ...«
»Ja, Sie haben Recht. Es ist eine Ähnlichkeit da. Nur
unser Berliner Hausmädchen ist doch erheblich hübscher
und namentlich ihr Haar viel schöner und voller. Ich habe
so schönes flachsenes Haar, wie unsere Johanna hat, überhaupt
noch nicht gesehen. Ein bisschen davon sieht man ja wohl,
aber solche Fülle ...«
Die Zwicker lächelte. »Das ist wirklich selten, dass
man eine junge Frau mit solcher Begeisterung von dem flachsenen
Haar ihres Hausmädchens sprechen hört. Und nun auch
noch von der Fülle! Wissen Sie, dass ich das rührend
finde? Denn eigentlich ist man doch bei der Wahl der Mädchen
in einer beständigen Verlegenheit. Hübsch sollen sie
sein, weil es jeden Besucher, wenigstens die Männer, stört,
eine lange Stakete mit griesem Teint und schwarzen Rändern
in der Türöffnung erscheinen zu sehen, und ein wahres
Glück, dass die Korridore meistens so dunkel sind. Aber
nimmt man wieder zuviel Rücksicht auf solche Hausrepräsentation
und den sogenannten ersten Eindruck, und schenkt man wohl gar
noch einer solchen hübschen Person eine weiße Tändelschürze
nach der andern, so hat man eigentlich keine ruhige Stunde mehr
und fragt sich, wenn man nicht zu eitel ist und nicht zu viel
Vertrauen zu sich selber hat, ob da nicht Remedur geschaffen werden
müsse. Remedur war nämlich ein Lieblingswort von Zwicker,
womit er mich oft gelangweilt hat; aber freilich, alle Geheimräte
haben solche Lieblingsworte.«
Effi hörte mit sehr geteilten Empfindungen zu. Wenn die Geheimrätin
nur ein bisschen anders gewesen wäre, so hätte
dies alles reizend sein können, aber da sie nun mal war,
wie sie war, so fühlte sich Effi wenig angenehm von dem berührt,
was sie sonst vielleicht einfach erheitert hätte.
»Das ist schon recht, liebe Freundin, was Sie da von den
Geheimräten sagen. Innstetten hat sich auch dergleichen angewöhnt,
lacht aber immer, wenn ich ihn darauf hin ansehe, und entschuldigt
sich hinterher wegen der Aktenausdrücke. Ihr Herr Gemahl
war freilich schon länger im Dienst und überhaupt wohl
älter ...«
»Um ein Geringes«, sagte die Geheimrätin spitz
und ablehnend.
»Und alles in allem kann ich mich in Befürchtungen,
wie Sie sie aussprechen, nicht recht zurechtfinden. Das, was man
gute Sitte nennt, ist doch immer noch eine Macht ...«
»Meinen Sie?«
»... Und ich kann mir namentlich nicht denken, dass es gerade
Ihnen, liebe Freundin, beschieden gewesen sein solle, solche Sorgen
und Befürchtungen durchzumachen. Sie haben, Verzeihung, dass
ich diesen Punkt hier so offen berühre, gerade das, was die
Männer einen 'Charme' nennen, Sie sind heiter, fesselnd,
anregend und, wenn es nicht indiskret ist, so möcht ich angesichts
dieser Ihrer Vorzüge wohl fragen dürfen, stützt
sich das, was Sie da sagen, auf allerlei Schmerzliches, das Sie
persönlich erlebt haben?«
»Schmerzliches?«, sagte die Zwicker. »Ach, meine
liebe, gnädigste Frau, Schmerzliches, das ist ein zu großes
Wort, auch dann noch, wenn man vielleicht wirklich manches erlebt
hat. Schmerzlich ist einfach zu viel, viel zu viel. Und dann hat
man doch schließlich auch seine Hilfsmittel und Gegenkräfte.
Sie dürfen dergleichen nicht zu tragisch nehmen.«
»Ich kann mir keine rechte Vorstellung von dem machen, was
Sie anzudeuten belieben. Nicht, als ob ich nicht wüsste,
was Sünde sei, das weiß ich auch; aber es ist doch
ein Unterschied, ob man so hineingerät in allerlei schlechte
Gedanken oder ob einem derlei Dinge zur halben oder auch wohl
zur ganzen Lebensgewohnheit werden. Und nun gar im eigenen Hause ...«
»Davon will ich nicht sprechen, das will ich nicht so direkt
gesagt haben, obwohl ich, offen gestanden, auch nach dieser Seite
hin voller Misstrauen bin, oder, wie ich jetzt sagen muss,
war; denn es liegt ja alles zurück. Aber da gibt es Außengebiete.
Haben Sie von Landpartien gehört?«
»Gewiss. Und ich wollte wohl, Innstetten hätte
mehr Sinn dafür ...«
»Überlegen Sie sich das, liebe Freundin. Zwicker saß
immer in Saatwinkel. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn ich das Wort
höre, gibt es mir noch jetzt einen Stich ins Herz. Überhaupt
diese Vergnügungsörter in der Umgegend unseres lieben, alten
Berlin! Denn ich liebe Berlin trotz alledem. Aber schon die bloßen
Namen der dabei in Frage kommenden Ortschaften umschließen
eine Welt von Angst und Sorge. Sie lächeln. Und doch, sagen
Sie selbst, liebe Freundin, was können Sie von einer großen
Stadt und ihren Sittlichkeitszuständen erwarten, wenn Sie
beinah unmittelbar vor den Toren derselben (denn zwischen Charlottenburg
und Berlin ist kein rechter Unterschied mehr) auf kaum tausend
Schritte zusammengedrängt einem Pichelsberg, einem Pichelsdorf
und einem Pichelswerder begegnen. Dreimal Pichel ist zuviel. Sie
können die ganze Welt absuchen, das finden Sie nicht wieder.«
Effi nickte.
»Und das alles«, fuhr die Zwicker fort, »geschieht
am grünen Holze der Havelseite. Das alles liegt nach Westen
zu, da haben Sie Kultur und höhere Gesittung. Aber nun gehen
Sie, meine Gnädigste, nach der andern Seite hin, die Spree
hinauf. Ich spreche nicht von Treptow und Stralau, das sind Bagatellen,
Harmlosigkeiten, aber wenn Sie die Spezialkarte zur Hand nehmen
wollen, da begegnen Sie neben mindestens sonderbaren Namen wie
Kiekebusch, wie Wuhlheide - Sie hätten hören sollen,
wie Zwicker das Wort aussprach - Namen von geradezu brutalem Charakter,
mit denen ich Ihr Ohr nicht verletzen will. Aber natürlich
sind das gerade die Plätze, die bevorzugt werden. Ich hasse
diese Landpartien, die sich das Volksgemüt als eine Kremserpartie
mit 'Ich bin ein Preuße' vorstellt, in Wahrheit aber schlummern
hier die Keime einer sozialen Revolution. Wenn ich sage soziale
Revolution, so meine ich natürlich moralische Revolution,
alles andere ist bereits wieder überholt, und schon Zwicker
sagte mir noch in seinen letzten Tagen: 'Glaube mir, Sophie, Saturn
frisst seine Kinder.' Und Zwicker, welche Mängel und
Gebrechen er haben mochte, das bin ich ihm schuldig, er war ein
philosophischer Kopf und hatte ein natürliches Gefühl
für historische Entwicklung ... Aber ich sehe, meine liebe
Frau von Innstetten, so artig sie sonst ist, hört nur noch
mit halbem Ohr zu; natürlich, der Postbote hat sich drüben
blicken lassen, und da fliegt denn das Herz hinüber und nimmt
die Liebesworte vorweg aus dem Brief heraus ... Nun, Böselager,
was bringen Sie?«
Der Angeredete war mittlerweile bis an den Tisch herangetreten
und packte aus: mehrere Zeitungen, zwei Friseuranzeigen und zuletzt
auch einen großen eingeschriebenen Brief an Frau Baronin
von Innstetten, geb. von Briest.
Die Empfängerin unterschrieb, und nun ging der Postbote wieder.
Die Zwicker aber überflog die Friseuranzeigen und lachte
über die Preisermäßigung von Shampooing.
Effi hörte nicht hin; sie drehte den ihrerseits empfangenen
Brief zwischen den Fingern und hatte eine ihr unerklärliche
Scheu, ihn zu öffnen. Eingeschrieben und mit zwei großen
Siegeln und ein dickes Kuvert. Was bedeutete das? Poststempel:
»Hohen-Cremmen«, und die Adresse von der Handschrift
der Mutter. Von Innstetten, es war der fünfte Tag, keine
Zeile.
Sie nahm eine Stickschere mit Perlmuttergriff und schnitt die
Längsseite des Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer
eine neue Überraschung. Der Briefbogen, ja, das waren eng
beschriebene Zeilen von der Mama, darin eingelegt aber waren Geldscheine
mit einem breiten Papierstreifen drum herum, auf dem mit Rotstift,
und zwar von des Vaters Hand, der Betrag der eingelegten Summe
verzeichnet war. Sie schob das Konvolut zurück und begann
zu lesen, während sie sich in den Schaukelstuhl zurücklehnte.
Aber sie kam nicht weit, die Zeilen entfielen ihr, und aus ihrem
Gesicht war alles Blut fort. Dann bückte sie sich und nahm
den Brief wieder auf.
»Was ist Ihnen, liebe Freundin? Schlechte
Nachrichten?«
Effi nickte, gab aber weiter keine Antwort
und bat nur, ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. Als sie getrunken,
sagte sie: »Es wird vorübergehen, liebe Geheimrätin,
aber ich möchte mich doch einen Augenblick zurückziehen
... Wenn Sie mir Afra schicken könnten.«
Und nun erhob sie sich und trat in den Salon zurück, wo sie
sichtlich froh war, einen Halt gewinnen und sich an dem Polysanderflügel
entlangfühlen zu können. So kam sie bis an ihr nach
rechts hin gelegenes Zimmer, und als sie hier tappend und suchend
die Tür geöffnet und das Bett an der Wand gegenüber
erreicht hatte, brach sie ohnmächtig zusammen.
