Auf dem Friedrichstraßen-Bahnhofe war ein Gedränge;
aber trotzdem, Effi hatte schon vom Kupee aus die Mama
erkannt und neben ihr den Vetter Briest. Die Freude des Wiedersehens
war groß, das Warten in der Gepäckhalle stellte die
Geduld auf keine allzu harte Probe, und nach wenig mehr als fünf
Minuten rollte die Droschke neben dem Pferdebahngeleise hin in
die Dorotheenstraße hinein und auf die Schadowstraße
zu, an deren nächstgelegener Ecke sich die 'Pension'
befand. Roswitha war entzückt und freute sich über Annie,
die die Händchen nach den Lichtern ausstreckte.
Nun war man da. Effi erhielt ihre zwei Zimmer, die nicht, wie
erwartet, neben denen der Frau von Briest, aber doch auf demselben
Korridor lagen, und als alles seinen Platz und Stand hatte und
Annie in einem Bettchen mit Gitter glücklich untergebracht
war, erschien Effi wieder im Zimmer der Mama, einem kleinen Salon
mit Kamin, drin ein schwaches Feuer brannte; denn es war mildes,
beinah warmes Wetter. Auf dem runden Tische mit grüner Schirmlampe
waren drei Kuverts gelegt, und auf einem Nebentischchen stand das Teezeug.
»Du wohnst ja reizend, Mama«, sagte Effi, während
sie dem Sofa gegenüber Platz nahm, aber nur um sich gleich
danach an dem Teetisch zu schaffen zu machen. »Darf ich wieder
die Rolle des Teefräuleins übernehmen?«
»Gewiss, meine liebe Effi. Aber nur für Dagobert
und dich selbst. Ich meinerseits muss verzichten, was mir
beinah schwerfällt.«
»Ich versteh, deiner Augen halber. Aber nun sage mir, Mama,
was ist es damit? In der Droschke, die noch dazu so klapperte,
haben wir immer nur von Innstetten und unserer großen Karriere
gesprochen, viel zu viel, und das geht nicht so weiter; glaube
mir, deine Augen sind mir wichtiger, und in einem finde ich sie,
Gott sei Dank, ganz unverändert, du siehst mich immer noch
so freundlich an wie früher.« Und sie eilte auf die Mama
zu und küsste ihr die Hand.
»Effi, du bist so stürmisch. Ganz die alte.«
»Ach nein, Mama. Nicht die alte. Ich wollte, es wäre
so. Man ändert sich in der Ehe.«
Vetter Briest lachte. »Kusine, ich merke nicht viel davon;
du bist noch hübscher geworden, das ist alles. Und mit dem
Stürmischen wird es wohl auch noch nicht vorbei sein.«
»Ganz der Vetter«, versicherte die Mama; Effi selbst
aber wollte davon nichts hören und sagte: »Dagobert,
du bist alles, nur kein Menschenkenner. Es ist sonderbar. Ihr
Offiziere seid keine guten Menschenkenner, die jungen gewiss
nicht. Ihr guckt euch immer nur selber an oder eure Rekruten,
und die von der Kavallerie haben auch noch ihre Pferde. Die wissen
nun vollends nichts.«
»Aber Kusine, wo hast du denn diese ganze Weisheit her?
Du kennst ja keine Offiziere. Kessin, so habe ich gelesen, hat
ja auf die ihm zugedachten Husaren verzichtet, ein Fall, der übrigens
einzig in der Weltgeschichte dasteht. Und willst du von alten
Zeiten sprechen? Du warst ja noch ein halbes Kind, als die Rathenower
zu euch herüberkamen.«
»Ich könnte dir erwidern, dass Kinder am besten
beobachten. Aber ich mag nicht, das sind ja alles bloß Allotria.
Ich will wissen, wie's mit Mama's Augen steht.«
Frau von Briest erzählte nun, dass es der Augenarzt
für Blutandrang nach dem Gehirn ausgegeben habe. Daher käme
das Flimmern. Es müsse mit Diät gezwungen werden; Bier,
Kaffee, Tee - alles gestrichen und gelegentlich eine lokale Blutentziehung,
dann würde es bald besser werden. »Er sprach so von
vierzehn Tagen. Aber ich kenne die Doktorangaben; vierzehn Tage
heißt sechs Wochen, und ich werde noch hier sein, wenn Innstetten
kommt und ihr in eure neue Wohnung einzieht. Ich will auch nicht
leugnen, dass das das Beste von der Sache ist und mich über
die mutmaßlich lange Kurdauer schon vorweg tröstet.
Sucht euch nur recht was Hübsches. Ich habe mir Landgrafen-
oder Keithstraße gedacht, elegant und doch nicht allzu teuer.
Denn ihr werdet euch einschränken müssen. Innstettens
Stellung ist sehr ehrenvoll, aber sie wirft nicht allzuviel ab.
Und Briest klagt auch. Die Preise gehen herunter, und er erzählt
mir jeden Tag, wenn nicht Schutzzölle kämen, so müss
er mit einem Bettelsack von Hohen-Cremmen abziehen. Du weißt,
er übertreibt gern. Aber nun lange zu, Dagobert, und wenn
es sein kann, erzähle uns was Hübsches. Krankheitsberichte
sind immer langweilig, und die liebsten Menschen hören bloß
zu, weil es nicht anders geht. Effi wird wohl auch gern eine Geschichte
hören, etwas aus den Fliegenden Blättern oder aus dem
Kladderadatsch. Er soll aber nicht mehr so gut sein.«
»O, er ist noch ebenso gut wie früher. Sie haben immer
noch Strudelwitz und Prudelwitz, und da macht es sich von selber.«
»Mein Liebling ist Karlchen Mießnick und Wippchen von
Bernau.«
»Ja, das sind die Besten. Aber Wippchen, der übrigens
- Pardon, schöne Kusine - keine Kladderadatschfigur ist,
Wippchen hat gegenwärtig nichts zu tun, es ist ja kein Krieg
mehr. Leider. Unsereins möchte doch auch mal an die Reihe
kommen und hier diese schreckliche Leere«, und er strich
vom Knopfloch nach der Achsel hinüber, »endlich los werden.«
»Ach, das sind ja bloß Eitelkeiten. Erzähle lieber.
Was ist denn jetzt dran?«
»Ja, Kusine, das ist ein eigen Ding. Das ist nicht für
jedermann. Jetzt haben wir nämlich die Bibelwitze.«
»Die Bibelwitze? Was soll das heißen? ... Bibel und
Witze gehören nicht zusammen.«
»Eben deshalb sagte ich, es sei nicht für jedermann.
Aber ob zulässig oder nicht, sie stehen jetzt hoch im Preise.
Modesache, wie Kiebitzeier.«
»Nun, wenn es nicht zu toll ist, so gib uns eine Probe. Geht
es?«
»Gewiss geht es. Und ich möchte sogar hinzusetzen
dürfen, du triffst es besonders gut. Was jetzt nämlich
kursiert, ist etwas hervorragend Feines, weil es als Kombination
auftritt und in die einfache Bibelstelle noch das dativisch Wrangel'sche
mit einmischt. Die Fragestellung - alle diese Witze treten nämlich
in Frageform auf - ist übrigens in vorliegendem Falle von
großer Simplizität und lautet: 'Wer war der erste Kutscher?'
Und nun rate.«
»Nun, vielleicht Apollo.«
»Sehr gut. Du bist doch ein Daus, Effi. Ich wäre nicht
darauf gekommen. Aber trotzdem, du triffst damit nicht ins Schwarze.
«
»Nun, wer war es denn?«
»Der erste Kutscher war 'Leid'. Denn schon im Buche Hiob
heißt es: 'Leid soll mir nicht widerfahren', oder auch 'wieder
fahren' in zwei Wörtern und mit einem e.«
Effi wiederholte kopfschüttelnd den Satz, auch die Zubemerkung,
konnte sich aber trotz aller Mühe nicht drin zurechtfinden;
sie gehörte ganz ausgesprochen zu den Bevorzugten, die für
derlei Dinge durchaus kein Organ haben, und so kam denn Vetter
Briest in die nicht beneidenswerte Situation, immer erneut erst
auf den Gleichklang und dann auch wieder auf den Unterschied von
'widerfahren' und 'wieder fahren' hinweisen zu müssen.
»Ach, nun versteh ich. Und du musst mir verzeihen, dass
es so lange gedauert hat. Aber es ist wirklich zu dumm.«
»Ja, dumm ist es«, sagte Dagobert kleinlaut.
»Dumm und unpassend und kann einem Berlin ordentlich verleiden.
Da geht man nun aus Kessin fort, um wieder unter Menschen zu sein,
und das Erste, was man hört, ist ein Bibelwitz. Auch Mama
schweigt, und das sagt genug. Ich will dir aber doch den Rückzug
erleichtern ...«
»Das tu, Kusine.«
» ... den Rückzug erleichtern und es ganz ernsthaft
als ein gutes Zeichen nehmen, dass mir als erstes hier
von meinem Vetter Dagobert gesagt wurde: 'Leid soll mir nicht
widerfahren.' Sonderbar, Vetter, so schwach die Sache als Witz
ist, ich bin dir doch dankbar dafür.«
Dagobert, kaum aus der Schlinge heraus, versuchte über Effis
Feierlichkeit zu spötteln, ließ aber ab davon, als
er sah, dass es sie verdross.
Bald nach zehn Uhr brach er auf und versprach am anderen Tage
wiederzukommen, um nach den Befehlen zu fragen.
Und gleich, nachdem er gegangen, zog sich auch Effi in ihre Zimmer
zurück.
Am andern Tage war das schönste Wetter, und Mutter und Tochter
brachen früh auf, zunächst nach der Augenklinik, wo
Effi im Vorzimmer verblieb und sich mit dem Durchblättern
eines Albums beschäftigte. Dann ging es nach dem Tiergarten
und bis in die Nähe des 'Zoologischen', um dort
herum nach einer Wohnung zu suchen. Es traf sich auch wirklich
so, dass man in der Keithstraße, worauf sich ihre Wünsche
von Anfang an gerichtet hatten, etwas durchaus Passendes ausfindig
machte, nur dass es ein Neubau war, feucht und noch unfertig.
»Es wird nicht gehen, liebe Effi«, sagte Frau von Briest,
»schon einfach Gesundheitsrücksichten werden es verbieten.
Und dann, ein Geheimrat ist kein Trockenwohner.«
Effi, so sehr ihr die Wohnung gefiel, war umso einverstandener
mit diesem Bedenken, als ihr an einer raschen Erledigung überhaupt
nicht lag, ganz im Gegenteil: »Zeit gewonnen, alles gewonnen«,
und so war ihr denn ein Hinausschieben der ganzen Angelegenheit
eigentlich das Liebste, was ihr begegnen konnte. »Wir wollen
diese Wohnung aber doch im Auge behalten, Mama, sie liegt so schön
und ist im Wesentlichen das, was ich mir gewünscht habe.«
Dann fuhren beide Damen in die Stadt zurück, aßen im
Restaurant, das man ihnen empfohlen, und waren am Abend in der
Oper, wozu der Arzt unter der Bedingung, dass Frau von Briest
mehr hören als sehen wolle, die Erlaubnis gegeben hatte.
Die nächsten Tage nahmen einen ähnlichen Verlauf; man
war aufrichtig erfreut, sich wieder zu haben und nach so langer
Zeit wieder ausgiebig miteinander plaudern zu können. Effi,
die sich nicht bloß auf Zuhören und Erzählen,
sondern, wenn ihr am wohlsten war, auch auf Medisieren ganz vorzüglich
verstand, geriet mehr als einmal in ihren alten Übermut,
und die Mama schrieb nach Hause, wie glücklich sie sei, das
»Kind« wieder so heiter und lachlustig zu finden; es
wiederhole sich ihnen allen die schöne Zeit von vor fast
zwei Jahren, wo man die Ausstattung besorgt habe. Auch Vetter
Briest sei ganz der Alte. Das war nun auch wirklich der Fall,
nur mit dem Unterschiede, dass er sich seltener sehen ließ
als vordem und auf die Frage nach dem 'Warum' anscheinend
ernsthaft versicherte: »Du bist mir zu gefährlich, Kusine.«
Das gab dann jedes Mal ein Lachen bei Mutter und Tochter, und Effi
sagte: »Dagobert, du bist freilich noch sehr jung, aber zu
solcher Form des Courmachens doch nicht mehr jung genug.«
So waren schon beinah vierzehn Tage vergangen. Innstetten schrieb
immer dringlicher und wurde ziemlich spitz, fast auch gegen die
Schwiegermama, so dass Effi einsah, ein weiteres Hinausschieben
sei nicht mehr gut möglich und es müsse nun wirklich
gemietet werden. Aber was dann? Bis zum Umzuge nach Berlin waren
immer noch drei Wochen, und Innstetten drang auf rasche Rückkehr.
Es gab also nur ein Mittel: sie musste wieder eine Komödie
spielen, musste krank werden.
Das kam ihr aus mehr als einem Grunde nicht leicht an; aber es
musste sein, und als ihr das feststand, stand ihr auch fest,
wie die Rolle bis in die kleinsten Einzelheiten hinein gespielt
werden müsse.
»Mama, Innstetten, wie du siehst, wird über mein Ausbleiben
empfindlich. Ich denke, wir geben also nach und mieten heute noch.
Und morgen reise ich. Ach, es wird mir so schwer, mich von dir
zu trennen.«
Frau von Briest war einverstanden. »Und welche Wohnung wirst
du wählen?«
»Natürlich die erste, die in der Keithstraße,
die mir von Anfang an so gut gefiel und dir auch. Sie wird wohl
noch nicht ganz ausgetrocknet sein, aber es ist ja das Sommerhalbjahr,
was einigermaßen ein Trost ist. Und wird es mit der Feuchtigkeit
zu arg und kommt ein bisschen Rheumatismus, so hab ich ja
schließlich immer noch Hohen-Cremmen.«
»Kind, beruf es nicht; ein Rheumatismus ist mitunter da,
man weiß nicht wie.«
Diese Worte der Mama kamen Effi sehr zu pass. Sie mietete
denselben Vormittag noch und schrieb eine Karte an Innstetten,
dass sie den nächsten Tag zurückwolle. Gleich danach
wurden auch wirklich die Koffer gepackt und alle Vorbereitungen
getroffen. Als dann aber der andere Morgen da war, ließ
Effi die Mama an ihr Bett rufen und sagte: »Mama, ich kann
nicht reisen. Ich habe ein solches Reißen und Ziehen, es
schmerzt mich über den ganzen Rücken hin, und ich glaube
beinah, es ist ein Rheumatismus. Ich hätte nicht gedacht,
dass das so schmerzhaft sei.«
»Siehst du, was ich dir gesagt habe; man soll den Teufel
nicht an die Wand malen. Gestern hast du noch leichtsinnig darüber
gesprochen, und heute ist es schon da. Wenn ich Schweigger sehe,
werde ich ihn fragen, was du tun sollst.«
»Nein, nicht Schweigger. Der ist ja ein Spezialist. Das geht nicht, und er
könnt es am Ende übelnehmen, in so was anderem zu Rate
gezogen zu werden. Ich denke, das Beste ist, wir warten es ab.
Es kann ja auch vorübergehen. Ich werde den ganzen Tag über
von Tee und Sodawasser leben, und wenn ich dann transpiriere,
komm ich vielleicht drüber hin.«
Frau von Briest drückte ihre Zustimmung aus, bestand aber
darauf, dass sie sich gut verpflege. Dass man nichts
genießen müsse, wie das früher Mode war, das sei
ganz falsch und schwäche bloß; in diesem Punkt stehe
sie ganz zu der jungen Schule: tüchtig essen.
Effi sog sich nicht wenig Trost aus diesen Anschauungen, schrieb
ein Telegramm an Innstetten, worin sie von dem »leidigen
Zwischenfall« und einer ärgerlichen, aber doch nur momentanen
Behinderung sprach, und sagte dann zu Roswitha: »Roswitha,
du musst mir nun auch Bücher besorgen; es wird nicht
schwer halten, ich will alte, ganz alte.«
»Gewiss, gnäd'ge Frau. Die Leihbibliothek ist ja
gleich hier nebenan. Was soll ich besorgen?«
»Ich will es aufschreiben, allerlei zur Auswahl, denn mitunter
haben sie nicht das eine, was man grade haben will.« Roswitha
brachte Bleistift und Papier, und Effi schrieb auf:
Walter Scott, Ivanhoe oder Quentin Durward; Cooper, Der Spion;
Dickens, David Copperfield; Willibald Alexis, Die Hosen des Herrn
von Bredow.
Roswitha las den Zettel durch und schnitt in der anderen Stube
die letzte Zeile fort; sie genierte sich ihret- und ihrer Frau
wegen, den Zettel in seiner ursprünglichen Gestalt abzugeben.
Ohne besondere Vorkommnisse verging der Tag. Am andern Morgen
war es nicht besser und am dritten auch nicht.
»Effi, das geht so nicht länger. Wenn so was einreißt,
dann wird man's nicht wieder los; wovor die Doktoren am meisten warnen
und mit Recht, das sind solche Verschleppungen.«
Effi seufzte. »Ja, Mama, aber wen sollen wir nehmen? Nur
keinen jungen; ich weiß nicht, aber es würde mich genieren.«
»Ein junger Doktor ist immer genant, und wenn er es nicht
ist, desto schlimmer. Aber du kannst dich beruhigen; ich komme
mit einem ganz alten, der mich schon behandelt hat, als ich noch
in der Hecker'schen Pension war, also vor etlichen zwanzig Jahren.
Und damals war er nah an fünfzig und hatte schönes graues
Haar, ganz kraus. Er war ein Damenmann, aber in den richtigen
Grenzen. Ärzte, die das vergessen, gehen unter, und es kann
auch nicht anders sein; unsere Frauen, wenigstens die aus der
Gesellschaft, haben immer noch einen guten Fond.«
»Meinst du? Ich freue mich immer, so was Gutes zu hören.
Denn mitunter hört man doch auch andres. Und schwer mag es
wohl oft sein. Und wie heißt denn der alte Geheimrat? Ich
nehme an, dass es ein Geheimrat ist.«
»Geheimrat Rummschüttel.«
Effi lachte herzlich. »Rummschüttel! Und als Arzt für
jemanden, der sich nicht rühren kann.«
»Effi, du sprichst so sonderbar. Große Schmerzen kannst
du nicht haben.«
»Nein, in diesem Augenblicke nicht; es wechselt beständig.«
Am andern Morgen erschien Geheimrat Rummschüttel. Frau von
Briest empfing ihn, und als er Effi sah, war sein erstes Wort:
»Ganz die Mama.«
Diese wollte den Vergleich ablehnen und meinte, zwanzig Jahre
und drüber seien doch eine lange Zeit; Rummschüttel
blieb aber bei seiner Behauptung, zugleich versichernd: nicht
jeder Kopf präge sich ihm ein, aber wenn er überhaupt
erst einen Eindruck empfangen habe, so bleibe der auch für
immer. »Und nun, meine gnädigste Frau von Innstetten,
wo fehlt es, wo sollen wir helfen?«
»Ach, Herr Geheimrat, ich komme in Verlegenheit, Ihnen auszudrücken,
was es ist. Es wechselt beständig. In diesem Augenblick ist
es wie weggeflogen. Anfangs habe ich an Rheumatisches gedacht,
aber ich möchte beinah glauben, es sei eine Neuralgie, Schmerzen
den Rücken entlang, und dann kann ich mich nicht aufrichten.
Mein Papa leidet an Neuralgie, da hab ich es früher beobachten
können. Vielleicht ein Erbstück von ihm.«
»Sehr wahrscheinlich«, sagte Rummschüttel, der
den Puls gefühlt und die Patientin leicht, aber doch scharf
beobachtet hatte. »Sehr wahrscheinlich, meine gnädigste
Frau.« Was er aber still zu sich selber sagte, das lautete:
»Schulkrank und mit Virtuosität gespielt; Evastochter
comme il faut.« Er ließ jedoch nichts davon merken,
sondern sagte mit allem wünschenswerten Ernst: »Ruhe
und Wärme sind das Beste, was ich anraten kann. Eine Medizin,
übrigens nichts Schlimmes, wird das Weitere tun.«
Und er erhob sich, um das Rezept aufzuschreiben: Aqua Amygdalarum
amararum eine halbe Unze, Syrupus florum Aurantii zwei Unzen.
»Hiervon, meine gnädigste Frau, bitte ich Sie, alle
zwei Stunden einen halben Teelöffel voll nehmen zu wollen.
Es wird Ihre Nerven beruhigen. Und worauf ich noch dringen möchte:
keine geistigen Anstrengungen, keine Besuche, keine Lektüre.«
Dabei wies er auf das neben ihr liegende Buch.
»Es ist Scott.«
»O, dagegen ist nichts einzuwenden. Das Beste sind Reisebeschreibungen.
Ich spreche morgen wieder vor.«
Effi hatte sich wundervoll gehalten, ihre Rolle gut durchgespielt.
Als sie wieder allein war - die Mama begleitete den Geheimrat
-, schoss ihr trotzdem das Blut zu Kopf; sie hatte recht
gut bemerkt, dass er ihrer Komödie mit einer Komödie
begegnet war. Er war offenbar ein überaus lebensgewandter
Herr, der alles recht gut sah, aber nicht alles sehen wollte,
vielleicht weil er wusste, dass dergleichen auch mal
zu respektieren sein könne. Denn gab es nicht zu respektierende
Komödien, war nicht die, die sie selber spielte, eine solche?
Bald danach kam die Mama zurück, und Mutter und Tochter ergingen
sich in Lobeserhebungen über den feinen alten Herrn, der
trotz seiner beinah Siebzig noch etwas Jugendliches habe. »Schicke
nur gleich Roswitha nach der Apotheke ... du sollst aber nur alle
drei Stunden nehmen, hat er mir draußen noch eigens gesagt.
So war er schon damals, er verschrieb nicht oft und nicht viel;
aber immer Energisches, und es half auch gleich.«
Rummschüttel kam den zweiten Tag und dann jeden dritten,
weil er sah, welche Verlegenheit sein Kommen der jungen Frau bereitete.
Dies nahm ihn für sie ein, und sein Urteil stand ihm nach
dem dritten Besuche fest: »Hier liegt etwas vor, was die Frau
zwingt, so zu handeln, wie sie handelt.« Über solche
Dinge den Empfindlichen zu spielen, lag längst hinter ihm.
Als Rummschüttel seinen vierten Besuch machte, fand er Effi
auf, in einem Schaukelstuhl sitzend, ein Buch in der Hand, Annie
neben ihr.
»Ah, meine gnädigste Frau! Hocherfreut. Ich schiebe
es nicht auf die Arznei; das schöne Wetter, die hellen, frischen
Märztage, da fällt die Krankheit ab. Ich beglückwünsche
Sie. Und die Frau Mama?«
»Sie ist ausgegangen, Herr Geheimrat, in die Keithstraße,
wo wir gemietet haben. Ich erwarte nun innerhalb weniger Tage
meinen Mann, den ich mich, wenn in unserer Wohnung erst alles
in Ordnung sein wird, herzlich freue, Ihnen vorstellen zu können.
Denn ich darf doch wohl hoffen, dass Sie auch in Zukunft
sich meiner annehmen werden.«
Er verbeugte sich.
»Die neue Wohnung«, fuhr sie fort, »ein Neubau,
macht mir freilich Sorge. Glauben Sie, Herr Geheimrat, dass
die feuchten Wände ...«
»Nicht im geringsten, meine gnädigste Frau. Lassen Sie
drei, vier Tage lang tüchtig heizen und immer Türen
und Fenster auf, da können Sie's wagen, auf meine Verantwortung.
Und mit Ihrer Neuralgie, das war nicht von solcher Bedeutung.
Aber ich freue mich Ihrer Vorsicht, die mir Gelegenheit gegeben
hat, eine alte Bekanntschaft zu erneuern und eine neue zu machen.«
Er wiederholte seine Verbeugung, sah noch Annie freundlich in
die Augen und verabschiedete sich unter Empfehlungen an die Mama.
Kaum dass er fort war, so setzte sich Effi an den Schreibtisch
und schrieb: »Lieber Innstetten! Eben war Rummschüttel
hier und hat mich aus der Kur entlassen. Ich könnte nun reisen,
morgen etwa; aber heut ist schon der 24., und am 28.
willst du hier eintreffen. Angegriffen bin ich ohnehin noch.
Ich denke, du wirst einverstanden sein, wenn ich die Reise ganz
aufgebe. Die Sachen sind ja ohnehin schon unterwegs, und wir würden,
wenn ich käme, in Hoppensacks Hotel wie Fremde leben müssen.
Auch der Kostenpunkt ist in Betracht zu ziehen, die Ausgaben werden
sich ohnehin häufen; unter anderem ist Rummschüttel
zu honorieren, wenn er uns auch als Arzt verbleibt. Übrigens
ein sehr liebenswürdiger alter Herr. Er gilt ärztlich
nicht für ersten Ranges, 'Damendoktor', sagen seine Gegner
und Neider. Aber dies Wort umschließt doch auch ein Lob;
es kann eben nicht jeder mit uns umgehen. Dass ich von den
Kessinern nicht persönlich Abschied nehme, hat nicht viel
auf sich. Bei Gieshübler war ich. Die Frau Majorin hat sich
immer ablehnend gegen mich verhalten, ablehnend bis zur Unart;
bleibt noch der Pastor und Doktor Hannemann und Crampas. Empfiehl
mich letzterem. An die Familien auf dem Lande schicke ich Karten;
Güldenklees, wie du mir schreibst, sind in Italien (was sie
da wollen, weiß ich nicht), und so bleiben nur die drei
andern. Entschuldige mich, so gut es geht. Du bist ja der Mann
der Formen und weißt das richtige Wort zu treffen. An Frau
von Padden, die mir am Silvesterabend so außerordentlich
gut gefiel, schreibe ich vielleicht selber noch und spreche ihr
mein Bedauern aus. Lass mich in einem Telegramm wissen, ob
du mit allem einverstanden bist. Wie immer deine Effi.«
Effi brachte selber den Brief zur Post, als ob sie dadurch die
Antwort beschleunigen könne, und am nächsten Vormittag
traf denn auch das erbetene Telegramm von Innstetten ein: »Einverstanden
mit allem.« Ihr Herz jubelte, sie eilte hinunter und auf
den nächsten Droschkenstand zu: »Keithstraße Ic.«
Und erst die Linden und dann die Tiergartenstraße hinunter
flog die Droschke, und nun hielt sie vor der neuen Wohnung.
Oben standen die den Tag vorher eingetroffenen Sachen noch bunt
durcheinander, aber es störte sie nicht, und als sie auf
den breiten aufgemauerten Balkon hinaustrat, lag jenseits der
Kanalbrücke der Tiergarten vor ihr, dessen Bäume schon
überall einen grünen Schimmer zeigten. Darüber
aber ein klarer blauer Himmel und eine lachende Sonne.
Sie zitterte vor Erregung und atmete hoch auf. Dann trat sie vom
Balkon her wieder über die Türschwelle zurück,
hob den Blick und faltete die Hände.
»Nun, mit Gott, ein neues Leben! Es soll anders werden.«
