Effi war nun schon in die fünfte Woche fort und schrieb glückliche,
beinahe übermütige Briefe, namentlich seit ihrem Eintreffen
in Ems, wo man doch unter Menschen sei, das heißt unter
Männern, von denen sich in Schwalbach nur ausnahmsweise was
gezeigt habe. Geheimrätin Zwicker, ihre Reisegefährtin,
habe freilich die Frage nach dem Kurgemäßen dieser
Zutat aufgeworfen und sich aufs Entschiedenste dagegen ausgesprochen,
alles natürlich mit einem Gesichtsausdrucke, der so ziemlich
das Gegenteil versichert habe; die Zwicker sei reizend, etwas
frei, wahrscheinlich sogar mit einer Vergangenheit, aber höchst
amüsant, und man könne viel, sehr viel von ihr lernen;
nie habe sie sich, trotz ihrer fünfundzwanzig, so als Kind
gefühlt wie nach der Bekanntschaft mit dieser Dame. Dabei
sei sie so belesen, auch in fremder Literatur, und als sie - Effi -
beispielsweise neulich von Nana gesprochen und dabei gefragt habe,
ob es denn wirklich so schrecklich sei, habe die Zwicker geantwortet:
»Ach, meine liebe Baronin, was heißt schrecklich? Da
gibt es noch ganz anderes.« »Sie schien mich auch«,
so schloss Effi ihren Brief, »mit diesem 'anderen' bekannt
machen zu wollen. Ich habe es aber abgelehnt, weil ich weiß,
dass du die Unsitte unserer Zeit aus diesem und Ähnlichem
herleitest, und wohl mit Recht. Leicht ist es mir aber nicht geworden.
Dazu kommt noch, dass Ems in einem Kessel liegt. Wir leiden
hier außerordentlich unter der Hitze.«
Innstetten hatte diesen letzten Brief mit geteilten Empfindungen
gelesen, etwas erheitert, aber doch auch ein wenig missmutig.
Die Zwicker war keine Frau für Effi, der nun mal ein Zug
innewohnte, sich nach links hin treiben zu lassen; er gab es aber
auf, irgendwas in diesem Sinne zu schreiben, einmal weil er sie
nicht verstimmen wollte, mehr noch, weil er sich sagte, dass
es doch nichts helfen würde. Dabei sah er der Rückkehr
seiner Frau mit Sehnsucht entgegen und beklagte des Dienstes nicht
bloß »immer gleichgestellte«, sondern jetzt, wo
jeder Ministerialrat fort war oder fort wollte, leider auch auf
Doppelstunden gestellte Uhr.
Ja, Innstetten sehnte sich nach Unterbrechung von Arbeit und Einsamkeit,
und verwandte Gefühle hegte man draußen in der Küche,
wo Annie, wenn die Schulstunden hinter ihr lagen, ihre Zeit am
liebsten verbrachte, was insoweit ganz natürlich war, als
Roswitha und Johanna nicht nur das kleine Fräulein in gleichem
Maße liebten, sondern auch untereinander nach wie vor auf
dem besten Fuße standen. Diese Freundschaft der beiden Mädchen
war ein Lieblingsgespräch zwischen den verschiedenen Freunden
des Hauses, und Landgerichtsrat Gizicki sagte dann wohl zu Wüllersdorf:
»Ich sehe darin nur eine neue Bestätigung des alten
Weisheitssatzes: 'Lasst fette Leute um mich sein'; Cäsar
war eben ein Menschenkenner und wusste, dass Dinge wie
Behaglichkeit und Umgänglichkeit eigentlich nur beim Embonpoint
sind.« Von einem solchen ließ sich denn nun bei beiden
Mädchen auch wirklich sprechen, nur mit dem Unterschiede,
dass das in diesem Falle nicht gut zu umgehende Fremdwort
bei Roswitha schon stark eine Beschönigung, bei Johanna dagegen
einfach die zutreffende Bezeichnung war. Diese letztere durfte
man nämlich nicht eigentlich korpulent nennen, sie war nur
prall und drall und sah jederzeit mit einer eigenen, ihr übrigens
durchaus kleidenden Siegermiene gradlinig und blauäugig über
ihre Normalbüste fort. Von Haltung und Anstand getragen,
lebte sie ganz in dem Hochgefühl, die Dienerin eines guten
Hauses zu sein, wobei sie das Überlegenheitsbewusstsein
über die halb bäuerisch gebliebene Roswitha in einem
so hohen Maße hatte, dass sie, was gelegentlich vorkam,
die momentan bevorzugte Stellung dieser nur belächelte. Diese
Bevorzugung - nun ja, wenn's dann mal so sein sollte, war eine
kleine liebenswürdige Sonderbarkeit der gnädigen Frau,
die man der guten alten Roswitha mit ihrer ewigen Geschichte »von
dem Vater mit der glühenden Eisenstange« schon gönnen
konnte. »Wenn man sich besser hält, so kann dergleichen
nicht vorkommen.« Das alles dachte sie, sprach's aber nicht
aus. Es war eben ein freundliches Miteinanderleben. Was aber wohl
ganz besonders für Frieden und gutes Einvernehmen sorgte,
das war der Umstand, dass man sich nach einem stillen Übereinkommen
in die Behandlung und fast auch Erziehung Annies geteilt hatte.
Roswitha hatte das poetische Departement, die Märchen- und
Geschichtenerzählung, Johanna dagegen das des Anstands, eine
Teilung, die hüben und drüben so fest gewurzelt stand,
dass Kompetenzkonflikte kaum vorkamen, wobei der Charakter
Annies, die eine ganz entschiedene Neigung hatte, das vornehme
Fräulein zu betonen, allerdings mithalf, eine Rolle, bei
der sie keine bessere Lehrerin als Johanna haben konnte.
Noch einmal also: Beide Mädchen waren gleichwertig in Annies
Augen. In diesen Tagen aber, wo man sich auf die Rückkehr Effis
vorbereitete, war Roswitha der Rivalin mal wieder um einen Pas
voraus, weil ihr, und zwar als etwas ihr Zuständiges, die
ganze Begrüßungsangelegenheit zugefallen war. Diese
Begrüßung zerfiel in zwei Hauptteile: Girlande mit
Kranz und dann abschließend Gedichtvortrag. Kranz und
Girlande - nachdem man über »W.« oder »E. v.
I.« eine Zeitlang geschwankt - hatten zuletzt keine sonderlichen
Schwierigkeiten gemacht (»W.«, in Vergissmeinnicht
geflochten, war bevorzugt worden), aber desto größere
Verlegenheit schien die Gedichtfrage heraufbeschwören zu
sollen und wäre vielleicht ganz unbeglichen geblieben, wenn
Roswitha nicht den Mut gehabt hätte, den von einer Gerichtssitzung
heimkehrenden Landgerichtsrat auf der zweiten Treppe zu stellen
und ihm mit einem auf einen »Vers« gerichteten Ansinnen
mutig entgegenzutreten. Gizicki, ein sehr gütiger Herr, hatte
sofort alles versprochen, und noch am selben Spätnachmittage
war seitens seiner Köchin der gewünschte Vers und zwar
folgenden Inhalts abgegeben worden:
|
Mama, wir erwarten dich lange schon,
Durch Wochen und Tage und Stunden,
Nun grüßen wir dich von Flur und Balkon
Und haben Kränze gewunden.
Nun lacht Papa voll Freudigkeit,
Denn die gattin- und mutterlose Zeit
Ist endlich von ihm genommen,
Und Roswitha lacht und Johanna dazu,
Und Annie springt aus ihrem Schuh
Und ruft: willkommen, willkommen.
|
Es versteht sich von selbst, dass die Strophe noch an demselben
Abend auswendig gelernt, aber doch nebenher auch auf ihre Schönheit
beziehungsweise Nicht-Schönheit kritisch geprüft worden
war. Das Betonen von Gattin und Mutter, so hatte sich Johanna
geäußert, erscheine zunächst freilich in der Ordnung;
aber es läge doch auch etwas darin, was Anstoß erregen
könne, und sie persönlich würde sich als »Gattin
und Mutter« dadurch verletzt fühlen. Annie, durch diese
Bemerkung einigermaßen geängstigt, versprach das Gedicht
am andern Tage der Klassenlehrerin vorlegen zu wollen und kam
mit dem Bemerken zurück: »Das Fräulein sei mit 'Gattin
und Mutter' durchaus einverstanden, aber desto mehr gegen
'Roswitha und Johanna' gewesen«, - worauf Roswitha erklärt
hatte, das Fräulein sei eine dumme Gans; das käme davon,
wenn man zuviel gelernt habe.
Es war an einem Mittwoch, dass die Mädchen und Annie
das vorstehende Gespräch geführt und den Streit um die
bemängelte Zeile beigelegt hatten. Am andern Morgen - ein
erwarteter Brief Effis hatte noch den mutmaßlich erst in
den Schluss der nächsten Woche fallenden Ankunftstag
festzustellen - ging Innstetten auf das Ministerium. Jetzt war
Mittag heran, die Schule aus, und als Annie, ihre Mappe auf dem
Rücken, eben vom Kanal her auf die Keithstraße zuschritt,
traf sie Roswitha vor ihrer Wohnung.
»Nun lass sehen«, sagte Annie, »wer am ehesten
von uns die Treppe heraufkommt.« Roswitha wollte von diesem
Wettlauf nichts wissen, aber Annie jagte voran, geriet oben angekommen
ins Stolpern und fiel dabei so unglücklich, dass sie
mit der Stirn auf den dicht an der Treppe befindlichen Abkratzer
aufschlug und stark blutete. Roswitha, mühevoll nachkeuchend,
riss jetzt die Klingel, und als Johanna das etwas verängstigte
Kind hereingetragen hatte, beratschlagte man, was nun wohl zu
machen sei. »Wir wollen nach dem Doktor schicken ... wir
wollen nach dem gnädigen Herrn schicken ... des Portiers
Lene muss ja jetzt auch aus der Schule wieder da sein.«
Es wurde aber alles wieder verworfen, weil es zu lange dauere,
man müsse gleich was tun, und so packte man denn das Kind
aufs Sofa und begann mit kaltem Wasser zu kühlen. Alles ging
auch gut, so dass man sich zu beruhigen begann. »Und
nun wollen wir sie verbinden«, sagte schließlich Roswitha.
»Da muss ja noch die lange Binde sein, die die gnädige
Frau letzten Winter zuschnitt, als sie sich auf dem Eise den Fuß
verknickt hatte ...« »Freilich, freilich«, sagte Johanna, »bloß
wo die Binde hernehmen? ... Richtig, da fällt mir ein, die
liegt im Nähtisch. Er wird wohl zu sein, aber das Schloss
ist Spielerei; holen Sie nur das Stemmeisen, Roswitha, wir wollen
den Deckel aufbrechen.« Und nun wuchteten sie auch wirklich
den Deckel ab und begannen, in den Fächern herumzukramen,
oben und unten, die zusammengerollte Binde jedoch wollte sich
nicht finden lassen. »Ich weiß aber doch, dass
ich sie gesehen habe«, sagte Roswitha, und während sie
halb ärgerlich immer weiter suchte, flog alles, was ihr dabei
zu Händen kam, auf das breite Fensterbrett: Nähzeug,
Nadelkissen, Rollen mit Zwirn und Seide, kleine vertrocknete Veilchensträußchen,
Karten, Billetts, zuletzt ein kleines Konvolut von Briefen, das
unter dem dritten Einsatz gelegen hatte, ganz unten, mit einem
roten Seidenfaden umwickelt. Aber die Binde hatte man noch immer
nicht.
In diesem Augenblicke trat Innstetten ein.
»Gott«, sagte Roswitha und stellte sich erschreckt
neben das Kind. »Es ist nichts, gnädiger Herr; Annie
ist auf das Kratzeisen gefallen ... Gott, was wird die gnädige
Frau sagen. Und doch ist es ein Glück, dass sie nicht
mit dabei war.«
Innstetten hatte mittlerweile die vorläufig
aufgelegte Kompresse fortgenommen und sah, dass es ein tiefer
Riss, sonst aber ungefährlich war. »Es ist nicht
schlimm«, sagte er; »trotzdem, Roswitha, wir müssen
sehen, dass Rummschüttel kommt. Lene kann ja gehen,
die wird jetzt Zeit haben. Aber was in aller Welt ist denn das
da mit dem Nähtisch?«
Und nun erzählte Roswitha, wie sie nach der gerollten Binde
gesucht hätten; aber sie woll' es nun aufgeben und lieber
eine neue Leinwand schneiden.
Innstetten war einverstanden und setzte sich, als bald danach
beide Mädchen das Zimmer verlassen hatten, zu dem Kind. »Du
bist so wild, Annie, das hast du von der Mama. Immer wie ein Wirbelwind.
Aber dabei kommt nichts heraus oder höchstens so was.«
Und er wies auf die Wunde und gab ihr einen Kuss. »Du
hast aber nicht geweint, das ist brav, und darum will ich dir
die Wildheit verzeihen ... Ich denke, der Doktor wird in einer
Stunde hier sein; tu nur alles, was er sagt, und wenn er dich
verbunden hat, so zerre nicht und rücke und drücke nicht
daran, dann heilt es schnell, und wenn die Mama dann kommt, dann
ist alles wieder in Ordnung oder doch beinah. Ein Glück ist
es aber doch, dass es noch bis nächste Woche dauert,
Ende nächster Woche, so schreibt sie mir; eben habe ich einen
Brief von ihr bekommen; sie lässt dich grüßen
und freut sich, dich wiederzusehen.«
»Du könntest mir den Brief eigentlich vorlesen, Papa.«
»Das will ich gern.«
Aber eh er dazu kam, kam Johanna, um zu sagen, dass das Essen
aufgetragen sei. Annie, trotz ihrer Wunde, stand mit auf, und
Vater und Tochter setzten sich zu Tisch.
