Am andern Abend, wie verabredet, reiste Innstetten. Er benutzte
denselben Zug, den am Tag vorher Wüllersdorf benutzt hatte,
und war bald nach fünf Uhr früh auf der Bahnstation,
von wo der Weg nach Kessin links abzweigte. Wie immer, so lange
die Saison dauerte, ging auch heute gleich nach Eintreffen des
Zuges das mehrerwähnte Dampfschiff, dessen erstes Läuten
Innstetten schon hörte, als er die letzten Stufen der vom
Bahndamm hinabführenden Treppe erreicht hatte. Der Weg bis
zur Anlegestelle war keine drei Minuten; er schritt darauf zu
und begrüßte den Kapitän, der etwas verlegen war,
also im Laufe des gestrigen Tages von der ganzen Sache schon gehört
haben musste, und nahm dann seinen Platz in der Nähe
des Steuers. Gleich danach löste sich das Schiff vom Brückensteg
los; das Wetter war herrlich, helle Morgensonne, nur wenig Passagiere
an Bord. Innstetten gedachte des Tages, als er mit Effi, von der
Hochzeitsreise zurückkehrend, hier am Ufer der Kessine hin
in offenem Wagen gefahren war - ein grauer Novembertag damals, aber
er selber froh im Herzen; nun hatte sich's verkehrt: das Licht
lag draußen und der Novembertag war in ihm. Viele, viele
Male war er dann des Weges hier gekommen, und der Frieden, der
sich über die Felder breitete, das Zuchtvieh in den Koppeln,
das aufhorchte, wenn er vorüberfuhr, die Leute bei der Arbeit,
die Fruchtbarkeit der Äcker, das alles hatte seinem Sinne
wohlgetan, und jetzt, in hartem Gegensatz dazu, war er froh, als
etwas Gewölk heranzog und den lachenden blauen Himmel leise
zu trüben begann. So fuhren sie den Fluss hinab, und
bald, nachdem sie die prächtige Wasserfläche des »Breitling«
passiert, kam der Kessiner Kirchturm in Sicht und gleich danach
auch das Bollwerk und die lange Häuserreihe mit Schiffen
und Booten davor. Und nun waren sie heran. Innstetten verabschiedete
sich von dem Kapitän und schritt auf den Steg zu, den man,
bequemeren Aussteigens halber, herangerollt hatte. Wüllersdorf
war schon da. Beide begrüßten sich, ohne zunächst
ein Wort zu sprechen, und gingen dann quer über den Damm
auf den Hoppensack'schen Gasthof zu, wo sie unter einem Zeltdach
Platz nahmen.
»Ich habe mich gestern früh hier einquartiert«,
sagte Wüllersdorf, der nicht gleich mit den Sachlichkeiten
beginnen wollte. »Wenn man bedenkt, dass Kessin ein
Nest ist, ist es erstaunlich, ein so gutes Hotel hier zu finden.
Ich bezweifle nicht, dass mein Freund, der Oberkellner, drei
Sprachen spricht; seinem Scheitel und seiner ausgeschnittnen Weste
nach können wir dreist auf vier rechnen ... Jean, bitte,
wollen Sie uns Kaffee und Cognac bringen.«
Innstetten begriff vollkommen, warum Wüllersdorf diesen Ton
anschlug, war auch damit einverstanden, konnte aber seiner Unruhe
nicht ganz Herr werden und zog unwillkürlich die Uhr.
»Wir haben Zeit«, sagte Wüllersdorf. »Noch
anderthalb Stunden oder doch beinah. Ich habe den Wagen auf 8
1/4 bestellt; wir fahren nicht länger als zehn Minuten.«
»Und wo?«
»Crampas schlug erst ein Waldeck vor, gleich hinter dem Kirchhof.
Aber dann unterbrach er sich und sagte: 'Nein, da nicht.' Und
dann haben wir uns über eine Stelle zwischen den Dünen
geeinigt. Hart am Strand; die vorderste Düne hat einen Einschnitt
und man sieht aufs Meer.«
Innstetten lächelte. »Crampas scheint sich einen Schönheitspunkt
ausgesucht zu haben. Er hatte immer die Allüren dazu. Wie
benahm er sich?«
»Wundervoll.«
»Übermütig? frivol?«
»Nicht das eine und nicht das andere. Ich bekenne Ihnen offen,
Innstetten, dass es mich erschütterte. Als ich Ihren
Namen nannte, wurde er totenblass und rang nach Fassung,
und um seine Mundwinkel sah ich ein Zittern. Aber all das dauerte
nur einen Augenblick, dann hatte er sich wieder gefasst,
und von da ab war alles an ihm wehmütige Resignation. Es
ist mir ganz sicher, er hat das Gefühl, aus der Sache nicht
heil herauszukommen, und will auch nicht. Wenn ich ihn richtig
beurteile, er lebt gern und ist zugleich gleichgültig gegen
das Leben. Er nimmt alles mit und weiß doch, dass es
nicht viel damit ist.«
»Wer wird ihm sekundieren? Oder sag ich lieber, wen wird
er mitbringen?«
»Das war, als er sich wieder gefunden hatte, seine Hauptsorge.
Er nannte zwei, drei Adlige aus der Nähe, ließ sie
dann aber wieder fallen, sie seien zu alt und zu fromm, er werde
nach Treptow hin telegrafieren an seinen Freund Buddenbrook. Und
der ist auch gekommen, famoser Mann, schneidig und doch zugleich
wie ein Kind. Er konnte sich nicht beruhigen und ging in größter
Erregung auf und ab. Aber als ich ihm alles gesagt hatte, sagte
er geradeso wie wir: 'Sie haben Recht, es muss sein!'«
Der Kaffee kam. Man nahm eine Zigarre, und Wüllersdorf war
wieder darauf aus, das Gespräch auf mehr gleichgültige
Dinge zu lenken.
»Ich wundere mich, dass keiner von den Kessinern sich
einfindet, Sie zu begrüßen. Ich weiß doch, dass
Sie sehr beliebt gewesen sind. Und nun gar Ihr Freund Gieshübler ...«
Innstetten lächelte. »Da verkennen Sie die Leute hier
an der Küste; halb sind es Philister und halb Pfiffici, nicht sehr
nach meinem Geschmack; aber eine Tugend haben sie, sie sind alle
sehr manierlich. Und nun gar mein alter Gieshübler. Natürlich
weiß jeder, um was sich's handelt; aber eben deshalb hütet
man sich, den Neugierigen zu spielen.«
In diesem Augenblicke wurde von links her ein zurückgeschlagener
Chaisewagen sichtbar, der, weil es noch vor der bestimmten Zeit
war, langsam herankam.
»Ist das unser?«, fragte Innstetten.
»Mutmaßlich.«
Und gleich danach hielt der Wagen vor dem Hotel, und Innstetten
und Wüllersdorf erhoben sich.
Wüllersdorf trat an den Kutscher heran und sagte: »Nach
der Mole.«
Die Mole lag nach der entgegengesetzten Strandseite, rechts statt
links, und die falsche Weisung wurde nur gegeben, um etwaigen
Zwischenfällen, die doch immerhin möglich waren, vorzubeugen.
Im Übrigen, ob man sich nun weiter draußen nach rechts
oder links zu halten vorhatte, durch die Plantage musste
man jedenfalls, und so führte denn der Weg unvermeidlich
an Innstettens alter Wohnung vorüber. Das Haus lag noch stiller
da als früher; ziemlich vernachlässigt sah's in den
Parterreräumen aus; wie mocht es erst da oben sein! Und das
Gefühl des Unheimlichen, das Innstetten an Effi so oft bekämpft
oder auch wohl belächelt hatte, jetzt überkam es ihn
selbst, und er war froh, als sie dran vorüber waren.
»Da hab ich gewohnt«, sagte er zu Wüllersdorf.
»Es sieht sonderbar aus, etwas öd und verlassen.«
»Mag auch wohl. In der Stadt galt es als ein Spukhaus, und
wie's heute daliegt, kann ich den Leuten nicht Unrecht geben.«
»Was war es denn damit?«
»Ach, dummes Zeug: alter Schiffskapitän mit Enkelin
oder Nichte, die eines schönen Tages verschwand, und dann
ein Chinese, der vielleicht ein Liebhaber war, und auf dem Flur
ein kleiner Haifisch und ein Krokodil, beides an Strippen und
immer in Bewegung. Wundervoll zu erzählen, aber nicht jetzt.
Es spukt einem doch allerhand anderes im Kopf.«
»Sie vergessen, es kann auch alles glatt ablaufen.«
»Darf nicht. Und vorhin, Wüllersdorf, als Sie von Crampas
sprachen, sprachen Sie selber anders davon.«
Bald danach hatte man die Plantage passiert, und der Kutscher
wollte jetzt rechts einbiegen auf die Mole zu. »Fahren Sie
lieber links. Das mit der Mole kann nachher kommen.«
Und der Kutscher bog links in eine breite Fahrstraße ein, die
hinter dem Herrenbade grade auf den Wald zulief. Als sie bis auf
dreihundert Schritt an diesen heran waren, ließ Wüllersdorf
den Wagen halten, und beide gingen nun, immer durch mahlenden
Sand hin, eine ziemlich breite Fahrstraße hinunter, die
die hier dreifache Dünenreihe senkrecht durchschnitt. Überall
zur Seite standen dichte Büschel von Strandhafer, um diesen
herum aber Immortellen und ein paar blutrote Nelken. Innstetten
bückte sich und steckte sich eine der Nelken ins Knopfloch.
»Die Immortellen nachher.«
So gingen sie fünf Minuten. Als sie bis an die ziemlich tiefe
Senkung gekommen waren, die zwischen den beiden vordersten Dünenreihen
hinlief, sahen sie nach links hin schon die Gegenpartei: Crampas
und Buddenbrook und mit ihnen den guten Doktor Hannemann, der
seinen Hut in der Hand hielt, so dass das weiße Haar
im Winde flatterte.
Innstetten und Wüllersdorf gingen die Sandschlucht hinauf,
Buddenbrook kam ihnen entgegen. Man begrüßte sich,
worauf beide Sekundanten beiseite traten, um noch ein kurzes sachliches
Gespräch zu führen. Es lief darauf hinaus, dass
man a tempo avancieren und auf zehn Schritt Distanz feuern
solle. Dann kehrte Buddenbrook an seinen Platz zurück; alles
erledigte sich rasch; und die Schüsse fielen. Crampas stürzte.
Innstetten, einige Schritte zurücktretend, wandte sich ab
von der Szene. Wüllersdorf aber war auf Buddenbrook zugeschritten,
und beide warteten jetzt auf den Ausspruch des Doktors, der die
Achseln zuckte. Zugleich deutete Crampas durch eine Handbewegung an,
dass er etwas sagen wollte. Wüllersdorf beugte sich zu ihm nieder,
nickte zustimmend zu den paar Worten, die kaum hörbar von
des Sterbenden Lippen kamen, und ging dann auf Innstetten zu.
»Crampas will Sie noch sprechen, Innstetten. Sie müssen
ihm zu Willen sein. Er hat keine drei Minuten Leben mehr.«
Innstetten trat an Crampas heran.
»Wollen Sie ...« das waren seine letzten Worte.
Noch ein schmerzlicher und doch beinah freundlicher Schimmer in
seinem Antlitz, und dann war es vorbei.
