In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie
von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller
Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während
nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter
Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß
und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen
hinaus auf ein großes in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr
und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetztes
Rondell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in Richtung und
Lage genau dem Seitenflügel entsprechend, lief eine ganz
in kleinblättrigem Efeu stehende, nur an einer Stelle von
einer kleinen weiß gestrichenen Eisentür unterbrochene
Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen-Cremmener Schindelturm mit
seinem blitzenden, weil neuerdings erst wieder vergoldeten Wetterhahn
aufragte. Fronthaus, Seitenflügel und Kirchhofsmauer bildeten
ein einen kleinen Ziergarten umschließendes Hufeisen, an
dessen offener Seite man eines Teiches mit Wassersteg und angeketteltem
Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren horizontal
gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei
Stricken hing - die Pfosten der Balkenlage schon etwas schief
stehend. Zwischen Teich und Rondell aber und die Schaukel halb
versteckend standen ein paar mächtige alte Platanen.
Auch die Front des Herrenhauses - eine mit Aloekübeln und
ein paar Gartenstühlen besetzte Rampe - gewährte bei
bewölktem Himmel einen angenehmen und zugleich allerlei Zerstreuung
bietenden Aufenthalt; an Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte,
wurde die Gartenseite ganz entschieden bevorzugt, besonders von
Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute wieder auf dem
im vollen Schatten liegenden Fliesengange saßen, in ihrem
Rücken ein paar offene, von wildem Wein umrankte Fenster,
neben sich eine vorspringende kleine Treppe, deren vier Steinstufen
vom Garten aus in das Hochparterre des Seitenflügels hinaufführten.
Beide, Mutter und Tochter, waren fleißig bei der Arbeit,
die der Herstellung eines aus Einzelquadraten zusammenzusetzenden
Altarteppichs galt; ungezählte Wollsträhnen und Seidendocken
lagen auf einem großen runden Tisch bunt durcheinander,
dazwischen - noch vom Lunch her - ein paar Dessertteller und eine
mit großen schönen Stachelbeeren gefüllte Majolikaschale.
Rasch und sicher ging die Wollnadel der Damen hin und her, aber
während die Mutter kein Auge von der Arbeit ließ, legte
die Tochter, die den Rufnamen Effi führte, von Zeit zu Zeit
die Nadel nieder und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten
Beugungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik
durchzumachen. Es war ersichtlich, dass sie sich diesen absichtlich
ein wenig ins Komische gezogenen Übungen mit ganz besonderer
Liebe hingab, und wenn sie dann so dastand und, langsam die Arme
hebend, die Handflächen hoch über dem Kopf zusammenlegte,
so sah auch wohl die Mama von ihrer Handarbeit auf, aber immer
nur flüchtig und verstohlen, weil sie nicht zeigen wollte,
wie entzückend sie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung
mütterlichen Stolzes sie voll berechtigt war. Effi trug ein
blau und weiß gestreiftes, halb kittelartiges Leinwandkleid,
dem erst ein fest zusammengezogener bronzefarbener Ledergürtel
die Taille gab; der Hals war frei, und über Schulter und
Nacken fiel ein breiter Matrosenkragen. In allem, was sie tat,
paarten sich Übermut und Grazie, während ihre lachenden
braunen Augen eine große, natürliche Klugheit und viel
Lebenslust und Herzensgüte verrieten. Man nannte sie die
»Kleine«, was sie sich nur gefallen lassen musste,
weil die schöne schlanke Mama noch um eine Handbreit höher
war.
Eben hatte sich Effi wieder erhoben, um abwechselnd nach links
und rechts ihre turnerischen Drehungen zu machen, als die von
ihrer Stickerei gerade wieder aufblickende Mama ihr zurief: »Effi,
eigentlich hättest du doch wohl Kunstreiterin werden müssen.
Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. Ich glaube beinah, dass
du so was möchtest.«
»Vielleicht, Mama. Aber wenn es so wäre, wer wäre
schuld? Von wem hab ich es? Doch nur von dir. Oder meinst du
von Papa? Da musst du nun selber lachen. Und dann, warum
steckst du mich in diesen Hänger, in diesen Jungenskittel?
Mitunter denk ich, ich komme noch wieder in kurze Kleider. Und
wenn ich die erst wieder habe, dann knicks ich auch wieder wie
ein Backfisch, und wenn dann die Rathenower herüberkommen,
setze ich mich auf Oberst Goetzes Schoß und reite hopp,
hopp. Warum auch nicht? Drei Viertel ist er Onkel und nur ein
Viertel Courmacher. Du bist schuld. Warum kriege ich keine Staatskleider?
Warum machst du keine Dame aus mir?«
»Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige
mich immer, wenn ich dich so sehe ...« Und die Mama schien
ernstlich willens, in Äußerung ihrer Sorgen und Ängste
fortzufahren. Aber sie kam nicht weit damit, weil in eben diesem
Augenblicke drei junge Mädchen aus der kleinen in der Kirchhofsmauer
angebrachten Eisentür in den Garten eintraten und einen Kiesweg
entlang auf das Rondell und die Sonnenuhr zuschritten. Alle drei
grüßten mit ihren Sonnenschirmen zu Effi herüber
und eilten dann auf Frau von Briest zu, um dieser die Hand zu
küssen. Diese tat rasch ein paar Fragen und lud dann die
Mädchen ein, ihnen oder doch wenigstens Effi auf eine halbe
Stunde Gesellschaft zu leisten: »Ich habe ohnehin noch zu
tun, und junges Volk ist am liebsten unter sich. Gehabt euch wohl.«
Und dabei stieg sie die vom Garten in den Seitenflügel führende
Steintreppe hinauf.
Zwei der jungen Mädchen - kleine, rundliche Persönchen,
zu deren krausem, rotblondem Haar ihre Sommersprossen und ihre
gute Laune ganz vorzüglich passten - waren Töchter
des auf Hansa, Skandinavien und Fritz Reuter eingeschworenen Kantors
Jahnke, der denn auch unter Anlehnung an seinen mecklenburgischen
Landsmann und Lieblingsdichter und nach dem Vorbilde von Mining
und Lining seinen eigenen Zwillingen die Namen Bertha und Hertha
gegeben hatte. Die dritte junge Dame war Hulda Niemeyer, Pastor
Niemeyers einziges Kind; sie war damenhafter als die beiden anderen,
dafür aber langweilig und eingebildet, eine lymphatische
Blondine, mit etwas vorspringenden, blöden Augen, die trotzdem
beständig nach was zu suchen schienen, weshalb denn auch
Klitzing von den Husaren gesagt hatte: »Sieht sie nicht aus,
als erwarte sie jeden Augenblick den Engel Gabriel?« Effi
fand, dass der etwas kritische Klitzing nur zu sehr Recht
habe, vermied es aber trotzdem, einen Unterschied zwischen den
drei Freundinnen zu machen. Am wenigsten war ihr in diesem Augenblicke
danach zu Sinn, und während sie die Arme auf den Tisch stemmte,
sagte sie: »Diese langweilige Stickerei. Gott sei Dank, dass
ihr da seid.«
»Nicht doch. Wie sie euch schon sagte, sie wäre
doch gegangen; sie erwartet nämlich Besuch, einen alten Freund
aus ihren Mädchentagen her, von dem ich euch nachher erzählen
muss, eine Liebesgeschichte mit Held und Heldin und zuletzt
mit Entsagung. Ihr werdet Augen machen und euch wundern. übrigens
habe ich Mamas alten Freund schon drüben in Schwantikow gesehen;
er ist Landrat, gute Figur und sehr männlich.«
»Eine Geschichte mit Entsagung ist nie schlimm. Aber ehe
Hertha nicht von den Stachelbeeren genommen, eh kann ich nicht
anfangen - sie lässt ja kein Auge davon. Übrigens
nimm so viel du willst, wir können ja hinterher neue pflücken;
nur wirf die Schalen weit weg oder noch besser, lege sie hier
auf die Zeitungsbeilage, wir machen dann eine Tüte daraus
und schaffen alles beiseite. Mama kann es nicht leiden, wenn die
Schlusen so überall umher liegen, und sagt immer, man könne
dabei ausgleiten und ein Bein brechen.«
»Meinetwegen. Denkst du, dass ich darauf warte? Das
fehlte noch. Übrigens, ich kriege schon einen, und vielleicht
bald. Da ist mir nicht bange. Neulich erst hat mir der kleine
Ventivegni von drüben gesagt: 'Fräulein Effi, was gilt
die Wette, wir sind hier noch in diesem Jahre zu Polterabend und
Hochzeit.'«
»'Wohl möglich', sagt ich, 'wohl möglich; Hulda
ist die älteste und kann sich jeden Tag verheiraten.' Aber
er wollte davon nichts wissen und sagte: 'Nein, bei einer anderen
jungen Dame, die geradeso brünett ist, wie Fräulein
Hulda blond ist.' Und dabei sah er mich ganz ernsthaft an ... Aber
ich komme vom Hundertsten aufs Tausendste und vergesse die Geschichte.«
»Ja, meine Liebe, das haben sie. Dafür sind es eben
Adelige. Die dürfen sich das gönnen,
und je weiter zurück, ich meine der Zeit nach, desto mehr
dürfen sie sich's gönnen. Aber davon versteht ihr nichts,
was ihr mir nicht übel nehmen dürft. Wir bleiben doch
gute Freunde. Geert von Innstetten also und Baron. Er ist gerade so
alt wie Mama, auf den Tag.«
»Nun, gib dich zufrieden, ich fange schon an ... Also Baron
Innstetten! Als er noch keine zwanzig war, stand er drüben
bei den Rathenowern und verkehrte viel auf den Gütern hier
herum, und am liebsten war er in Schwantikow drüben bei meinem
Großvater Belling. Natürlich war es nicht des Großvaters
wegen, dass er so oft drüben war, und wenn die Mama
davon erzählt, so kann jeder leicht sehen, um wen es eigentlich
war. Und ich glaube, es war auch gegenseitig.«
»Nun, es kam, wie's kommen musste, wie's immer kommt.
Er war ja noch viel zu jung, und als mein Papa sich einfand, der
schon Ritterschaftsrat war und Hohen-Cremmen hatte, da war kein
langes Besinnen mehr, und sie nahm ihn und wurde Frau von Briest
... Und das andere, was sonst noch kam, nun, das wisst ihr
... das andere bin ich.«
»Auch das nicht. Aber er mochte doch nicht länger hier
in der Nähe bleiben, und das ganze Soldatenleben überhaupt
muss ihm damals wie verleidet gewesen sein. Es war ja auch
Friedenszeit. Kurz und gut, er nahm den Abschied und fing an,
Juristerei zu studieren, wie Papa sagt, mit einem 'wahren Biereifer';
nur als der Siebziger Krieg kam, trat er wieder ein, aber bei
den Perlebergern statt bei seinem alten Regiment, und hat auch
das Kreuz. Natürlich, denn er ist sehr schneidig. Und gleich
nach dem Kriege saß er wieder bei seinen Akten, und es heißt,
Bismarck halte große Stücke von ihm und auch der Kaiser,
und so kam es denn, dass er Landrat wurde, Landrat im Kessiner
Kreise.«
»Nein, hier in unserer Gegend liegt es nicht; es liegt eine
hübsche Strecke von hier fort, in Pommern, in Hinterpommern
sogar, was aber nichts sagen will, weil es ein Badeort ist (alles
da herum ist Badeort), und die Ferienreise, die Baron Innstetten
jetzt macht, ist eigentlich eine Vetternreise oder doch etwas
Ähnliches. Er will hier alte Freundschaft und Verwandtschaft
wiedersehen.«
»Ja und nein, wie man's nehmen will. Innstettens gibt es
hier nicht, gibt es, glaub ich, überhaupt nicht mehr. Aber
er hat hier entfernte Vettern von der Mutter Seite her, und vor
allem hat er wohl Schwantikow und das Belling'sche Haus wiedersehen
wollen, an das ihn so viele Erinnerungen knüpfen. Da war
er denn vorgestern drüben, und heute will er hier in Hohen-Cremmen
sein.«
In diesem Augenblick schlug es Mittag, und ehe es noch ausgeschlagen,
erschien Wilke, das alte Briest'sche Haus- und
Familienfaktotum, um an Fräulein Effi zu bestellen: Die gnädige
Frau ließe bitten, dass das gnädige Fräulein
zu rechter Zeit auch Toilette mache; gleich nach eins würde
der Herr Baron wohl vorfahren. Und während Wilke dies noch
vermeldete, begann er auch schon auf dem Arbeitstisch der Damen
abzuräumen und griff dabei zunächst nach dem Zeitungsblatt,
auf dem die Stachelbeerschalen lagen.
»Irgendwas; es ist ganz gleich, es muss nur einen Reim
auf 'u' haben; 'u' ist immer Trauervokal. Also singen wir:
|
Flut, Flut
Mach alles wieder gut ...«
|
Sie sprachen noch eine Weile so weiter, wobei sie sich ihrer gemeinschaftlichen
Schulstunden und einer ganzen Reihe Holzapfel'scher Unpassendheiten
mit Empörung und Behagen erinnerten. Ja, man konnte sich
nicht genug tun damit, bis Hulda mit einem Male sagte: »Nun
aber ist es höchste Zeit, Effi; du siehst ja aus, ja, wie
sag ich nur, du siehst ja aus, wie wenn du vom Kirschenpflücken
kämst, alles zerknittert und zerknautscht; das Leinenzeug
macht immer so viele Falten, und der große, weiße Klappkragen
... ja, wahrhaftig, jetzt hab ich es, du siehst aus wie ein Schiffsjunge.«
»Midshipman, wenn ich bitten darf. Etwas muss ich doch
von meinem Adel haben. Übrigens, Midshipman oder Schiffsjunge,
Papa hat mir erst neulich wieder einen Mastbaum versprochen, hier
dicht neben der Schaukel, mit Rahen und einer Strickleiter. Wahrhaftig,
das sollte mir gefallen, und den Wimpel oben selbst anzumachen,
das ließ' ich mir nicht nehmen. Und du, Hulda, du kämst
dann von der anderen Seite her herauf, und oben in der Luft wollten
wir Hurra rufen und uns einen Kuss geben. Alle Wetter, das
sollte schmecken.«
»'Alle Wetter ...', wie das nun
wieder klingt ... du sprichst wirklich wie ein Midshipman. Ich
werde mich aber hüten dir nachzuklettern, ich bin nicht
so waghalsig. Jahnke hat ganz Recht, wenn er immer sagt, du hättest
zu viel von dem Belling'schen in dir, von deiner Mama her. Ich bin
bloß ein Pastorskind.«
»Ach, geh mir. Stille Wasser sind tief. Weißt du noch,
wie du damals, als Vetter Briest als Kadett hier war, aber doch
schon groß genug, wie du damals auf dem Scheunendach entlang rutschtest.
Und warum? Nun, ich will es nicht verraten. Aber kommt, wir wollen
uns schaukeln, auf jeder Seite zwei; reißen wird es ja wohl
nicht, oder wenn ihr nicht Lust habt, denn ihr macht wieder lange
Gesichter, dann wollen wir Anschlag spielen. Eine Viertelstunde
hab ich noch. Ich mag noch nicht hineingehen, und alles bloß,
um einem Landrat guten Tag zu sagen, noch dazu einem Landrat aus
Hinterpommern. Ältlich ist er auch, er könnte ja beinah mein
Vater sein, und wenn er wirklich in einer Seestadt wohnt, Kessin
soll ja so was sein, nun, da muss ich ihm in diesem Matrosenkostüm
eigentlich am besten gefallen und muss ihm beinah wie eine
große Aufmerksamkeit vorkommen. Fürsten, wenn sie wen
empfangen, so viel weiß ich von meinem Papa her, legen auch
immer die Uniform aus der Gegend des anderen an. Also nur nicht
ängstlich ... rasch, rasch, ich fliege aus und neben der
Bank hier ist frei.«
Hulda wollte noch ein paar Einschränkungen machen, aber Effi
war schon den nächsten Kiesweg hinauf, links hin, rechts
hin, bis sie mit einem Male verschwunden war.
»Effi, das gilt nicht; wo bist du? Wir spielen nicht Versteck,
wir spielen Anschlag!« Unter diesen und ähnlichen
Vorwürfen eilten die Freundinnen ihr nach, weit über
das Rondell und die beiden seitwärts stehenden Platanen hinaus,
bis die Verschwundene mit einem Male aus ihrem Verstecke hervorbrach
und mühelos, weil sie schon im Rücken ihrer Verfolger
war, mit »eins, zwei, drei« den Freiplatz neben der
Bank erreichte.
»Nein, pfui für euch, weil ihr verspielt habt. Hulda
mit ihren großen Augen sah wieder nichts, immer ungeschickt.«
Und dabei flog Effi von neuem über das Rondell hin auf den
Teich zu, vielleicht weil sie vorhatte, sich erst hinter einer
dort aufwachsenden dichten Haselnusshecke zu verstecken,
um dann von dieser aus mit einem weiten Umweg um Kirchhof und
Fronthaus wieder bis an den Seitenflügel und seinen Freiplatz
zu kommen. Alles war gut berechnet; aber freilich, ehe sie noch
halb um den Teich herum war, hörte sie schon vom Hause her
ihren Namen rufen und sah, während sie sich umwandte, die
Mama, die von der Steintreppe her mit ihrem Taschentuch winkte.
Noch einen Augenblick und Effi stand vor ihr.
»Ich halte schon Zeit, aber der Besuch hat nicht Zeit
gehalten. Es ist noch nicht eins, noch lange nicht.« Und
sich nach den Zwillingen hin umwendend (Hulda war noch weiter
zurück) rief sie diesen zu: »Spielt nur weiter; ich
bin gleich wieder da.«
Und der Mama zunickend, wollte sie leichten Fußes eine kleine
eiserne Stiege hinauf, die aus dem Saal in den Oberstock hinaufführte.
Frau von Briest aber, die unter Umständen auch unkonventionell
sein konnte, hielt plötzlich die schon forteilende Effi zurück,
warf einen Blick auf das jugendlich reizende Geschöpf, das,
noch erhitzt von der Aufregung des Spiels, wie ein Bild frischesten
Lebens vor ihr stand, und sagte beinahe vertraulich: »Es
ist am Ende das Beste, du bleibst, wie du bist. Ja, bleibe so.
Du siehst gerade sehr gut aus. Und wenn es auch nicht wäre,
du siehst so unvorbereitet aus, so gar nicht zurechtgemacht, und
darauf kommt es in diesem Augenblicke an. Ich muss dir nämlich
sagen, meine süße Effi ...«, und sie nahm ihres
Kindes beide Hände, »... ich muss dir nämlich
sagen ...«
»Es ist keine Sache, um einen Scherz daraus zu machen. Du
hast ihn vorgestern gesehen, und ich glaube, er hat dir auch gut
gefallen. Er ist freilich älter als du, was alles in allem
ein Glück ist, dazu ein Mann von Charakter, von Stellung
und guten Sitten, und wenn du nicht 'Nein' sagst, was ich mir von
meiner klugen Effi kaum denken kann, so stehst du mit zwanzig
Jahren da, wo andere mit vierzig stehen. Du wirst deine Mama weit
überholen.«
Effi schwieg und suchte nach einer Antwort. Aber ehe sie diese
finden konnte, hörte sie schon des Vaters Stimme von dem
angrenzenden noch im Fronthause gelegenen Hinterzimmer her, und
gleich danach überschritt Ritterschaftsrat von Briest, ein
wohl konservierter Fünfziger von ausgesprochener Bonhomie,
die Gartensalonschwelle - mit ihm Baron Innstetten, schlank, brünett
und von militärischer Haltung.
Effi, als sie seiner ansichtig wurde, kam in ein nervöses
Zittern; aber nicht auf lange, denn im selben Augenblicke fast,
wo sich Innstetten unter freundlicher Verneigung ihr näherte,
wurden an dem mittleren der weit offen stehenden und von wildem
Wein halb überwachsenen Fenster die rotblonden Köpfe
der Zwillinge sichtbar, und Hertha, die Ausgelassenste, rief in
den Saal hinein: »Effi, komm.«
Noch an demselben Tage hatte sich Baron Innstetten mit Effi Briest
verlobt. Der joviale Brautvater, der sich nicht leicht in seiner
Feierlichkeitsrolle zurechtfand, hatte bei dem Verlobungsmahl,
das folgte, das junge Paar leben lassen, was auf Frau von Briest,
die dabei der nun um kaum achtzehn Jahre zurückliegenden
Zeit gedenken mochte, nicht ohne herzbeweglichen Eindruck geblieben
war. Aber nicht auf lange; sie hatte es nicht sein können,
nun war es statt ihrer die Tochter - alles in allem ebenso gut
oder vielleicht noch besser. Denn mit Briest ließ sich leben,
trotzdem er ein wenig prosaisch war und dann und wann einen kleinen
frivolen Zug hatte. Gegen Ende der Tafel, das Eis wurde schon
herumgereicht, nahm der alte Ritterschaftsrat noch einmal das
Wort, um in einer zweiten Ansprache das allgemeine Familien-Du
zu proponieren. Er umarmte dabei Innstetten und gab ihm einen
Kuss auf die linke Backe. Hiermit war aber die Sache für
ihn noch nicht abgeschlossen, vielmehr fuhr er fort, außer
dem »Du« zugleich intimere Namen und Titel für
den Hausverkehr zu empfehlen, eine Art Gemütlichkeitsrangliste
aufzustellen, natürlich unter Wahrung berechtigter, weil
wohlerworbener Eigentümlichkeiten. Für seine Frau, so
hieß es, würde der Fortbestand von »Mama«
(denn es gäbe auch junge Mamas) wohl das Beste sein, während
er für seine Person unter Verzicht auf den Ehrentitel »Papa«
das einfache Briest entschieden bevorzugen müsse, schon weil
es so hübsch kurz sei. Und was nun die Kinder angehe - bei
welchem Wort er sich Aug in Auge mit dem nur etwa um ein Dutzend
Jahre jüngeren Innstetten einen Ruck geben musste -
nun, so sei Effi eben Effi und Geert Geert. Geert, wenn er nicht
irre, habe die Bedeutung von einem schlank aufgeschossenen Stamm,
und Effi sei dann also der Efeu, der sich darum zu ranken habe.
Das Brautpaar sah sich bei diesen Worten etwas verlegen an, Effi
zugleich mit einem Ausdruck kindlicher Heiterkeit, Frau von Briest
aber sagte: »Briest, sprich was du willst und formuliere
deine Toaste nach Gefallen, nur poetische Bilder, wenn ich dich bitten
darf, lass beiseite, das liegt jenseits deiner Sphäre.«
Zurechtweisende Worte, die bei Briest mehr Zustimmung als Ablehnung
gefunden hatten. »Es ist möglich, dass du Recht
hast, Luise.«
Gleich nach Aufhebung der Tafel beurlaubte sich Effi, um einen
Besuch drüben bei Pastors zu machen. Unterwegs sagte sie
sich: »Ich glaube, Hulda wird sich ärgern. Nun bin ich
ihr doch zuvorgekommen - sie war immer zu eitel und eingebildet.«
Aber Effi traf es mit ihrer Erwartung nicht ganz; Hulda, durchaus
Haltung bewahrend, benahm sich sehr gut und überließ
die Bezeugung von Unmut und ärger ihrer Mutter, der Frau
Pastorin, die denn auch sehr sonderbare Bemerkungen machte. »Ja,
ja, so geht es. Natürlich. Wenn's die Mutter nicht sein konnte,
muss es die Tochter sein. Das kennt man. Alte Familien halten
immer zusammen, und wo was is, kommt was dazu.«
Der alte Niemeyer kam in arge Verlegenheit über diese fortgesetzten
spitzen Redensarten ohne Bildung und Anstand und beklagte mal
wieder, eine Wirtschafterin geheiratet zu haben.
Nach diesem im Pfarr- und Kantorhause gemachten Besuche, der keine
halbe Stunde gedauert hatte, war Effi wieder nach drüben
zurückgekehrt, wo man auf der Gartenveranda eben den Kaffee
nehmen wollte. Schwiegervater und Schwiegersohn gingen auf dem
Kieswege zwischen den zwei Platanen auf und ab. Briest sprach
von dem Schwierigen einer landrätlichen Stellung; sie sei
ihm verschiedentlich angetragen worden, aber er habe jedes Mal
gedankt. »So nach meinem eigenen Willen schalten und walten
zu können, ist mir immer das Liebste gewesen, jedenfalls lieber
- Pardon, Innstetten - als so die Blicke beständig
nach oben richten zu müssen. Man hat dann bloß immer
Sinn und Merk für hohe und höchste Vorgesetzte. Das
ist nichts für mich. Hier leb ich so frei weg und freue mich
über jedes grüne Blatt und über den wilden Wein,
der da drüben in die Fenster wächst.«
Er sprach noch mehr dergleichen, allerhand Antibeamtliches, und
entschuldigte sich von Zeit zu Zeit mit einem kurzen, verschiedentlich
wiederkehrenden »Pardon, Innstetten.« Dieser nickte
mechanisch zustimmend, war aber eigentlich wenig bei der Sache,
sah vielmehr wie gebannt immer aufs Neue nach dem drüben
am Fenster rankenden wilden Wein hinüber, von dem Briest
eben gesprochen, und während er dem nachhing, war es ihm,
als säh er wieder die rotblonden Mädchenköpfe
zwischen den Weinranken und höre dabei den übermütigen
Zuruf: »Effi, komm.«
Er glaubte nicht an Zeichen und Ähnliches, im Gegenteil,
wies alles Abergläubische weit zurück. Aber er konnte
trotzdem von den zwei Worten nicht los, und während Briest
immer weiterperorierte, war es ihm beständig, als wäre
der kleine Hergang doch mehr als ein bloßer Zufall gewesen.
Innstetten, der nur einen kurzen Urlaub genommen, war schon am
folgenden Tage wieder abgereist, nachdem er versprochen hatte, jeden
Tag schreiben zu wollen. »Ja, das musst du«, hatte
Effi gesagt, ein Wort, das ihr von Herzen kam, da sie seit Jahren
nichts Schöneres kannte als beispielsweise den Empfang vieler
Geburtstagsbriefe. Jeder musste ihr zu diesem Tage schreiben.
In den Brief eingestreute Wendungen etwa wie »Gertrud und
Klara senden dir mit mir ihre herzlichsten Glückwünsche«,
waren verpönt; Gertrud und Klara, wenn sie Freundinnen sein
wollten, hatten dafür zu sorgen, dass ein Brief mit
selbständiger Marke daläge, womöglich - denn ihr
Geburtstag fiel noch in die Reisezeit - mit einer fremden, aus der
Schweiz oder Karlsbad.
Innstetten, wie versprochen, schrieb wirklich jeden Tag; was aber
den Empfang seiner Briefe ganz besonders angenehm machte, war
der Umstand, dass er allwöchentlich nur einmal einen
ganz kleinen Antwortbrief erwartete. Den erhielt er denn auch,
voll reizend nichtigen und ihn jedes Mal entzückenden Inhalts.
Was es von ernsteren Dingen zu besprechen gab, das verhandelte
Frau von Briest mit ihrem Schwiegersohne: Festsetzungen wegen der
Hochzeit, Ausstattungs- und Wirtschafts-Einrichtungsfragen. Innstetten,
schon an die drei Jahre im Amt, war in seinem Kessiner Hause nicht
glänzend, aber doch sehr standesgemäß eingerichtet,
und es empfahl sich, in der Korrespondenz mit ihm ein Bild von
allem, was da war, zu gewinnen, um nichts Unnützes anzuschaffen.
Schließlich, als Frau von Briest über all diese Dinge
genugsam unterrichtet war, wurde seitens Mutter und Tochter eine
Reise nach Berlin beschlossen, um, wie Briest sich ausdrückte,
den »trousseau« für Prinzessin Effi zusammenzukaufen.
Effi freute sich sehr auf den Aufenthalt in Berlin, umso mehr,
als der Vater darein gewilligt hatte, im Hotel du Nord Wohnung
zu nehmen. Was es koste, könne ja von der Ausstattung abgezogen
werden; Innstetten habe ohnehin alles. Effi - ganz im Gegensatze
zu der solche »Mesquinerien« ein für allemal sich
verbittenden Mama - hatte dem Vater ohne jede Sorge darum, ob
er's scherz- oder ernsthaft gemeint hatte, freudig zugestimmt
und beschäftigte sich in ihren Gedanken viel, viel mehr mit
dem Eindruck, den sie beide, Mutter und Tochter, bei ihrem Erscheinen
an der Table d'hôte machen würden, als mit Spinn und
Mencke, Goschenhofer und ähnlichen Firmen, die vorläufig
notiert worden waren. Und diesen ihren heiteren Phantasien entsprach
denn auch ihre Haltung, als die große Berliner Woche nun
wirklich da war. Vetter Briest vom Alexander-Regiment, ein ungemein
ausgelassener junger Leutnant, der die »Fliegenden Blätter«
hielt und über die besten Witze Buch führte, stellte
sich den Damen für jede dienstfreie Stunde zur Verfügung,
und so saßen sie denn mit ihm bei Kranzler am Eckfenster
oder zu statthafter Zeit auch wohl im Café
Bauer und fuhren nachmittags in den Zoologischen Garten, um da
die Giraffen zu sehen, von denen Vetter Briest, der übrigens
Dagobert hieß, mit Vorliebe behauptete, sie sähen aus
wie adlige alte Jungfern. Jeder Tag verlief programmmäßig,
und am dritten oder vierten Tag gingen sie wie vorgeschrieben
in die Nationalgalerie, weil Vetter Dagobert seiner Kusine die
»Insel der Seligen« zeigen wollte. Fräulein Kusine
stehe zwar auf dem Punkte, sich zu verheiraten, es sei aber doch
vielleicht gut, die 'Insel der Seligen' schon vorher
kennen gelernt zu haben. Die Tante gab ihm einen Schlag mit dem
Fächer, begleitete diesen Schlag aber mit einem so gnädigen
Blick, dass er keine Veranlassung hatte, den Ton zu ändern.
Es waren himmlische Tage für alle drei, nicht zum wenigsten
für den Vetter, der so wundervoll zu chaperonnieren und kleine
Differenzen immer rasch auszugleichen verstand. An solchen Meinungsverschiedenheiten
zwischen Mutter und Tochter war nun, wie das so geht, all die
Zeit über kein Mangel, aber sie traten glücklicherweise
nie bei den zu machenden Einkäufen hervor. Ob man von einer
Sache sechs oder drei Dutzend erstand, Effi war mit allem gleichmäßig
einverstanden, und wenn dann auf dem Heimwege von dem Preise der
eben eingekauften Gegenstände gesprochen wurde, so verwechselte
sie regelmäßig die Zahlen. Frau von Briest, sonst so
kritisch auch ihrem eigenen geliebten Kinde gegenüber, nahm
dies anscheinend mangelnde Interesse nicht nur von der leichten
Seite, sondern erkannte sogar einen Vorzug darin. »Alle diese Dinge«,
so sagte sie sich, »bedeuten Effi nicht viel. Effi ist anspruchslos;
sie lebt in ihren Vorstellungen und Träumen, und wenn die
Prinzessin Friedrich Karl vorüberfährt und sie von ihrem
Wagen aus freundlich grüßt, so gilt ihr das mehr als
eine ganze Truhe voll Weißzeug.«
Das alles war auch richtig, aber doch nur halb. An dem Besitze
mehr oder weniger alltäglicher Dinge lag Effi nicht viel,
aber wenn sie mit der Mama die Linden hinauf- und hinunterging
und nach Musterung der schönsten Schaufenster in den Demuth'schen
Laden eintrat, um für die gleich nach der Hochzeit geplante
italienische Reise allerlei Einkäufe zu machen, so zeigte
sich ihr wahrer Charakter. Nur das Eleganteste gefiel ihr, und
wenn sie das Beste nicht haben konnte, so verzichtete sie auf
das Zweitbeste, weil ihr dies Zweite nun nichts mehr bedeutete.
Ja, sie konnte verzichten, darin hatte die Mama Recht, und in
diesem Verzichtenkönnen lag etwas von Anspruchslosigkeit;
wenn es aber ausnahmsweise mal wirklich etwas zu besitzen galt,
so musste dies immer was ganz Apartes sein. Und darin
war sie anspruchsvoll.
Vetter Dagobert war am Bahnhof, als die Damen ihre Rückreise
nach Hohen-Cremmen antraten. Es waren glückliche Tage gewesen,
vor allem auch darin, dass man nicht unter unbequemer und
beinahe unstandesgemäßer Verwandtschaft gelitten hatte.
»Für Tante Therese«, so hatte Effi gleich nach
der Ankunft gesagt, »müssen wir diesmal inkognito bleiben.
Es geht nicht, dass sie hier ins Hotel kommt. Entweder Hotel
du Nord oder Tante Therese; beides zusammen passt nicht.«
Die Mama hatte sich schließlich einverstanden damit erklärt,
ja, dem Lieblinge zur Besiegelung des Einverständnisses einen
Kuss auf die Stirn gegeben.
Mit Vetter Dagobert war das natürlich etwas ganz anderes
gewesen, der hatte nicht bloß den Gardepli, der hatte vor
allem auch mit Hilfe jener eigentümlich guten Laune, wie
sie bei den Alexanderoffizieren beinahe traditionell geworden,
sowohl Mutter wie Tochter von Anfang an anzuregen und aufzuheitern
gewusst, und diese gute Stimmung dauerte bis zuletzt. »Dagobert«,
so hieß es noch beim Abschied, »du kommst also zu meinem
Polterabend, und natürlich mit Cortège. Denn nach
den Aufführungen (aber kommt mir nicht mit Dienstmann oder
Mausefallenhändler) ist Ball. Und du musst bedenken,
mein erster großer Ball ist vielleicht auch mein letzter.
Unter sechs Kameraden - natürlich beste Tänzer - wird
gar nicht angenommen. Und mit dem Frühzug könnt ihr
wieder zurück.« Der Vetter versprach alles, und so trennte
man sich.
Gegen Mittag trafen beide Damen an ihrer havelländischen
Bahnstation ein, mitten im Luch, und fuhren in einer halben Stunde
nach Hohen-Cremmen hinüber. Briest war sehr froh, Frau und
Tochter wieder zu Hause zu haben, und stellte Fragen über
Fragen, deren Beantwortung er meist nicht abwartete. Statt dessen
erging er sich in Mitteilung dessen, was er inzwischen erlebt.
»Ihr habt mir da vorhin von der Nationalgalerie gesprochen
und von der 'Insel der Seligen' - nun, wir haben hier, während
ihr fort wart, auch so was gehabt: Und Pink war sonst ein ungewöhnlich
tüchtiger Mann, hier leider am unrechten Fleck. Aber lassen
wir das; Wilke wird schon unruhig.«
Bei Tische hörte Briest besser zu; das gute Einvernehmen
mit dem Vetter, von dem ihm viel erzählt wurde, hatte seinen
Beifall, weniger das Verhalten gegen Tante Therese. Man sah aber
deutlich, dass er inmitten seiner Missbilligung sich
eigentlich darüber freute; denn ein kleiner Schabernack entsprach
ganz seinem Geschmack, und Tante Therese war wirklich eine lächerliche
Figur. Er hob sein Glas und stieß mit Frau und Tochter an.
Auch als nach Tisch einzelne der hübschesten Einkäufe
von ihm ausgepackt und seiner Beurteilung unterbreitet wurden,
verriet er viel Interesse, das selbst noch anhielt, oder wenigstens
nicht ganz hinstarb, als er die Rechnung überflog. »Etwas
teuer, oder sagen wir lieber sehr teuer; indessen es tut nichts.
Es hat alles so viel chic, ich möchte sagen so viel Animierendes,
dass ich deutlich fühle, wenn du mir solchen Koffer
und solche Reisedecke zu Weihnachten schenkst, so sind wir zu
Ostern auch in Rom und machen nach achtzehn Jahren unsere Hochzeitsreise.
Was meinst du, Luise? Wollen wir nachexerzieren? Spät kommt
ihr, doch ihr kommt.«
Frau von Briest machte eine Handbewegung, wie wenn sie sagen wollte
»unverbesserlich«, und überließ ihn im Übrigen
seiner eigenen Beschämung, die aber nicht groß war.
Ende August war da, der Hochzeitstag (3. Oktober) rückte
näher, und sowohl im Herrenhause wie in der Pfarre und Schule
war man unausgesetzt bei den Vorbereitungen zum Polterabend. Jahnke,
getreu seiner Fritz-Reuter-Passion, hatte sich's als etwas besonders
»Sinniges« ausgedacht, Bertha und Hertha als Lining
und Mining auftreten zu lassen, natürlich plattdeutsch, während
Hulda das Käthchen von Heilbronn in der Holunderbaumszene
darstellen sollte, Leutnant Engelbrecht von den Husaren als Wetter
vom Strahl. Niemeyer, der sich den Vater der Idee nennen durfte,
hatte keinen Augenblick gesäumt, auch die verschämte
Nutzanwendung auf Innstetten und Effi hinzuzudichten. Er selbst
war mit seiner Arbeit zufrieden und hörte gleich nach der
Leseprobe von allen Beteiligten viel Freundliches darüber,
freilich mit Ausnahme seines Patronatsherrn und alten Freundes
Briest, der, als er die Mischung von Kleist und Niemeyer mit angehört
hatte, lebhaft protestierte, wenn auch keineswegs aus literarischen
Gründen. »Hoher Herr und immer wieder Hoher Herr - was
soll das? Das leitet in die Irre, das verschiebt alles. Innstetten,
unbestritten, ist ein famoses Menschenexemplar, Mann von Charakter
und Schneid, aber die Briests - verzeih den Berolinismus, Luise -
die Briests sind schließlich auch nicht von schlechten Eltern.
Wir sind doch nun mal eine historische Familie, lass mich
hinzufügen Gott sei Dank, und die Innstettens sind es nicht;
die Innstettens sind bloß alt, meinetwegen Uradel, aber
was heißt Uradel? Ich will nicht, dass eine Briest
oder doch mindestens eine Polterabendfigur, in der jeder das Widerspiel
unserer Effi erkennen muss - ich will nicht, dass eine
Briest mittelbar oder unmittelbar in einem fort von 'Hoher Herr'
spricht. Da müsste denn doch Innstetten wenigstens ein
verkappter Hohenzoller sein, es gibt ja dergleichen. Das ist er
aber nicht, und so kann ich nur wiederholen, es verschiebt die
Situation.«
Und wirklich, Briest hielt mit besonderer Zähigkeit eine
ganze Zeit lang an dieser Anschauung fest. Erst nach der zweiten
Probe, wo das »Käthchen«, schon halb im Kostüm,
ein sehr eng anliegendes Sammetmieder trug, ließ er sich
- der es auch sonst nicht an Huldigungen gegen Hulda fehlen ließ
- zu der Bemerkung hinreißen, das Käthchen liege sehr
gut da, welche Wendung einer Waffenstreckung ziemlich gleichkam
oder doch zu solcher hinüberleitete. Dass alle diese
Dinge vor Effi geheim gehalten wurden, braucht nicht erst gesagt
zu werden. Bei mehr Neugier auf Seiten dieser Letzteren wäre
das nun freilich ganz unmöglich gewesen, aber Effi hatte
so wenig Verlangen, in die Vorbereitungen und geplanten Überraschungen
einzudringen, dass sie der Mama mit allem Nachdruck erklärte,
sie könne es abwarten, und wenn diese dann zweifelte, so
schloss Effi mit der wiederholten Versicherung: Es wäre
wirklich so; die Mama könne es glauben. Und warum auch nicht?
Es sei ja doch alles nur Theateraufführung und hübscher
und poetischer als »Aschenbrödel«, das sie noch
am letzten Abend in Berlin gesehen hätte, hübscher und
poetischer könne es ja doch nicht sein. Da hätte sie
wirklich selber mitspielen mögen, wenn auch nur, um dem lächerlichen
Pensionslehrer einen Kreidestrich auf den Rücken zu machen.
»Und wie reizend im letzten Akt 'Aschenbrödels Erwachen
als Prinzessin' oder wenigstens als Gräfin; wirklich, es
war ganz wie ein Märchen.« In dieser Weise sprach sie
oft, war meist ausgelassener als vordem und ärgerte sich
bloß über das beständige Tuscheln und Geheimtun
der Freundinnen. »Ich wollte, sie hätten sich weniger
wichtig und wären mehr für mich da. Nachher bleiben
sie doch bloß stecken, und ich muss mich um sie ängstigen
und mich schämen, dass es meine Freundinnen sind.«
So gingen Effis Spottreden, und es war ganz unverkennbar, dass
sie sich um Polterabend und Hochzeit nicht allzu sehr kümmerte.
Frau von Briest hatte so ihre Gedanken darüber, aber zu Sorgen
kam es nicht, weil sich Effi, was doch ein gutes Zeichen war,
ziemlich viel mit ihrer Zukunft beschäftigte und sich, phantasiereich
wie sie war, Viertelstunden lang in Schilderungen ihres Kessiner
Lebens erging, Schilderungen, in denen sich nebenher und sehr
zur Erheiterung der Mama eine merkwürdige Vorstellung von
Hinterpommern aussprach oder vielleicht auch, mit kluger Berechnung,
aussprechen sollte. Sie gefiel sich nämlich darin, Kessin
als einen halbsibirischen Ort aufzufassen, wo Eis und Schnee nie
recht aufhörten.
»Heute hat Goschenhofer das Letzte geschickt«, sagte
Frau von Briest, als sie wie gewöhnlich in Front des Seitenflügels
mit Effi am Arbeitstische saß, auf dem die Leinen- und Wäschevorräte
beständig wuchsen, während der Zeitungen, die bloß
Platz wegnahmen, immer weniger wurden. »Ich hoffe, du hast
nun alles, Effi. Wenn du aber noch kleine Wünsche hegst,
so musst du sie jetzt aussprechen, womöglich in dieser
Stunde noch. Papa hat den Raps vorteilhaft verkauft und ist ungewöhnlich
guter Laune.«
»Ja, liebe Mama, was soll ich da sagen. Eigentlich habe ich
ja alles, was man braucht, ich meine, was man hier braucht.
Aber da mir's nun mal bestimmt ist, so hoch nördlich zu kommen
... ich bemerke, dass ich nichts dagegen habe, im Gegenteil,
ich freue mich darauf, auf die Nordlichter und auf den helleren
Glanz der Sterne ... da mir's nun mal so bestimmt ist, so hätte
ich wohl gern einen Pelz gehabt.«
»Gewiss, Kind. Auf dem Wege dahin bist du, aber was
heißt das? Wenn du von hier nach Nauen fährst, bist
du auch auf dem Wege nach Russland. Im Übrigen, wenn
du's wünschst, so sollst du einen Pelz haben. Nur das lass
mich im Voraus sagen, ich rate dir davon ab. Ein Pelz ist für
ältere Personen, selbst deine alte Mama ist noch zu jung
dafür, und wenn du mit deinen siebzehn Jahren in Nerz oder
Marder auftrittst, so glauben die Kessiner, es sei eine Maskerade.«
Das war am 2. September, dass sie so sprachen, ein Gespräch,
das sich wohl fortgesetzt hätte, wenn nicht gerade Sedantag
gewesen wäre. So aber wurden sie durch Trommel- und Pfeifenklang
unterbrochen, und Effi, die schon vorher von dem beabsichtigten
Aufzuge gehört, aber es wieder vergessen hatte, stürzte
mit einem Male von dem gemeinschaftlichen Arbeitstische fort und
an Rondell und Teich vorüber auf einen kleinen an die Kirchhofsmauer
angebauten Balkon zu, zu dem sechs Stufen, nicht viel breiter
als Leitersprossen, hinaufführten. Im Nu war sie oben, und
richtig, da kam auch schon die ganze Schuljugend heran, Jahnke
gravitätisch am rechten Flügel, während ein kleiner
Tambourmajor weit voran an der Spitze des Zuges marschierte,
mit einem Gesichtsausdruck, als ob ihm obläge, die Schlacht
bei Sedan noch einmal zu schlagen. Effi winkte mit dem Taschentuch,
und der Begrüßte versäumte nicht, mit seinem blanken
Kugelstock zu salutieren.
»Aber Effi, so darfst du nicht sprechen; das hast du von
deinem Vater, dem nichts heilig ist und der neulich sogar sagte:
Niemeyer sähe aus wie Lot. Unerhört. Und was soll es
nur heißen? Erstlich weiß er nicht, wie Lot ausgesehen
hat, und zweitens ist es eine grenzenlose Rücksichtslosigkeit
gegen Hulda. Ein Glück, dass Niemeyer nur die einzige
Tochter hat, dadurch fällt es eigentlich in sich zusammen.
In einem freilich hat er nur zu sehr Recht gehabt, in all und jedem,
was er über 'Lots Frau', unsere gute Frau Pastorin, sagte,
die uns denn auch wirklich wieder mit ihrer Torheit und Anmaßung
den ganzen Sedantag ruinierte. Wobei mir übrigens einfällt,
dass wir, als Jahnke mit der Schule vorbeikam, in unserem
Gespräch unterbrochen wurden - wenigstens kann ich mir nicht
denken, dass der Pelz, von dem du damals sprachst, dein einziger
Wunsch gewesen sein sollte. Lass mich also wissen, Schatz,
was du noch weiter auf dem Herzen hast.«
»Nein, Effi, nichts Unpassendes. Und vor deiner Mutter nun
schon gewiss nicht. Denn ich kenne dich ja. Du bist eine
phantastische kleine Person, malst dir mit Vorliebe Zukunftsbilder
aus, und je farbenreicher sie sind, desto schöner und begehrlicher
erscheinen sie dir. Ich sah das so recht, als wir die Reisesachen
kauften. Und nun denkst du dir's ganz wundervoll, einen Bettschirm
mit allerhand fabelhaftem Getier zu haben, alles im Halblicht
einer roten Ampel. Es kommt dir vor wie ein Märchen, und
Du möchtest eine Prinzessin sein.«
»Ja, so bist du. Ich weiß es wohl. Aber meine liebe
Effi, wir müssen vorsichtig im Leben sein, und zumal wir
Frauen. Und wenn du nun nach Kessin kommst, einem kleinen Ort,
wo nachts kaum eine Laterne brennt, so lacht man über dergleichen.
Und wenn man bloß lachte. Die, die dir ungewogen sind, und
solche gibt es immer, sprechen von schlechter Erziehung, und manche
sagen auch wohl noch Schlimmeres.«
Effi schien antworten zu wollen, aber in diesem Augenblicke kam
Wilke und brachte Briefe. Der eine war aus Kessin von Innstetten.
»Ach, von Geert«, sagte Effi, und während sie den
Brief beiseite steckte, fuhr sie in ruhigem Ton fort: »Aber das
wirst du doch gestatten, dass ich den Flügel
schräg in die Stube stelle. Daran liegt mir mehr als an einem
Kamin, den mir Geert versprochen hat. Und das Bild von dir, das
stell ich dann auf eine Staffelei; ganz ohne dich kann ich nicht
sein. Ach, wie werd ich mich nach euch sehnen, vielleicht auf
der Reise schon und dann in Kessin ganz gewiss. Es soll ja
keine Garnison haben, nicht einmal einen Stabsarzt, und ein Glück,
dass es wenigstens ein Badeort ist. Vetter Briest, und daran
will ich mich aufrichten, dessen Mutter und Schwester immer nach
Warnemünde gehen - nun, ich sehe doch wirklich nicht ein,
warum der die lieben Verwandten nicht auch einmal nach Kessin
hin dirigieren sollte. Dirigieren, das klingt ohnehin so nach
Generalstab, worauf er, glaub ich, ambiert. Und dann kommt er
natürlich mit und wohnt bei uns. Übrigens haben die
Kessiner, wie mir neulich erst wer erzählt hat, ein ziemlich
großes Dampfschiff, das zweimal die Woche nach Schweden
hinüberfährt. Und auf dem Schiffe ist dann Ball (sie
haben da natürlich auch Musik), und er tanzt sehr gut ...«
»Und dann würde er dir antworten: 'Was du hast, Effi,
das ist das Bessere'. Denn er ist nicht nur ein Mann der feinsten
Formen, er ist auch gerecht und verständig und weiß
recht gut, was Jugend bedeutet. Er sagt sich das immer und stimmt
sich auf das Jugendliche hin, und wenn er in der Ehe so bleibt,
so werdet ihr eine Musterehe führen.«
»Ich bin ... nun, ich bin für gleich und gleich und natürlich
auch für Zärtlichkeit und Liebe. Und wenn es Zärtlichkeit
und Liebe nicht sein können, weil Liebe, wie Papa sagt, doch
nur ein Papperlapapp ist (was ich aber nicht glaube), nun, dann
bin ich für Reichtum und ein vornehmes Haus, ein ganz vornehmes,
wo Prinz Friedrich Karl zur Jagd kommt, auf Elchwild oder Auerhahn,
oder wo der alte Kaiser vorfährt und für jede Dame,
auch für die jungen, ein gnädiges Wort hat. Und wenn
wir dann in Berlin sind, dann bin ich für Hofball und Galaoper,
immer dicht neben der großen Mittelloge.«
»Ach, Mama, wie du nur so was sagen kannst. Freilich, wenn
im Winter die liebe Verwandtschaft vorgefahren kommt und sechs
Stunden bleibt oder wohl auch noch länger, und Tante Gundel
und Tante Olga mich mustern und mich naseweis finden - und Tante
Gundel hat es mir auch mal gesagt - ja, da macht sich's mitunter
nicht sehr hübsch, das muss ich zugeben. Aber sonst
bin ich hier immer glücklich gewesen, so glücklich ...«
»Also: Liebe Effi! Je näher wir unsrem Hochzeitstage
kommen, je sparsamer werden deine Briefe. Wenn die Post kommt,
suche ich immer zuerst nach deiner Handschrift, aber wie du weißt
(und ich hab es ja auch nicht anders gewollt) in der Regel vergeblich.
Im Hause sind jetzt die Handwerker, die die Zimmer, freilich nur
wenige, für dein Kommen herrichten sollen. Das Beste wird
wohl erst geschehen, wenn wir auf der Reise sind. Tapezierer Madelung,
der alles liefert, ist ein Original, von dem ich dir mit nächstem
erzähle, vor allem aber, wie glücklich ich bin über
dich, über meine süße, kleine Effi. Mir brennt
hier der Boden unter den Füßen, und dabei wird es in
unserer guten Stadt immer stiller und einsamer. Der letzte Badegast
ist gestern abgereist; er badete zuletzt bei neun Grad, und die
Badewärter waren immer froh, wenn er wieder heil heraus war.
Denn sie fürchteten einen Schlaganfall, was dann das Bad
in Misskredit bringt, als ob die Wellen hier schlimmer wären
als woanders. Ich juble, wenn ich denke, dass ich in vier
Wochen schon mit dir von der Piazzetta aus nach dem Lido fahre
oder nach Murano hin, wo sie Glasperlen machen und schönen
Schmuck. Und der schönste sei für dich. Viele Grüße
den Eltern und den zärtlichsten Kuss dir von deinem
Geert.«
»Warum soll ich ihn nicht lieben? Ich liebe Hulda und ich
liebe Bertha und ich liebe Hertha. Und ich liebe auch den alten
Niemeyer. Und dass ich euch liebe, davon spreche ich gar
nicht erst. Ich liebe alle, die's gut mit mir meinen und gütig
gegen mich sind und mich verwöhnen. Und Geert wird mich auch
wohl verwöhnen. Natürlich auf seine Art. Er will mir
ja schon Schmuck schenken in Venedig. Er hat keine Ahnung davon,
dass ich mir nichts aus Schmuck mache. Ich klettere lieber
und ich schaukle mich lieber, und am liebsten immer in der Furcht,
dass es irgendwo reißen oder brechen und ich niederstürzen
könnte. Den Kopf wird es ja nicht gleich kosten.«
»Ja, wie. Nun, du darfst mich nicht auslachen. Es ist etwas,
was ich erst ganz vor kurzem aufgehorcht habe, drüben im
Pastorhause. Wir sprachen da von Innstetten, und mit einem Male
zog der alte Niemeyer seine Stirn in Falten, aber in Respekts-
und Bewunderungsfalten, und sagte: 'Ja, der Baron! Das ist ein
Mann von Charakter, ein Mann von Prinzipien'.«
»Gewiss. Und ich glaube, Niemeyer sagte nachher sogar,
er sei auch ein Mann von Grundsätzen. Und das ist, glaub
ich, noch etwas mehr. Ach, und ich ... ich habe keine. Sieh, Mama,
da liegt etwas, was mich quält und ängstigt. Er ist
so lieb und gut gegen mich und so nachsichtig, aber ... ich fürchte
mich vor ihm.«
Der Polterabend hatte jeden zufrieden gestellt, besonders die Mitspielenden,
und Hulda war dabei das Entzücken aller jungen Offiziere
gewesen, sowohl der Rathenower Husaren wie der etwas kritischer
gestimmten Kameraden vom Alexander-Regiment. Ja, alles war gut
und glatt verlaufen, fast über Erwarten. Nur Bertha und Hertha
hatten so heftig geschluchzt, dass Jahnkes plattdeutsche
Verse so gut wie verloren gegangen waren. Aber auch das hatte wenig
geschadet. Einige feine Kenner waren sogar der Meinung gewesen,
das sei das Wahre; Steckenbleiben und Schluchzen und Unverständlichkeit
- in diesem Zeichen (und nun gar, wenn es so hübsche
rotblonde Krausköpfe wären) werde immer am entschiedensten
gesiegt. Eines ganz besonderen Triumphes hatte sich Vetter Briest
in seiner selbst gedichteten Rolle rühmen dürfen. Er
war als Demuth'scher Kommis erschienen, der in Erfahrung gebracht,
die junge Braut habe vor, gleich nach der Hochzeit nach Italien
zu reisen, weshalb er einen Reisekoffer abliefern wolle. Dieser
Koffer entpuppte sich natürlich als eine Riesenbonbonniere
von Hövel. Bis um drei Uhr war getanzt worden, bei welcher
Gelegenheit der sich mehr und mehr in eine höchste Champagnerstimmung
hineinredende alte Briest allerlei Bemerkungen über den an
manchen Höfen immer noch üblichen Fackeltanz und die
merkwürdige Sitte des Strumpfband-Austanzens gemacht hatte,
Bemerkungen, die nicht abschließen wollten und sich immer
mehr steigernd am Ende so weit gingen, dass ihnen durchaus
ein Riegel vorgeschoben werden musste. »Nimm dich zusammen,
Briest«, war ihm in ziemlich ernstem Tone von seiner Frau
zugeflüstert worden, »du stehst hier nicht, um Zweideutigkeiten
zu sagen, sondern um die Honneurs des Hauses zu machen. Wir haben
eben eine Hochzeit und nicht eine Jagdpartie.« Worauf Briest
geantwortet, er sähe darin keinen so großen Unterschied;
übrigens sei er glücklich.
Auch der Hochzeitstag selbst war gut verlaufen. Niemeyer hatte vorzüglich gesprochen,
und einer der alten Berliner Herren, der halb und halb zur Hofgesellschaft
gehörte, hatte sich auf dem Rückwege von der Kirche zum
Hochzeitshause dahin geäußert, es sei doch merkwürdig,
wie reich gesät in einem Staate wie der unsrige die Talente
seien. »Ich sehe darin einen Triumph unserer Schulen und
vielleicht mehr noch unserer Philosophie. Wenn ich bedenke,
dieser Niemeyer, ein alter Dorfpastor, der anfangs aussah wie
ein Hospitalit ... ja, Freund, sagen Sie selbst, hat er nicht
gesprochen wie ein Hofprediger. Dieser Takt und diese Kunst der
Antithese, ganz wie Kögel, und an Gefühl ihm noch über.
Kögel ist zu kalt. Freilich ein Mann in seiner Stellung
muss kalt sein. Woran scheitert man denn im Leben überhaupt?
Immer nur an der Wärme.« Der noch unverheiratete, aber
wohl eben deshalb zum vierten Male in einem »Verhältnis«
stehende Würdenträger, an den sich diese Worte gerichtet
hatten, stimmte selbstverständlich zu. »Nur zu wahr,
lieber Freund«, sagte er. »Zuviel Wärme! ... ganz
vorzüglich ... Übrigens muss ich Ihnen nachher
eine Geschichte erzählen.«
Der Tag nach der Hochzeit war ein heller Oktobertag. Die Morgensonne
blinkte; trotzdem war es schon herbstlich frisch, und Briest,
der eben gemeinschaftlich mit seiner Frau das Frühstück
genommen, erhob sich von seinem Platz und stellte sich, beide
Hände auf dem Rücken, gegen das mehr und mehr verglimmende
Kaminfeuer. Frau von Briest, eine Handarbeit in Händen, rückte
gleichfalls näher an den Kamin und sagte zu Wilke, der gerade
eintrat, um den Frühstückstisch abzuräumen: »Und
nun, Wilke, wenn Sie drin im Saal, aber das geht vor, alles in
Ordnung haben, dann sorgen Sie, dass die Torten nach drüben
kommen, die Nusstorte zu Pastors und die Schüssel mit
kleinen Kuchen zu Jahnkes. Und nehmen Sie sich mit den Gläsern
in Acht. Ich meine die dünn geschliffenen.«
»Luise, du bist eine Spielverderberin. Aber ich nehme nichts
übel, auch nicht einmal so was. Im Übrigen, was wollen
wir von uns sprechen, die wir nicht einmal eine Hochzeitsreise
gemacht haben. Dein Vater war dagegen. Aber Effi macht nun eine
Hochzeitsreise. Beneidenswert. Mit dem Zehn-Uhr-Zug ab. Sie müssen
jetzt schon bei Regensburg sein, und ich nehme an, dass er
ihr - selbstverständlich ohne auszusteigen - die Hauptkunstschätze
der Walhalla herzählt. Innstetten ist ein vorzüglicher
Kerl, aber er hat so was von einem Kunstfex, und Effi, Gott, unsere
arme Effi ist ein Naturkind. Ich fürchte, dass er sie
mit seinem Kunstenthusiasmus etwas quälen wird.«
»Gefiel dir Effi? Gefiel dir die ganze Geschichte? Sie war
so sonderbar, halb wie ein Kind, und dann wieder sehr selbstbewusst
und durchaus nicht so bescheiden, wie sie's solchem Manne gegenüber
sein müsste. Das kann doch nur so zusammenhängen,
dass sie noch nicht recht weiß, was sie an ihm hat.
Oder ist es einfach, dass sie ihn nicht recht liebt? Das
wäre schlimm. Denn bei all seinen Vorzügen, er ist nicht
der Mann, sich diese Liebe mit leichter Manier zu gewinnen.«
»Ich sagte nur, sie habe mir nicht ihr Herz ausgeschüttet.
Solche Generalbeichte, so alles von der Seele herunter, das liegt
nicht in ihr. Es fuhr alles bloß ruckweis und plötzlich
aus ihr heraus, und dann war es wieder vorüber. Aber gerade
weil es so ungewollt und wie von ungefähr aus ihrer Seele
kam, deshalb war es mir so wichtig.«
»Es werden jetzt gerade drei Wochen sein, und wir saßen
im Garten mit allerhand Ausstattungsdingen, großen und
kleinen, beschäftigt, als Wilke einen Brief von Innstetten
brachte. Sie steckte ihn zu sich, und ich musste sie eine
Viertelstunde später erst erinnern, dass sie ja einen
Brief habe. Dann las sie ihn, aber verzog kaum eine Miene. Ich
bekenne dir, dass mir bang ums Herz dabei wurde, so bang,
dass ich gern eine Gewissheit haben wollte, so viel,
wie man in diesen Dingen haben kann.«
»Ich fragte also rundheraus, wie's stünde, und weil
ich bei ihrem eigenen Charakter einen feierlichen Ton vermeiden
und alles so leicht wie möglich, ja beinah scherzhaft nehmen
wollte, so warf ich die Frage hin, ob sie vielleicht den Vetter
Briest, der ihr in Berlin sehr stark den Hof gemacht hatte, ob
sie den vielleicht lieber heiraten würde ...«
»Da hättest du sie sehen sollen. Ihre nächste Antwort
war ein schnippisches Lachen. Der Vetter sei doch eigentlich nur
ein großer Kadett in Leutnantsuniform. Und einen Kadetten
könne sie nicht einmal lieben, geschweige heiraten. Und dann
sprach sie von Innstetten, der ihr mit einem Male der Träger
aller männlichen Tugenden war.«
»Ganz einfach. So geweckt und temperamentvoll und beinahe
leidenschaftlich sie ist, oder vielleicht auch, weil sie es ist,
sie gehört nicht zu denen, die so recht eigentlich auf Liebe
gestellt sind, wenigstens nicht auf das, was den Namen ehrlich
verdient. Sie redet zwar davon, sogar mit Nachdruck und einem
gewissen Überzeugungston, aber doch nur, weil sie irgendwo
gelesen hat, Liebe sei nun mal das Höchste, das Schönste,
das Herrlichste. Vielleicht hat sie's auch bloß von der
sentimentalen Person, der Hulda, gehört und spricht es ihr
nach. Aber sie empfindet nicht viel dabei. Wohl möglich,
dass es alles mal kommt, Gott verhüte es, aber noch
ist es nicht da.«
»Ja, das ist gut! Aber es ist erst die Hälfte. Ihr Ehrgeiz
wird befriedigt werden, aber ob auch ihr Hang nach Spiel und Abenteuer?
Ich bezweifle. Für die stündliche kleine Zerstreuung
und Anregung, für alles, was die Langeweile bekämpft,
diese Todfeindin einer geistreichen kleinen Person, dafür
wird Innstetten sehr schlecht sorgen. Er wird sie nicht in einer
geistigen Öde lassen, dazu ist er zu klug und zu weltmännisch,
aber er wird sie auch nicht sonderlich amüsieren. Und was
das Schlimmste ist, er wird sich nicht einmal recht mit der Frage
beschäftigen, wie das wohl anzufangen sei. Das wird eine
Weile so gehen, ohne viel Schaden anzurichten, aber zuletzt wird
sie's merken, und dann wird es sie beleidigen. Und dann weiß
ich nicht, was geschieht. Denn so weich und nachgiebig sie ist,
sie hat auch was Rabiates und lässt es auf alles ankommen.«
Dies war am Tage nach der Hochzeit. Drei Tage später kam
eine kleine gekritzelte Karte aus München, die Namen alle
nur mit zwei Buchstaben angedeutet. »Liebe Mama! Heute Vormittag
die Pinakothek besucht. Geert wollte auch noch nach dem andern
hinüber, das ich hier nicht nenne, weil ich wegen der Rechtschreibung
in Zweifel bin, und fragen mag ich ihn nicht. Er ist übrigens
engelsgut gegen mich und erklärt mir alles. Überhaupt
alles sehr schön, aber anstrengend. In Italien wird es wohl
nachlassen und besser werden. Wir wohnen in den 'Vier Jahreszeiten',
was Geert veranlasste mir zu sagen, draußen sei Herbst,
aber er habe in mir den Frühling. Ich finde es sehr sinnig.
Er ist überhaupt sehr aufmerksam. Freilich, ich muss
es auch sein, namentlich wenn er was sagt oder erklärt. Er
weiß übrigens alles so gut, dass er nicht einmal
nachzuschlagen braucht. Mit Entzücken spricht er von euch,
namentlich von Mama. Hulda findet er etwas zierig, aber der alte
Niemeyer hat es ihm ganz angetan. Tausend Grüße von
eurer ganz berauschten, aber auch etwas müden Effi.«
Solche Karten trafen nun täglich ein, aus Innsbruck, aus
Verona, aus Vicenza, aus Padua, eine jede fing an: »Wir haben
heute Vormittag die hiesige berühmte Galerie besucht«,
oder, wenn es nicht die Galerie war, so war es eine Arena oder
irgendeine Kirche »Santa Maria« mit einem Zunamen. Aus
Padua kam zugleich mit der Karte noch ein wirklicher Brief.
»Gestern waren wir in Vicenza. Vicenza muss man sehen
wegen des Palladio; Geert sagte mir, dass in ihm alles Moderne
wurzele. Natürlich nur in Bezug auf Baukunst. Hier in Padua
(wo wir heute früh ankamen) sprach er im Hotelwagen etliche
Male vor sich hin 'Er liegt in Padua begraben' und war überrascht,
als er von mir vernahm, dass ich diese Worte noch nie gehört
hätte. Schließlich aber sagte er, es sei eigentlich
ganz gut und ein Vorzug, dass ich nichts davon wüsste.
Er ist überhaupt sehr gerecht. Und vor allem ist er engelsgut
gegen mich und gar nicht überheblich und auch gar nicht alt.
Ich habe noch immer das Ziehen in den Füßen, und das
Nachschlagen und das lange Stehen vor den Bildern strengt mich
an. Aber es muss ja sein. Ich freue mich sehr auf Venedig.
Da bleiben wir fünf Tage, ja, vielleicht eine ganze Woche.
Geert hat mir schon von den Tauben auf dem Markusplatz vorgeschwärmt
und dass man sich da Tüten mit Erbsen kauft und dann
die schönen Tiere damit füttert. Es soll Bilder geben,
die das darstellen, schöne blonde Mädchen, 'ein Typus
wie Hulda', sagte er. Wobei mir denn auch die Jahnke'schen Mädchen
einfallen. Ach, ich gäbe was drum, wenn ich mit ihnen auf
unserm Hof auf einer Wagendeichsel sitzen und unsere Tauben füttern
könnte. Die Pfauentaube mit dem starken Kropf dürft
ihr aber nicht schlachten, die will ich noch wiedersehen. Ach,
es ist so schön hier. Es soll ja auch das Schönste sein.
Eure glückliche, aber etwas müde Effi.«
»Ach, Luise, komme mir doch nicht mit solchen Geschichten.
Effi ist unser Kind, aber seit dem 3. Oktober ist sie Baronin
Innstetten. Und wenn ihr Mann, unser Herr Schwiegersohn, eine
Hochzeitsreise machen und bei der Gelegenheit jede Galerie neu
katalogisieren will, so kann ich ihn daran nicht hindern. Das
ist eben das, was man sich verheiraten nennt.«
Mitte November - sie waren bis Capri und Sorrent gekommen - lief
Innstettens Urlaub ab, und es entsprach seinem Charakter und seinen
Gewohnheiten, genau Zeit und Stunde zu halten. Am 14. früh
traf er denn auch mit dem Kurierzuge in Berlin
ein, wo Vetter Briest ihn und die Kusine begrüßte
und vorschlug, die zwei bis zum Abgange des Stettiner Zuges noch
zur Verfügung bleibenden Stunden zum Besuch des St.-Privat-Panoramas
zu benutzen und diesem Panoramabesuch ein kleines Gabelfrühstück
folgen zu lassen. Beides wurde dankbar akzeptiert. Um Mittag war
man wieder auf dem Bahnhof und nahm hier, nachdem - wie herkömmlich -
die glücklicherweise nie ernst gemeinte Aufforderung, doch
auch mal herüberzukommen, ebenso von Effi wie
von Innstetten ausgesprochen worden war, unter herzlichem Händeschütteln
Abschied voneinander. Noch als der Zug sich schon in Bewegung
setzte, grüßte Effi vom Kupee aus. Dann machte
sie sich's bequem und schloss die Augen; nur von Zeit zu
Zeit richtete sie sich wieder auf und reichte Innstetten die Hand.
Es war eine angenehme Fahrt, und pünktlich erreichte der
Zug den Bahnhof Klein-Tantow, von dem aus eine Chaussee nach dem
noch zwei Meilen entfernten Kessin hinüberführte. Bei
Sommerzeit, namentlich während der Bademonate, benutzte man
statt der Chaussee lieber den Wasserweg und fuhr auf einem alten
Raddampfer das Flüsschen Kessine, dem Kessin selbst
seinen Namen verdankte, hinunter; am 1. Oktober aber stellte der
»Phönix«, von dem seit lange vergeblich gewünscht
wurde, dass er in einer passagierfreien Stunde sich seines
Namens entsinnen und verbrennen möge, regelmäßig
seine Fahrten ein, weshalb denn auch Innstetten bereits von Stettin
aus an seinen Kutscher Kruse telegraphiert hatte: »Fünf
Uhr Bahnhof Klein-Tantow. Bei gutem Wetter offener Wagen.«
»Dann, Effi, bitte steig ein.« Und während Effi
dem nachkam, und einer von den Bahnhofsleuten einen kleinen Handkoffer
vorn beim Kutscher unterbrachte, gab Innstetten Weisung, den Rest
des Gepäcks mit dem Omnibus nachzuschicken. Gleich danach
nahm auch er seinen Platz, bat, sich populär machend, einen
der Umstehenden um Feuer und rief Kruse zu: »Nun vorwärts,
Kruse.« Und über die Schienen weg, die vielgleisig an
der Übergangsstelle lagen, ging es in Schräglinie den
Bahndamm hinunter und gleich danach an einem schon an der Chaussee
gelegenen Gasthause vorüber, das den Namen »Zum Fürsten
Bismarck« führte. Denn an eben dieser Stelle gabelte
der Weg und zweigte wie rechts nach Kessin so links nach Varzin
hin ab. Vor dem Gasthofe stand ein mittelgroßer, breitschultriger
Mann in Pelz und Pelzmütze, welch letztere er, als der Herr
Landrat vorüberfuhr, mit vieler Würde vom Haupte nahm.
»Wer war denn das?«, sagte Effi, die durch alles, was
sie sah, aufs höchste interessiert und schon deshalb bei
bester Laune war. »Er sah ja aus wie ein Starost, wobei ich
freilich bekennen muss, nie einen Starosten gesehen zu haben.«
»Was auch nicht schadet, Effi. Du hast es trotzdem sehr gut
getroffen. Er sieht wirklich aus wie ein Starost und ist auch
so was. Er ist nämlich ein halber Pole, heißt Golchowski,
und wenn wir hier Wahl haben oder eine Jagd, dann ist er obenauf.
Eigentlich ein ganz unsicherer Passagier, dem ich nicht über
den Weg traue und der wohl viel auf dem Gewissen hat. Er spielt
sich aber auf den Loyalen hin aus und wenn die Varziner Herrschaften
hier vorüberkommen, möcht er sich am liebsten vor den
Wagen werfen. Ich weiß, dass er dem Fürsten auch
widerlich ist. Aber was hilft's? Wir dürfen es nicht mit
ihm verderben, weil wir ihn brauchen. Er hat hier die ganze Gegend
in der Tasche und versteht die Wahlmache wie kein anderer, gilt
auch für wohlhabend. Dabei leiht er auf Wucher, was sonst
die Polen nicht tun; in der Regel das Gegenteil.«
»Ja, gut aussehen tut er. Gut aussehen tun die meisten hier.
Ein hübscher Schlag Menschen. Aber das ist auch das Beste,
was man von ihnen sagen kann. Eure märkischen Leute sehen
unscheinbarer aus und verdrießlicher und in ihrer Haltung
sind sie weniger respektvoll, eigentlich gar nicht, aber ihr Ja
ist Ja und Nein ist Nein und man kann sich auf sie verlassen.
Hier ist alles unsicher.«
»Weil es eben ganz andere Menschen sind, ihrer Abstammung
nach und ihren Beziehungen nach. Was du hier landeinwärts
findest, das sind sogenannte Kaschuben, von denen du vielleicht
gehört hast, slavische Leute, die hier schon tausend Jahre
sitzen und wahrscheinlich noch viel länger. Alles aber, was
hier an der Küste hin in den kleinen See- und Handelsstädten
wohnt, das sind von weit her Eingewanderte, die sich um das kaschubische
Hinterland wenig kümmern, weil sie wenig davon haben und
auf etwas ganz anderes angewiesen sind. Worauf sie angewiesen
sind, das sind die Gegenden, mit denen sie Handel treiben, und
da sie das mit aller Welt tun und mit aller Welt in Verbindung
stehen, so findest du zwischen ihnen auch Menschen aus aller Welt
Ecken und Enden. Auch in unserem guten Kessin, trotzdem es eigentlich
nur ein Nest ist.«
»Auch einen Chinesen. Wie gut du raten kannst. Es ist möglich,
dass wir wirklich noch einen haben, aber jedenfalls haben
wir einen gehabt; jetzt ist er tot und auf einem kleinen eingegitterten
Stück Erde begraben, dicht neben dem Kirchhof. Wenn du nicht
furchtsam bist, will ich dir bei Gelegenheit mal sein Grab zeigen;
es liegt zwischen den Dünen, bloß Strandhafer drumrum
und dann und wann ein paar Immortellen, und immer hört man
das Meer. Es ist sehr schön und sehr schauerlich.«
»Ja, das hat er«, lachte Geert. »Aber der Rest
ist, Gott sei Dank, von ganz anderer Art, lauter manierliche Leute,
vielleicht ein bisschen zu sehr Kaufmann, ein bisschen
zu sehr auf ihren Vorteil bedacht, und mit Wechseln von zweifelhaftem
Wert immer bei der Hand. Ja, man muss sich vorsehen mit ihnen.
Aber sonst ganz gemütlich. Und damit du siehst, dass
ich dir nichts vorgemacht habe, will ich dir nur so eine kleine
Probe geben, so eine Art Register oder Personenverzeichnis.«
»Nein, Gott sei Dank nicht, denn es ist ein verhutzeltes
Männchen, auf das weder sein Clan noch Walter Scott besonders
stolz sein würden. Und dann haben wir in demselben Hause,
wo dieser Macpherson wohnt, auch noch einen alten Wundarzt, Beza
mit Namen, eigentlich bloß Barbier; der stammt aus Lissabon,
gerade daher, wo auch der berühmte General de Meza herstammt
- Meza, Beza, du hörst die Landesverwandtschaft heraus. Und
dann haben wir flussaufwärts am Bollwerk - das ist nämlich
der Quai, wo die Schiffe liegen - einen Goldschmied namens Stedingk,
der aus einer alten schwedischen Familie stammt; ja, ich glaube,
es gibt sogar Reichsgrafen, die so heißen, und des weiteren,
und damit will ich dann vorläufig abschließen, haben
wir den guten alten Doktor Hannemann, der natürlich ein Däne
ist und lange in Island war und sogar ein kleines Buch geschrieben
hat über den letzten Ausbruch des Hekla oder Krabla.«
»Das ist ja aber großartig, Geert. Das ist ja wie sechs
Romane, damit kann man ja gar nicht fertig werden. Es klingt erst
spießbürgerlich und ist doch hinterher ganz apart.
Und dann müsst ihr ja doch auch Menschen haben, schon
weil es eine Seestadt ist, die nicht bloß Chirurgen oder
Barbiere sind oder sonst dergleichen. Ihr müsst doch
auch Kapitäne haben, irgendeinen fliegenden Holländer
oder ...«
»Ja, Rollo. Du denkst dabei, vorausgesetzt, dass du
bei Niemeyer oder Jahnke von dergleichen gehört hast, an
den Normannenherzog, und unserer hat auch so was. Es ist aber
bloß ein Neufundländer, ein wunderschönes Tier,
das mich liebt und dich auch lieben wird. Denn Rollo ist ein Kenner.
Und solange du den um dich hast, so lange bist du sicher und kann
nichts an dich heran, kein Lebendiger und kein Toter. Aber sieh
mal den Mond da drüben. Ist es nicht schön?«
Effi, die, still in sich versunken, jedes Wort halb ängstlich,
halb begierig eingesogen hatte, richtete sich jetzt auf und sah
nach rechts hinüber, wo der Mond unter weißem, aber
rasch hinschwindendem Gewölk eben aufgegangen war. Kupferfarben
stand die große Scheibe hinter einem Erlengehölz und
warf ihr Licht auf eine breite Wasserfläche, die die Kessine
hier bildete. Oder vielleicht war es auch schon ein Haff, an dem
das Meer draußen seinen Anteil hatte.
Effi war wie benommen. »Ja, du hast Recht, Geert, wie schön;
aber es hat zugleich so was Unheimliches. In Italien habe ich
nie solchen Eindruck gehabt, auch nicht, als wir von Mestre nach
Venedig hinüberfuhren. Da war auch Wasser und Sumpf und Mondschein,
und ich dachte, die Brücke würde brechen; aber es war
nicht so gespenstig. Woran liegt es nur? Ist es doch das Nördliche?«
Eine halbe Stunde später hielt der Wagen an der ganz am entgegengesetzten
Ende der Stadt gelegenen landrätlichen Wohnung, einem einfachen,
etwas altmodischen Fachwerkhause, das mit seiner Front auf die
nach den Seebädern hinausführende Hauptstraße,
mit seinem Giebel aber auf ein zwischen der Stadt und den Dünen
liegendes Wäldchen, das die »Plantage« hieß,
hernieder blickte. Dies altmodische Fachwerkhaus war übrigens nur Innstettens
Privatwohnung, nicht das eigentliche Landratsamt, welches letztere
schräg gegenüber an der anderen Seite der Straße lag.
Kruse hatte nicht nötig, durch einen dreimaligen Peitschenknips
die Ankunft zu vermelden; längst hatte man von Tür und
Fenstern aus nach den Herrschaften ausgeschaut, und ehe noch der
Wagen heran war, waren bereits alle Hausinsassen auf dem die ganze
Breite des Bürgersteiges einnehmenden Schwellstein versammelt,
vorauf Rollo, der im selben Augenblicke, wo der Wagen hielt, diesen
zu umkreisen begann. Innstetten war zunächst seiner jungen
Frau beim Aussteigen behilflich und ging dann, dieser den Arm
reichend, unter freundlichem Gruß an der Dienerschaft vorüber,
die nun dem jungen Paare in den mit prächtigen alten Wandschränken
umstandenen Hausflur folgte. Das Hausmädchen, eine hübsche,
nicht mehr ganz jugendliche Person, der ihre stattliche Fülle
fast ebenso gut kleidete wie das zierliche Mützchen auf dem
blonden Haar, war der gnädigen Frau beim Ablegen von Muff
und Mantel behilflich und bückte sich eben, um ihr auch die
mit Pelz gefütterten Gummistiefel auszuziehen. Aber ehe sie
noch dazu kommen konnte, sagte Innstetten: »Es wird das Beste
sein, ich stelle dir gleich hier unsere gesamte Hausgenossenschaft
vor, mit Ausnahme der Frau Kruse, die sich - ich vermute sie wieder
bei ihrem unvermeidlichen schwarzen Huhn - nicht gerne sehen lässt.«
Alles lächelte. »Aber lassen wir Frau Kruse ... Dies
hier ist mein alter Friedrich, der schon mit mir auf der Universität
war ... Nicht wahr, Friedrich, gute Zeiten damals ... Und dies
hier ist Johanna, märkische Landsmännin von dir, wenn
du, was aus Pasewalker Gegend stammt, noch für voll gelten
lassen willst, und dies ist Christel, der wir mittags und abends
unser leibliches Wohl anvertrauen und die zu kochen versteht,
das kann ich dir versichern. Und dies hier ist Rollo. Nun, Rollo,
wie geht's?«
»Schon gut, Rollo, schon gut. Aber sieh da, das ist die Frau;
ich hab ihr von dir erzählt und ihr gesagt, dass du
ein schönes Tier seist und sie schützen würdest.«
Und nun ließ Rollo ab und setzte sich vor Innstetten nieder,
zugleich neugierig zu der jungen Frau aufblickend. Und als diese
ihm die Hand hinhielt, umschmeichelte er sie.
Effi hatte während dieser Vorstellungsszene Zeit gefunden,
sich umzuschauen. Sie war wie gebannt von allem, was sie sah,
und dabei geblendet von der Fülle von Licht. In der vorderen
Flurhälfte brannten vier, fünf Wandleuchter, die Leuchter
selbst sehr primitiv, von bloßem Weißblech, was aber
den Glanz und die Helle nur noch steigerte. Zwei mit roten Schleiern
bedeckte Astrallampen, Hochzeitsgeschenk von Niemeyer, standen
auf einem zwischen zwei Eichenschränken angebrachten Klapptisch,
in Front davon das Teezeug, dessen Lämpchen unter dem Kessel
schon angezündet war. Aber noch viel, viel anderes und zum
Teil sehr Sonderbares kam zu dem allen hinzu. Quer über den
Flur fort liefen drei die Flurdecke in ebenso viele Felder teilende
Balken; an dem vordersten hing ein Schiff mit vollen Segeln, hohem
Hinterdeck und Kanonenluken, während weiterhin ein riesiger
Fisch in der Luft zu schwimmen schien. Effi nahm ihren Schirm,
den sie noch in Händen hielt, und stieß leis an das
Ungetüm an, so dass es sich in eine langsam schaukelnde
Bewegung setzte.
Er bot nun Effi den Arm, und während sich die beiden Mädchen
zurückzogen und nur Friedrich und Rollo folgten, trat man
nach links hin in des Hausherrn Wohn- und Arbeitszimmer ein.
Effi war hier ähnlich überrascht wie draußen im
Flur; aber ehe sie sich darüber äußern konnte,
schlug Innstetten eine Portiere zurück, hinter der ein zweites,
etwas größeres Zimmer mit Blick auf Hof und Garten
gelegen war. »Das, Effi, ist nun also dein. Friedrich und
Johanna haben es, so gut es ging, nach meinen Anordnungen herrichten
müssen. Ich finde es ganz erträglich und würde
mich freuen, wenn es dir auch gefiele.«
»Ah, Gieshübler, Alonzo Gieshübler«, sagte Innstetten
und reichte lachend und in beinahe ausgelassener Laune die Karte
mit dem etwas fremdartig klingenden Vornamen zu Effi hinüber.
»Gieshübler, von dem hab ich dir zu erzählen vergessen
- beiläufig, er führt auch den Doktortitel, hat's aber
nicht gern, wenn man ihn dabei nennt, das ärgere, so meint
er, die richtigen Doktors bloß, und darin wird er wohl
Recht haben. Nun, ich denke, du wirst ihn kennen lernen, und zwar
bald; er ist unsere beste Nummer hier, Schöngeist und Original
und vor allem Seele von Mensch, was doch immer die Hauptsache
bleibt. Aber lassen wir das alles und setzen uns und nehmen unsern
Tee. Wo soll es sein? Hier bei dir oder drin bei mir? Denn eine
weitere Wahl gibt es nicht. Eng und klein ist meine Hütte.«
Es war schon heller Tag, als Effi am andern Morgen erwachte. Sie
hatte Mühe, sich zurechtzufinden. Wo war sie? Richtig, in
Kessin, im Hause des Landrats von Innstetten, und sie war seine
Frau, Baronin Innstetten. Und sich aufrichtend, sah sie sich neugierig
um; am Abend vorher war sie zu müde gewesen, um alles, was
sie da halb fremdartig, halb altmodisch umgab, genauer in Augenschein
zu nehmen. Zwei Säulen stützten den Deckenbalken, und
grüne Vorhänge schlossen den alkovenartigen Schlafraum,
in welchem die Betten standen, von dem Rest des Zimmers ab; nur
in der Mitte fehlte der Vorhang oder war zurückgeschlagen,
was ihr von ihrem Bette aus eine bequeme Orientierung gestattete.
Da, zwischen den zwei Fenstern, stand der schmale, bis hoch hinaufreichende
Trumeau, während rechts daneben und schon an der Flurwand
hin der große schwarze Kachelofen aufragte, der noch (so viel
hatte sie schon am Abend vorher bemerkt) nach alter Sitte von
außen her geheizt wurde. Sie fühlte jetzt, wie seine
Wärme herüberströmte. Wie schön es
doch war, im eigenen Hause zu sein; so viel Behagen hatte sie
während der ganzen Reise nicht empfunden, nicht einmal in Sorrent.
Aber wo war Innstetten? Alles still um sie her, niemand da. Sie
hörte nur den Ticktackschlag einer kleinen Pendule und
dann und wann einen dumpfen Ton im Ofen, woraus sie schloss,
dass vom Flur her ein paar neue Scheite nachgeschoben würden.
Allmählich entsann sie sich auch, dass Geert am Abend
vorher von einer elektrischen Klingel gesprochen hatte, nach der
sie denn auch nicht lange mehr zu suchen brauchte; dicht neben
ihrem Kissen war der kleine weiße Elfenbeinknopf, auf den
sie nun leise drückte.
Effi fühlte, dass sie die Frage nicht hätte tun
und die Vermutung, Innstetten könne nicht auf sie gewartet
haben, lieber nicht hätte aussprechen sollen. Es lag ihr
denn auch daran, diesen ihren Fehler so gut es ging wieder auszugleichen,
und als sie sich erhoben und vor dem Trumeau Platz genommen hatte,
nahm sie das Gespräch wieder auf und sagte: »Der Herr
hat übrigens ganz Recht. Immer früh auf, das war auch
Regel in meiner Eltern Haus. Wo die Leute den Morgen verschlafen,
da gibt es den ganzen Tag keine Ordnung mehr. Aber der Herr wird
es so streng mit mir nicht nehmen; eine ganze Weile hab ich diese
Nacht nicht schlafen können und habe mich sogar ein wenig
geängstigt.«
Johanna, während das Gespräch so ging, sah über
die Schulter der jungen Frau fort in den hohen schmalen Spiegel
hinein, um die Mienen Effis besser beobachten zu können.
Dann sagte sie: »Ja, das ist oben im Saal. Früher hörten
wir es in der Küche auch. Aber jetzt hören wir es nicht
mehr; wir haben uns daran gewöhnt.«
»O Gott bewahre, nicht im geringsten. Eine Weile wusste
man nicht recht, woher es käme, und der Herr Prediger machte
ein verlegenes Gesicht, trotzdem Doktor Gieshübler immer
nur darüber lachte. Nun aber wissen wir, dass es die
Gardinen sind. Der Saal ist etwas multrig und stockig und deshalb
stehen immer die Fenster auf, wenn nicht gerade Sturm ist. Und
da ist denn fast immer ein starker Zug oben und fegt die alten,
weißen Gardinen, die außerdem viel zu lang sind, über
die Dielen hin und her. Das klingt dann so wie seidne Kleider
oder auch wie Atlasschuhe, wie die gnäd'ge Frau eben bemerkte.«
»Natürlich ist es das. Aber ich begreife nur nicht,
warum dann die Gardinen nicht abgenommen werden. Oder man könnte
sie ja kürzer machen. Es ist ein so sonderbares Geräusch,
das einem auf die Nerven fällt. Und nun, Johanna, bitte
geben Sie mir noch das kleine Tuch und tupfen Sie mir die Stirn.
Oder nehmen Sie lieber den Refraichisseur aus meiner Reisetasche
... Ach, das ist schön und erfrischt mich. Nun werde ich
hinübergehen. Er ist doch noch da, oder war er schon aus?«
Innstetten schüttelte den Kopf. »Wie werd ich das?«
Effi fand aber ein Gefallen daran, sich anzuklagen, und wollte
von den Versicherungen ihres Mannes, dass sein »schon«
ganz aufrichtig gemeint gewesen sei, nichts hören. »Du
musst noch von der Reise her wissen, dass ich morgens nie
habe warten lassen. Im Laufe des Tages, nun ja, da ist es etwas
anderes. Es ist wahr, ich bin nicht sehr pünktlich, aber
ich bin keine Langschläferin. Darin, denk ich, haben mich
die Eltern gut erzogen.«
»Das sagst du so, weil wir noch in den Flitterwochen sind,
... aber nein, wir sind ja schon heraus. Ums Himmels willen, Geert,
daran habe ich noch gar nicht gedacht, wir sind ja schon über
sechs Wochen verheiratet, sechs Wochen und einen Tag. Ja, das
ist etwas anderes; da nehme ich es nicht mehr als Schmeichelei,
da nehme ich es als Wahrheit.«
»Der Kaffee ist ja vorzüglich«, sagte Effi, während sie zugleich
das Zimmer und seine Einrichtung musterte. »Das ist noch
Hotel-Kaffee oder wie der bei Bottegone, ... erinnerst du dich noch,
in Florenz mit dem Blick auf den Dom. Davon muss ich der
Mama schreiben, solchen Kaffee haben wir in Hohen-Cremmen nicht.
Überhaupt, Geert, ich sehe nun erst, wie vornehm ich mich
verheiratet habe. Bei uns konnte alles nur so gerade passieren.«
»Und dann, wie du wohnst. Als Papa sich den neuen Gewehrschrank
angeschafft und über seinem Schreibtisch einen Büffelkopf
und dicht darunter den alten Wrangel angebracht hatte (er war
nämlich mal Adjutant bei dem Alten), da dacht er Wunder, was
er getan; aber wenn ich mich hier umsehe, daneben ist unsere ganze
Hohen-Cremmener Herrlichkeit ja bloß dürftig und alltäglich.
Ich weiß gar nicht, womit ich das alles vergleichen soll;
schon gestern abend, als ich nur so flüchtig darüber
hinsah, kamen mir allerhand Gedanken.«
»Ja, welche. Du darfst aber nicht drüber lachen. Ich
habe mal ein Bilderbuch gehabt, wo ein persischer oder indischer
Fürst (denn er trug einen Turban) mit untergeschlagenen Beinen
auf einem roten Seidenkissen saß, und in seinem Rücken
war außerdem noch eine große rote Seidenrolle, die
links und rechts ganz bauschig zum Vorschein kam, und die Wand
hinter dem indischen Fürsten starrte von Schwertern und Dolchen
und Parderfellen und Schilden und langen türkischen Flinten.
Und sieh, ganz so sieht es hier bei dir aus, und wenn du noch
die Beine unterschlägst, ist die Ähnlichkeit vollkommen.«
»Das muss ich mir doch noch überlegen. Oder lieber,
lassen wir's überhaupt. Ich spreche nicht gern von Tod, ich
bin für Leben. Und nun sage mir, wie leben wir hier? Du hast
mir unterwegs allerlei Sonderbares von Stadt und Land erzählt,
aber wie wir selber hier leben werden, davon kein Wort. Dass
hier alles anders ist als in Hohen-Cremmen und Schwantikow, das
seh ich wohl, aber wir müssen doch in dem 'guten Kessin',
wie du's immer nennst, auch etwas wie Umgang und Gesellschaft
haben können. Habt ihr denn Leute von Familie in der Stadt?«
Innstetten lachte. »Ja, Honoratioren, die gibt es. Aber bei
Lichte besehen ist es nicht viel damit. Natürlich haben wir
einen Prediger und einen Amtsrichter und einen Rektor und einen
Lotsenkommandeur, und von solchen beamteten Leuten findet sich
schließlich wohl ein ganzes Dutzend zusammen, aber die meisten
davon: gute Menschen und schlechte Musikanten. Und was dann noch
bleibt, das sind bloß Konsuln.«
»Sogar gewiss. Es sind kleine, pfiffige Kaufleute, die,
wenn fremdländische Schiffe hier einlaufen und in irgendeiner
Geschäftsfrage nicht recht aus noch ein wissen, die dann mit
ihrem Rate zur Hand sind, und wenn sie diesen Rat gegeben und irgendeinem
holländischen oder portugiesischen Schiff einen Dienst geleistet
haben, so werden sie zuletzt zu beglaubigten Vertretern solcher
fremder Staaten, und gerade so viele Botschafter und Gesandte,
wie wir in Berlin haben, so viele Konsuln haben wir auch in Kessin,
und wenn irgendein Festtag ist, und es gibt hier viel Festtage,
dann werden alle Wimpel gehisst, und haben wir gerad eine
grelle Morgensonne, so siehst du an solchem Tage ganz Europa von
unsern Dächern flaggen und das Sternenbanner und den chinesischen
Drachen dazu.«
»Du bist in einer spöttischen Laune, Geert, und magst
auch wohl Recht haben. Aber ich, für meine kleine Person,
muss dir gestehen, dass ich dies alles entzückend
finde, und dass unsere havelländischen Städte daneben
verschwinden. Wenn sie da Kaisers Geburtstag feiern, so flaggt
es immer bloß schwarz und weiß und allenfalls ein
bisschen rot dazwischen, aber das kann sich doch nicht vergleichen
mit der Welt von Flaggen, von der du sprichst. überhaupt,
wie ich dir schon sagte, ich finde immer wieder und wieder, es
hat alles so was Fremdländisches hier, und ich habe noch
nichts gehört und gesehen, was mich nicht in eine gewisse
Verwunderung gesetzt hätte, gleich gestern abend das merkwürdige
Schiff draußen im Flur und dahinter der Haifisch und das
Krokodil und hier dein eigenes Zimmer. Alles so orientalisch,
und ich muss es wiederholen, alles wie bei einem indischen
Fürsten ...«
»Nichts, als was ich dir eben gesagt habe. Wohl eine Stunde
lang, als ich in der Nacht aufwachte, war es mir, als ob ich Schuhe
auf der Erde schleifen hörte und als würde getanzt und
fast auch wie Musik. Aber alles ganz leise. Und das hab ich dann
heute früh an Johanna erzählt, bloß um mich zu
entschuldigen, dass ich hinterher so lange geschlafen. Und
da sagte sie mir, das sei von den langen Gardinen oben im Saal.
Ich denke, wir machen kurzen Prozess damit und schneiden
die Gardinen etwas ab oder schließen wenigstens die Fenster;
es wird ohnehin bald stürmisch genug werden. Mitte November
ist ja die Zeit.«
Innstetten sah in einer kleinen Verlegenheit vor sich hin und
schien schwankend, ob er auf all das antworten solle. Schließlich
entschied er sich für Schweigen. »Du hast ganz Recht,
Effi, wir wollen die langen Gardinen oben kürzer machen.
Aber es eilt nicht damit, umso weniger, als es nicht sicher ist,
ob es hilft. Es kann auch was anderes sein, im Rauchfang oder
der Wurm im Holz oder ein Iltis. Wir haben nämlich hier Iltisse.
Jedenfalls aber, eh wir Änderungen vornehmen, musst
du dich in unserem Hauswesen erst umsehen, natürlich unter
meiner Führung; in einer Viertelstunde zwingen wir's. Und
dann machst du Toilette, nur ein ganz klein wenig, denn eigentlich
bist du so am reizendsten, - Toilette für unseren Freund Gieshübler;
es ist jetzt zehn vorüber, und ich müsste mich
sehr in ihm irren, wenn er nicht um elf oder doch spätestens
um die Mittagsstunde hier antreten und dir seinen Respekt devotest
zu Füßen legen sollte. Das ist nämlich die Sprache,
drin er sich ergeht. Übrigens, wie ich dir schon sagte, ein
kapitaler Mann, der dein Freund werden wird, wenn ich ihn und
dich recht kenne.«
Elf war es längst vorüber, aber Gieshübler hatte
sich noch immer nicht sehen lassen. »Ich kann nicht länger
warten«, hatte Geert gesagt, den der Dienst abrief. »Wenn
Gieshübler noch erscheint, so sei möglichst entgegenkommend,
dann wird es vorzüglich gehen; er darf nicht verlegen werden;
ist er befangen, so kann er kein Wort finden oder sagt die sonderbarsten
Dinge; weißt du ihn aber in Zutrauen und gute Laune zu bringen,
dann redet er wie ein Buch. Nun, du wirst es schon machen. Erwarte
mich nicht vor drei; es gibt drüben allerlei zu tun. Und
das mit dem Saal oben wollen wir noch überlegen; es wird
aber wohl am besten sein, wir lassen es beim Alten.«
Damit ging Innstetten und ließ seine junge Frau allein.
Diese saß etwas zurückgelehnt in einem lauschigen
Winkel am Fenster und stützte sich, während sie hinaussah,
mit ihrem linken Arm auf ein kleines Seitenbrett, das aus dem
Zylinderbüro herausgezogen war. Die Straße war die
Hauptverkehrsstraße nach dem Strande hin, weshalb denn auch
in Sommerzeit ein reges Leben hier herrschte, jetzt aber, um Mitte
November, war alles leer und still, und nur ein paar arme Kinder,
deren Eltern in etlichen ganz am äußersten Rande der
»Plantage« gelegenen Strohdachhäusern wohnten,
klappten in ihren Holzpantinen an dem Innstetten'schen Hause vorüber.
Effi empfand aber nichts von dieser Einsamkeit, denn ihre Phantasie
war noch immer bei den wunderlichen Dingen, die sie kurz vorher
während ihrer Umschau haltenden Musterung im Hause gesehen
hatte. Diese Musterung hatte mit der Küche begonnen, deren
Herd eine moderne Konstruktion aufwies, während an der Decke
hin, und zwar bis in die Mädchenstube hinein, ein elektrischer
Draht lief - beides vor kurzem erst hergerichtet. Effi war erfreut
gewesen, als ihr Innstetten davon erzählt hatte, dann aber
waren sie von der Küche wieder in den Flur zurück- und
von diesem in den Hof hinausgetreten, der in seiner ersten Hälfte
nicht viel mehr als ein zwischen zwei Seitenflügeln hinlaufender
ziemlich schmaler Gang war. In diesen Flügeln war alles untergebracht,
was sonst noch zu Haushalt und Wirtschaftsführung gehörte,
rechts Mädchenstube, Bedientenstube, Rollkammer, links eine
zwischen Pferdestall und Wagenremise gelegene, von der Familie
Kruse bewohnte Kutscherwohnung. Über dieser in einem Verschlage
waren die Hühner einlogiert und eine Dachklappe über
dem Pferdestall bildete den Aus- und Einschlupf für die Tauben.
All dies hatte sich Effi mit vielem Interesse angesehen, aber
dies Interesse sah sich doch weit überholt, als sie nach
ihrer Rückkehr vom Hof ins Vorderhaus unter Innstettens
Führung die nach oben führende Treppe hinaufgestiegen
war. Diese war schief, baufällig, dunkel; der Flur dagegen,
auf den sie mündete, wirkte beinah heiter, weil er viel Licht
und einen guten landschaftlichen Ausblick hatte: nach der einen
Seite hin über die Dächer des Stadtrandes und die »Plantage«
fort auf eine hoch auf einer Düne stehende holländische
Windmühle, nach der anderen Seite hin auf die Kessine, die
hier unmittelbar vor ihrer Einmündung ziemlich breit war
und einen stattlichen Eindruck machte. Diesem Eindruck konnte
man sich unmöglich entziehen, und Effi hatte denn auch nicht
gesäumt, ihrer Freude lebhaften Ausdruck zu geben. »Ja,
sehr schön, sehr malerisch«, hatte Innstetten, ohne
weiter darauf einzugehen, geantwortet und dann eine mit ihren
Flügeln etwas schief hängende Doppeltür geöffnet,
die nach rechts hin in den sogenannten Saal führte. Dieser
lief durch die ganze Etage; Vorder- und Hinterfenster standen
auf, und die mehr erwähnten langen Gardinen bewegten sich
in dem starken Luftzuge hin und her. In der Mitte der einen Längswand
sprang ein Kamin vor mit einer großen Steinplatte, während
an der Wand gegenüber ein paar blecherne Leuchter hingen,
jeder mit zwei Lichtöffnungen ganz so wie unten im Flur,
aber alles stumpf und ungepflegt. Effi war einigermaßen
enttäuscht, sprach es auch aus und erklärte, statt des
öden und ärmlichen Saals doch lieber die Zimmer an der
gegenübergelegenen Flurseite sehen zu wollen. »Da ist
nun eigentlich vollends nichts«, hatte Innstetten geantwortet,
aber doch die Türen geöffnet. Es befanden sich hier
vier einfenstrige Zimmer, alle gelb getüncht, gerade wie
der Saal, und ebenfalls ganz leer. Nur in einem standen drei Binsenstühle,
die durchgesessen waren, und an die Lehne des einen war ein kleines,
nur einen halber Finger langes Bildchen geklebt, das einen Chinesen
darstellte, blauer Rock mit gelben Pluderhosen und einen flachen
Hut auf dem Kopf. Effi sah es und sagte: »Was soll der Chinese?«
Innstetten selber schien von dem Bildchen überrascht und
versicherte, dass er es nicht wisse. »Das hat Christel
angeklebt oder Johanna. Spielerei. Du kannst sehen, es ist aus
einer Fibel herausgeschnitten.« Effi fand es auch und war
nur verwundert, dass Innstetten alles so ernsthaft nahm,
als ob es doch etwas sei. Dann hatte sie noch einmal einen Blick
in den Saal getan und sich dabei dahin geäußert, wie
es doch eigentlich schade sei, dass das alles leer stehe.
»Wir haben unten ja nur drei Zimmer, und wenn uns wer besucht,
so wissen wir nicht aus noch ein. Meinst du nicht, dass man
aus dem Saal zwei hübsche Fremdenzimmer machen könnte?
Das wäre so was für die Mama; nach hinten heraus könnte
sie schlafen und hätte den Blick auf den Fluss und die
beiden Molen, und vorn hätte sie die Stadt und die holländische
Windmühle. In Hohen-Cremmen haben wir noch immer bloß
eine Bockmühle. Nun sage, was meinst du dazu? Nächsten
Mai wird doch die Mama wohl kommen.«
Innstetten war mit allem einverstanden gewesen und hatte nur zum
Schlusse gesagt: »Alles ganz gut. Aber es ist doch am
Ende besser, wir logieren die Mama drüben ein, auf dem Landratsamt;
die ganze erste Etage steht da leer, gerade so wie hier, und sie
ist da noch mehr für sich.«
Das war so das Resultat des ersten Umgangs im Hause gewesen; dann
hatte Effi drüben ihre Toilette gemacht, nicht ganz so schnell
wie Innstetten angenommen, und nun saß sie in ihres Gatten
Zimmer und beschäftigte sich in ihren Gedanken abwechselnd
mit dem kleinen Chinesen oben und mit Gieshübler, der noch
immer nicht kam. Vor einer Viertelstunde war freilich ein kleiner,
schiefschultriger und fast schon so gut wie verwachsener Herr
in einem kurzen eleganten Pelzrock und einem hohen sehr glatt
gebürsteten Zylinder an der andern Seite der Straße
vorbeigegangen und hatte nach ihrem Fenster hinübergesehen.
Aber das konnte Gieshübler wohl nicht gewesen sein! Nein,
dieser schiefschultrige Herr, der zugleich etwas so Distinguiertes
hatte, das musste der Herr Gerichtspräsident gewesen
sein, und sie entsann sich auch wirklich, in einer Gesellschaft
bei Tante Therese mal einen solchen gesehen zu haben, bis ihr
mit einem Male einfiel, dass Kessin bloß einen Amtsrichter
habe.
Gieshübler folgte der voranschreitenden Effi ins Nebenzimmer,
wo diese auf einen der Fauteuils wies, während sie sich selbst
ins Sofa setzte. »Dass ich Ihnen sagen könnte,
welche Freude Sie mir gestern durch die schönen Blumen und
Ihre Karte gemacht haben. Ich hörte sofort auf, mich hier
als eine Fremde zu fühlen, und als ich dies Innstetten aussprach,
sagte er mir, wir würden überhaupt gute Freunde sein.«
»Ach, meine gnädigste Frau, sagen Sie nichts gegen die
Jugend. Die Jugend, auch in ihren Fehlern ist sie noch schön
und liebenswürdig, und das Alter, auch in seinen Tugenden
taugt es nicht viel. Persönlich kann ich in dieser Frage
freilich nicht mitsprechen, vom Alter wohl, aber von der Jugend
nicht, denn ich bin eigentlich nie jung gewesen. Personen meines
Schlages sind nie jung. Ich darf wohl sagen, das ist das Traurigste
von der Sache. Man hat keinen rechten Mut, man hat kein Vertrauen
zu sich selbst, man wagt kaum, eine Dame zum Tanz aufzufordern,
weil man ihr eine Verlegenheit ersparen will, und so gehen die
Jahre hin und man wird alt, und das Leben war arm und leer.«
»Und wenn ich mir so zurückrufe«, fuhr Effi fort,
»was ich alles erlebt habe ... viel ist es nicht, denn ich
bin wenig herausgekommen und habe fast immer auf dem Lande gelebt
... aber wenn ich es mir zurückrufe, so finde ich doch, dass
wir immer das lieben, was liebenswert ist. Und dann sehe ich doch
auch gleich, dass Sie anders sind als andere, dafür
haben wir Frauen ein scharfes Auge. Vielleicht ist es auch der
Name, der in Ihrem Falle mitwirkt. Das war immer eine Lieblingsbehauptung
unseres alten Pastors Niemeyer; der Name, so liebte er zu sagen,
besonders der Taufname, habe was geheimnisvoll Bestimmendes, und
Alonzo Gieshübler, so mein ich, schließt eine ganz
neue Welt vor einem auf, ja, fast möcht ich sagen dürfen,
Alonzo ist ein romantischer Name, ein Preziosa-Name.«
»Ganz wie Sie vermuten, meine Gnädigste. Und meine Mutter
war wirklich eine schöne Frau, so schlecht es mir persönlich
zusteht, die Beweisführung zu übernehmen. Aber als Ihr
Herr Gemahl vor drei Jahren hierher kam, lebte sie noch und hatte
noch ganz die Feueraugen. Er wird es mir bestätigen. Ich
persönlich bin mehr ins Gieshübler'sche geschlagen, Leute
von wenig Exterieur, aber sonst leidlich im Stande. Wir sitzen
hier schon in der vierten Generation, volle hundert Jahre, und
wenn es einen Apothekeradel gäbe...«
»So würden Sie ihn beanspruchen dürfen. Und ich
meinerseits nehme ihn für bewiesen an und sogar für
bewiesen ohne jede Einschränkung. Uns aus den alten Familien
wird das am leichtesten, weil wir, so wenigstens bin ich von meinem
Vater und auch von meiner Mutter her erzogen, jede gute Gesinnung,
sie komme woher sie wolle, mit Freudigkeit gelten lassen. Ich bin eine
geborene Briest und stamme von dem Briest ab, der am Tage vor der
Fehrbelliner Schlacht den überfall von Rathenow ausführte,
wovon Sie vielleicht einmal gehört haben ...«
»Eine Briest also. Und mein Vater, da reichen keine hundert Male,
dass er zu mir gesagt hat: Effi (so heiße ich
nämlich), Effi, hier sitzt es, bloß hier, und
als Froben das Pferd tauschte, da war er von Adel, und als Luther
sagte 'hier stehe ich', da war er erst recht von Adel. Und ich
denke, Herr Gieshübler, Innstetten hatte ganz Recht, als
er mir versicherte, wir würden gute Freundschaft halten.«
Gieshübler hätte nun am liebsten gleich eine Liebeserklärung
gemacht und gebeten, dass er als Cid oder irgend sonst ein
Campeador für sie kämpfen und sterben könne. Da
dies alles aber nicht ging und sein Herz es nicht mehr aushalten
konnte, so stand er auf, suchte nach seinem Hut, den er auch glücklicherweise
gleich fand, und zog sich nach wiederholtem Handkuss rasch
zurück, ohne weiter ein Wort gesagt zu haben.
So war Effis erster Tag in Kessin gewesen. Innstetten gab ihr
noch eine halbe Woche Zeit, sich einzurichten und die verschiedensten
Briefe nach Hohen-Cremmen zu schreiben, an die Mama, an Hulda
und die Zwillinge; dann aber hatten die Stadtbesuche begonnen,
die zum Teil (es regnete gerade so, dass man sich diese Ungewöhnlichkeit
schon gestatten konnte) in einer geschlossenen Kutsche gemacht
wurden. Als man damit fertig war, kam der Landadel an die Reihe.
Das dauerte länger, da sich bei den meist großen Entfernungen
an jedem Tag nur eine Visite machen ließ. Zuerst war man
bei den Borckes in Rothenmoor, dann ging es nach Morgnitz, Dabergotz
und Kroschentin, wo man bei den Ahlemanns, den Jatzkows und den
Grasenabbs den pflichtschuldigen Besuch abstattete. Noch ein paar
andere folgten, unter denen auch der alte Baron von Güldenklee
auf Papenhagen war. Der Eindruck, den Effi empfing, war überall
derselbe: mittelmäßige Menschen, von meist zweifelhafter
Liebenswürdigkeit, die, während sie vorgaben, über
Bismarck und die Kronprinzessin zu sprechen, eigentlich nur Effis
Toilette musterten, die von einigen als zu prätentiös
für eine so jugendliche Dame, von andern als zu wenig dezent
für eine Dame von gesellschaftlicher Stellung befunden wurde.
Man merke doch an allem die Berliner Schule: Sinn für Äußerliches
und eine merkwürdige Verlegenheit und Unsicherheit bei Berührung
großer Fragen. In Rothenmoor bei den Borckes und dann auch
bei den Familien in Morgnitz und Dabergotz war sie für »rationalistisch
angekränkelt«, bei den Grasenabbs in Kroschentin aber
rundweg für eine »Atheistin« erklärt worden.
Allerdings hatte die alte Frau von Grasenabb, eine Süddeutsche
(geborene Stiefel von Stiefelstein), einen schwachen Versuch gemacht,
Effi wenigstens für den Deismus zu retten; Sidonie von Grasenabb
aber, eine dreiundvierzigjährige alte Jungfer, war barsch
dazwischengefahren: »Ich sage dir, Mutter, einfach Atheistin,
kein Zollbreit weniger, und dabei bleibt es«, worauf die
Alte, die sich vor ihrer eigenen Tochter fürchtete, klüglich
geschwiegen hatte.
Die ganze Tournee hatte so ziemlich zwei Wochen gedauert, und
es war am 2. Dezember, als man zu schon später Stunde von
dem letzten dieser Besuche nach Kessin zurückkehrte. Dieser
letzte Besuch hatte den Güldenklees auf Papenhagen gegolten,
bei welcher Gelegenheit Innstetten dem Schicksal nicht entgangen
war, mit dem alten Güldenklee politisieren zu müssen.
»Ja, teuerster Landrat, wenn ich so den Wechsel der Zeiten
bedenke! Heute vor einem Menschenalter oder ungefähr so lange,
ja, da war auch ein 2. Dezember und der gute Louis und Napoleons-Neffe
- wenn er so was war und nicht eigentlich ganz woanders
herstammte, - der kartätschte damals auf die Pariser Kanaille.
Na, das mag ihm verziehen sein, für so was war er
der rechte Mann, und ich halte zu dem Satz: 'Jeder hat es gerade
so gut und so schlecht, wie er's verdient.' Aber dass er
nachher alle Schätzung verlor und anno siebzig so mir nichts
dir nichts auch mit uns anbinden wollte, sehen Sie, Baron,
das war, ja wie sag ich, das war eine Insolenz. Es ist ihm aber
auch heimgezahlt worden. Unser Alter da oben lässt sich
nicht spotten, der steht zu uns.«
»Ja«, sagte Innstetten, der klug genug war, auf solche
Philistereien anscheinend ernsthaft einzugehen, »der Held
und Eroberer von Saarbrücken wusste nicht, was er tat.
Aber Sie dürfen nicht zu streng mit ihm persönlich abrechnen.
Wer ist am Ende Herr in seinem Hause? Niemand. Ich richte mich
auch schon darauf ein, die Zügel der Regierung in andere
Hände zu legen, und Louis Napoleon, nun, der war vollends
ein Stück Wachs in den Händen seiner katholischen Frau,
oder sagen wir lieber, seiner jesuitischen Frau.«
»Wachs in den Händen seiner Frau, die ihm dann eine
Nase drehte. Natürlich, Innstetten, das war er. Aber
damit wollen Sie diese Puppe doch nicht etwa retten? Er ist und
bleibt gerichtet. An und für sich ist es übrigens noch
gar nicht mal erwiesen«, und sein Blick suchte bei diesen
Worten etwas ängstlich nach dem Auge seiner Ehehälfte,
»ob nicht Frauenherrschaft eigentlich als ein Vorzug gelten
kann; nur freilich, die Frau muss danach sein. Aber wer war
diese Frau? Sie war überhaupt keine Frau, im günstigsten
Falle war sie eine Dame, das sagt alles; 'Dame' hat beinah immer
einen Beigeschmack. Diese Eugenie - über deren Verhältnis
zu dem jüdischen Bankier ich hier gern hingehe, denn ich
hasse Tugendhochmut - hatte was vom Café chantant, und
wenn die Stadt, in der sie lebte, das Babel war, so war sie das
Weib von Babel. Ich mag mich nicht deutlicher ausdrücken,
denn ich weiß«, und er verneigte sich gegen Effi, »was
ich deutschen Frauen schuldig bin. Um Vergebung, meine Gnädigste,
dass ich diese Dinge vor Ihren Ohren überhaupt berührt
habe.«
»Ja«, sagte Innstetten, während er sein
Auf- und Abschreiten im Zimmer unterbrach, »diesen
Tag müssten wir nun wohl eigentlich feiern, und ich
weiß nur noch nicht womit. Soll ich dir einen Siegesmarsch
vorspielen oder den Haifisch draußen in Bewegung setzen
oder dich im Triumph über den Flur tragen? Etwas muss
doch geschehen, denn du musst wissen, das war nun heute die
letzte Visite.«
»Lass, ich werde mich schon bessern und will vorläufig
nur wissen, wie stehst du zu dieser ganzen Umgangs- und Verkehrsfrage?
Fühlst du dich zu dem einen oder andern hingezogen? Haben
die Borckes die Grasenabbs geschlagen oder umgekehrt, oder hältst
du's mit dem alten Güldenklee? Was er da über die Eugenie
sagte, machte doch einen sehr edlen und reinen Eindruck.«
»Und wenn's unser Adel nicht tut«, fuhr Innstetten fort,
ohne sich stören zu lassen, »wie stehst du zu den Kessiner
Stadthonoratioren? Wie stehst du zur Ressource? Daran hängt
doch am Ende Leben und Sterben. Ich habe dich da neulich mit unserem
reserveleutnantlichen Amtsrichter sprechen sehen, einem zierlichen
Männchen, mit dem sich vielleicht durchkommen ließe,
wenn er nur endlich von der Vorstellung los könnte, die Wiedereroberung
von Le Bourget durch sein Erscheinen in der Flanke zustande gebracht
zu haben. Und seine Frau! Sie gilt als die beste Bostonspielerin
und hat auch die hübschesten Anlegemarken. Also nochmals,
Effi, wie wird es werden in Kessin? Wirst du dich einleben? Wirst
du populär werden und mir die Majorität sichern, wenn
ich in den Reichstag will? Oder bist du für Einsiedlertum,
für Abschluss von der Kessiner Menschheit, so Stadt
wie Land?«
»Ich werde mich wohl für Einsiedlertum entschließen,
wenn mich die Mohrenapotheke nicht herausreißt. Bei Sidonie
werd ich dadurch freilich noch etwas tiefer sinken, aber darauf
muss ich es ankommen lassen; dieser Kampf muss eben
gekämpft werden. Ich steh und falle mit Gieshübler.
Es klingt etwas komisch, aber er ist wirklich der Einzige, mit
dem sich ein Wort reden lässt, der einzige richtige
Mensch hier.«
Das war am 2. Dezember. Eine Woche später war Bismarck in
Varzin, und nun wusste Innstetten, dass bis Weihnachten
und vielleicht noch darüber hinaus an ruhige Tage für
ihn gar nicht mehr zu denken sei. Der Fürst hatte noch von
Versailles her eine Vorliebe für ihn und lud ihn, wenn Besuch
da war, häufig zu Tisch, aber auch allein, denn der jugendliche,
durch Haltung und Klugheit gleich ausgezeichnete Landrat stand
ebenso in Gunst bei der Fürstin.
Zum 14. erfolgte die erste Einladung. Es lag Schnee, weshalb Innstetten
die fast zweistündige Fahrt bis an den Bahnhof, von wo noch
eine Stunde Eisenbahn war, im Schlitten zu machen vorhatte. »Warte
nicht auf mich, Effi. Vor Mitternacht kann ich nicht zurück
sein; wahrscheinlich wird es zwei oder noch später. Ich störe
dich aber nicht. Gehab dich wohl und auf Wiedersehen morgen früh.«
Und damit stieg er ein, und die beiden isabellfarbenen Graditzer
jagten im Fluge durch die Stadt hin und dann landeinwärts
auf den Bahnhof zu.
Das war die erste lange Trennung, fast auf zwölf Stunden.
Arme Effi. Wie sollte sie den Abend verbringen? Früh zu Bett,
das war gefährlich, dann wachte sie auf und konnte nicht
wieder einschlafen und horchte auf alles. Nein, erst recht müde
werden und dann ein fester Schlaf, das war das Beste. Sie schrieb
einen Brief an die Mama und ging dann zu Frau Kruse, deren gemütskranker
Zustand - sie hatte das schwarze Huhn oft bis in die Nacht hinein
auf ihrem Schoß - ihr Teilnahme einflößte. Die
Freundlichkeit indessen, die sich darin aussprach, wurde von der
in ihrer überheizten Stube sitzenden und nur still und stumm
vor sich hinbrütenden Frau keinen Augenblick erwidert, weshalb
Effi, als sie wahrnahm, dass ihr Besuch mehr als Störung
wie als Freude empfunden wurde, wieder ging und nur noch fragte,
ob die Kranke etwas haben wolle. Diese lehnte aber alles ab.
Inzwischen war es Abend geworden und die Lampe brannte schon.
Effi stellte sich ans Fenster ihres Zimmers und sah auf das Wäldchen
hinaus, auf dessen Zweigen der glitzernde Schnee lag. Sie war
von dem Bilde ganz in Anspruch genommen und kümmerte sich
nicht um das, was hinter ihr in dem Zimmer vorging. Als sie sich
wieder umsah, bemerkte sie, dass Friedrich still und geräuschlos
ein Kuvert gelegt und ein Kabarett auf den Sofatisch gestellt
hatte. »Ja so, Abendbrot ... Da werd ich mich nun wohl setzen
müssen.« Aber es wollte nicht schmecken, und so stand
sie wieder auf und las den an die Mama geschriebenen Brief noch
einmal durch. Hatte sie schon vorher ein Gefühl der Einsamkeit
gehabt, so jetzt doppelt. Was hätte sie darum gegeben, wenn
die beiden Jahnke'schen Rotköpfe jetzt eingetreten wären
oder selbst Hulda. Die war freilich immer so sentimental und beschäftigte
sich meist nur mit ihren Triumphen; aber so zweifelhaft und anfechtbar
diese Triumphe waren, sie hätte sich in diesem Augenblicke
doch gern davon erzählen lassen. Schließlich klappte
sie den Flügel auf, um zu spielen; aber es ging nicht. »Nein,
dabei werd ich vollends melancholisch; lieber lesen.« Und
so suchte sie nach einem Buche. Das erste, was ihr zu Händen
kam, war ein dickes, rotes Reisehandbuch, alter Jahrgang, vielleicht
schon aus Innstettens Leutnantstagen her. »Ja, darin will
ich lesen; es gibt nichts Beruhigenderes als solche Bücher.
Das Gefährliche sind bloß immer die Karten; aber vor
diesem Augenpulver, das ich hasse, werd ich mich schon hüten.«
Und so schlug sie denn auf gut Glück auf, Seite 153. Nebenan
hörte sie das Ticktack der Uhr und draußen Rollo, der,
seit es dunkel war, seinen Platz in der Remise aufgegeben und
sich wie jeden Abend so auch heute wieder auf die große
geflochtene Matte, die vor dem Schlafzimmer lag, ausgestreckt
hatte. Das Bewusstsein seiner Nähe minderte das Gefühl
ihrer Verlassenheit, ja, sie kam fast in Stimmung, und so begann
sie denn auch unverzüglich zu lesen. Auf der gerade vor ihr
aufgeschlagenen Seite war von der »Eremitage«, dem bekannten
markgräflichen Lustschloss in der Nähe von Bayreuth,
die Rede; das lockte sie, Bayreuth, Richard Wagner, und so las
sie denn: »Unter den Bildern in der Eremitage nennen wir noch eins,
das nicht durch seine Schönheit, wohl aber durch sein Alter
und durch die Person, die es darstellt, ein Interesse beansprucht.
Es ist dies ein stark nachgedunkeltes Frauenporträt, kleiner
Kopf, mit herben, etwas unheimlichen Gesichtszügen und einer
Halskrause, die den Kopf zu tragen scheint. Einige meinen, es
sei eine alte Markgräfin aus dem Ende des fünfzehnten
Jahrhunderts, andere sind der Ansicht, es sei die Gräfin
von Orlamünde; darin aber sind beide einig, dass es
das Bildnis der Dame sei, die seither in der Geschichte der Hohenzollern
unter dem Namen der »Weißen Frau« eine gewisse
Berühmtheit erlangt hat.«
»Das hab ich gut getroffen«, sagte Effi, während
sie das Buch beiseite schob; »ich will mir die Nerven beruhigen,
und das Erste, was ich lese, ist die Geschichte von der weißen
Frau, vor der ich mich gefürchtet habe, so lang ich denken
kann. Aber da nun das Gruseln mal da ist, will ich doch auch zu
Ende lesen.«
Und sie schlug wieder auf und las weiter: »... Ebendies alte Porträt
(dessen Original in der Hohenzollern'schen Familiengeschichte
solche Rolle spielt) spielt als Bild auch eine Rolle in
der Spezialgeschichte des Schlosses Eremitage, was wohl damit
zusammenhängt, dass es an einer dem Fremden unsichtbaren
Tapetentür hängt, hinter der sich eine vom Souterrain
her hinaufführende Treppe befindet. Es heißt, dass,
als Napoleon hier übernachtete, die 'Weiße Frau'
aus dem Rahmen herausgetreten und auf sein Bett zugeschritten
sei. Der Kaiser, entsetzt auffahrend, habe nach seinem Adjutanten
gerufen und bis an sein Lebensende mit Entrüstung von diesem
'maudit château' gesprochen.«
»Ich muss es aufgeben, mich durch Lektüre beruhigen
zu wollen«, sagte Effi. »Lese ich weiter, so komm ich
gewiss noch nach einem Kellergewölbe, wo der Teufel
auf einem Weinfass davongeritten ist. Es gibt, glaub ich,
in Deutschland viel dergleichen, und in einem Reisehandbuch muss
es sich natürlich alles zusammenfinden. Ich will also lieber
wieder die Augen schließen und mir, so gut es geht, meinen
Polterabend vorstellen: die Zwillinge, wie sie vor Tränen
nicht weiterkonnten, und dazu den Vetter Briest, der, als sich
alles verlegen anblickte, mit erstaunlicher Würde behauptete,
solche Tränen öffneten einem das Paradies. Er war wirklich
charmant und immer so übermütig ... Und nun ich! Und
gerade hier. Ach, ich tauge doch gar nicht für eine große
Dame. Die Mama, ja, die hätte hierher gepasst, die hätte,
wie's einer Landrätin zukommt, den Ton angegeben, und Sidonie
Grasenabb wäre ganz Huldigung gegen sie gewesen und hätte
sich über ihren Glauben oder Unglauben nicht groß beunruhigt.
Aber ich ... Ich bin ein Kind und werd es auch wohl bleiben. Einmal
hab ich gehört, das sei ein Glück. Aber ich weiß
doch nicht, ob das wahr ist. Man muss doch immer dahin passen,
wohin man nun mal gestellt ist.«
»Nun, das ist kein Unglück, eher umgekehrt. Die Jungen,
und das ist eben das Gute, stehen immer bloß vorm Spiegel
und zupfen und stecken sich was vor und sehen nicht viel und hören
nicht viel und sind noch nicht so, dass sie draußen
immer die Lichtstümpfe zählen und einem nicht gönnen,
dass man einen Kuss kriegt, bloß weil sie selber
keinen mehr kriegen.«
»Ja, gnäd'ge Frau ... Gnäd'ge Frau wollen entschuldigen
... Ich traf drüben die Frau Paaschen, und da hab ich mich
ein wenig verweilt. Es ist so still hier. Man ist immer froh,
wenn man einen Menschen trifft, mit dem man ein Wort sprechen
kann. Christel ist eine sehr gute Person, aber sie spricht nicht,
und Friedrich ist so dusig und auch so vorsichtig und will mit
der Sprache nie recht heraus. Gewiss, man muss auch
schweigen können, und die Paaschen, die so neugierig und
so ganz gewöhnlich ist, ist eigentlich gar nicht nach meinem
Geschmack; aber man hat es doch gern, wenn man mal was hört
und sieht.«
»Freilich«, lachte Effi, »das habe ich auch schon
gefunden. Es wird wohl an was anderem liegen. Aber die, die blond
sind, die haben auch immer einen weißen Teint, Sie auch,
Johanna, und ich möchte mich wohl verwetten, dass Sie
viel Nachstellung haben. Ich bin noch sehr jung, aber das weiß
ich doch auch. Und dann habe ich eine Freundin, die war auch so
blond, ganz flachsblond, noch blonder als Sie und war eine Predigerstochter
...«
»Aber ich bitte Sie, Johanna, was meinen Sie mit 'ja denn'.
Das klingt ja ganz anzüglich und sonderbar, und Sie werden
doch nichts gegen Predigerstöchter haben ... Es war ein sehr
hübsches Mädchen, was selbst unsere Offiziere - wir
hatten nämlich Offiziere, noch dazu rote Husaren - auch immer
fanden, und verstand sich dabei sehr gut auf Toilette, schwarzes
Sammetmieder und eine Blume, Rose oder auch Heliotrop, und wenn
sie nicht so vorstehende große Augen gehabt hätte ...
ach, die hätten Sie sehen sollen, Johanna, wenigstens so
groß (und Effi zog unter Lachen an ihrem rechten Augenlid),
so wäre sie geradezu eine Schönheit gewesen. Sie hieß
Hulda, Hulda Niemeyer, und wir waren nicht einmal so ganz intim;
aber wenn ich sie jetzt hier hätte und sie da säße,
da in der kleinen Sofaecke, so wollte ich bis Mitternacht mit
ihr plaudern oder noch länger. Ich habe solche Sehnsucht,
und ...« - und dabei zog sie Johannas Kopf dicht an sich heran -
»... ich habe solche Angst.«
»Ja, das ginge vielleicht. Aber nein, es geht auch nicht.
Der Herr darf nicht wissen, dass ich mich ängstige,
das liebt er nicht. Er will immer, dass ich tapfer und entschlossen
bin, so wie er. Und das kann ich nicht; ich war immer etwas anfällig
... Aber freilich, ich sehe wohl ein, ich muss mich bezwingen
und ihm in solchen Stücken und überhaupt zu Willen sein
... Und dann habe ich ja auch Rollo. Der liegt ja vor der Türschwelle.«
Sie ließ das Licht brennen, weil sie gewillt war, nicht
gleich einzuschlafen, vielmehr vorhatte, wie vorhin ihren Polterabend
so jetzt ihre Hochzeitsreise zu rekapitulieren und alles an sich
vorüberziehen zu lassen. Aber es kam anders, wie sie gedacht,
und als sie bis Verona war und nach dem Hause der Julia Capulet
suchte, fielen ihr schon die Augen zu. Das Stümpfchen Licht
in dem kleinen Silberleuchter brannte allmählich nieder,
und nun flackerte es noch einmal auf und erlosch.
Effi schlief eine Weile ganz fest. Aber mit einem Male fuhr sie mit einem lauten
Schrei aus ihrem Schlafe auf, ja sie hörte selber noch den
Aufschrei und auch wie Rollo draußen anschlug - »wau,
wau« klang es den Flur entlang, dumpf und selber beinah
ängstlich. Ihr war, als ob ihr das Herz stillstände;
sie konnte nicht rufen, und in diesem Augenblicke huschte was an
ihr vorbei, und die nach dem Flur hinausführende Tür
sprang auf. Aber eben dieser Moment höchster Angst war auch
der ihrer Befreiung, denn statt etwas Schrecklichem kam jetzt
Rollo auf sie zu, suchte mit seinem Kopf nach ihrer Hand und legte
sich, als er diese gefunden, auf den vor ihrem Bett ausgebreiteten
Teppich nieder. Effi selber aber hatte mit der anderen Hand dreimal
auf den Knopf der Klingel gedrückt, und keine halbe Minute,
so war Johanna da, barfüßig, den Rock über dem
Arm und ein großes kariertes Tuch über Kopf und Schulter
geschlagen.
»Ich schlief ganz fest, und mit
einem Male fuhr ich auf und schrie ... vielleicht, dass es
ein Alpdruck war ... Alpdruck ist in unserer Familie, mein Papa
hat es auch und ängstigt uns damit, und nur die Mama sagt
immer, er solle sich nicht so gehen lassen; aber das ist leicht
gesagt ... ich fuhr also auf aus dem Schlaf und schrie, und als
ich mich umsah, so gut es eben ging in dem Dunkel, da strich was
an meinem Bett vorbei, gerade da, wo Sie jetzt stehen, Johanna,
und dann war es weg. Und wenn ich mich recht frage, was es war
...«
»Ich würd es glauben. Aber es war genau derselbe Augenblick,
wo Rollo draußen anschlug, der muss es also auch gesehen
haben, und dann flog die Tür auf, und das gute, treue Tier
sprang auf mich los, als ob es mich zu retten käme. Ach,
meine liebe Johanna, es war entsetzlich. Und ich so allein und
so jung. Ach, wenn ich doch wen hier hätte, bei dem ich weinen
könnte. Aber so weit von Hause ... Ach, von Hause ...«
»Nein, nein, die ist selber so was. Das mit dem schwarzen
Huhn, das ist auch so was; die darf nicht kommen. Nein, Johanna,
Sie bleiben allein hier. Und wie gut, dass Sie die Läden
nur angelegt. Stoßen Sie sie auf, recht laut, dass
ich einen Ton höre, einen menschlichen Ton ... ich muss
es so nennen, wenn es auch sonderbar klingt ... und dann machen
Sie das Fenster ein wenig auf, dass ich Luft und Licht habe.«
Innstetten war erst sechs Uhr früh von Varzin zurückgekommen
und hatte sich, Rollos Liebkosungen abwehrend, so leise wie möglich
in sein Zimmer zurückgezogen. Er machte sich's hier bequem
und duldete nur, dass ihn Friedrich mit einer Reisedecke
zudeckte. »Wecke mich um neun.« Und um diese Stunde war er denn
auch geweckt worden. Er stand rasch auf und sagte: »Bringe das
Frühstück.«
»Das ist mir ängstlich, Johanna. Man kann sich gesund
schlafen, aber auch krank. Wir müssen sie wecken, natürlich
vorsichtig, dass sie nicht wieder erschrickt. Und Friedrich
soll das Frühstück nicht bringen; ich will warten, bis
die gnäd'ge Frau da ist. Und machen Sie's geschickt.«
Eine halbe Stunde später kam Effi. Sie sah reizend aus, ganz
blass, und stützte sich auf Johanna. Als sie aber Innstettens
ansichtig wurde, stürzte sie auf ihn zu und umarmte und küsste
ihn. Und dabei liefen ihr die Tränen übers Gesicht.
»Ach, Geert, Gott sei Dank, dass du da bist. Nun ist
alles wieder gut. Du darfst nicht wieder fort, du darfst mich
nicht wieder allein lassen.«
»Meine liebe Effi ... stellen Sie hin, Friedrich, ich werde
schon alles zurechtmachen ... meine liebe Effi, ich lasse dich
ja nicht allein aus Rücksichtslosigkeit oder Laune, sondern
weil es so sein muss; ich habe keine Wahl, ich bin ein Mann
im Dienst, ich kann zum Fürsten oder auch zur Fürstin
nicht sagen: Durchlaucht, ich kann nicht kommen, meine Frau ist
so allein, oder meine Frau fürchtet sich. Wenn ich das sagte,
würden wir in einem ziemlich komischen Lichte dastehen, ich
gewiss, und du auch. Aber nimm erst eine Tasse Kaffee.«
»Ich wollte sagen, ich bleibe hier und auch allein, wenn
es sein muss. Aber nicht in diesem Hause. Lass uns die
Wohnung wechseln. Es gibt so hübsche Häuser am Bollwerk,
eins zwischen Konsul Martens und Konsul Grützmacher und eins
am Markt, gerade gegenüber von Gieshübler; warum können
wir da nicht wohnen? Warum gerade hier? Ich habe, wenn wir Freunde
und Verwandte zum Besuch hatten, oft gehört, dass in
Berlin Familien ausziehen wegen Klavierspiel oder wegen Schwaben
oder wegen einer unfreundlichen Portiersfrau; wenn das um solcher
Kleinigkeiten willen geschieht ...«
»Wenn das um solcher Dinge willen möglich ist, so muss
es doch auch hier möglich sein, wo du Landrat bist und die
Leute dir zu Willen sind und viele selbst zu Dank verpflichtet.
Gieshübler würde uns gewiss dabei behilflich sein,
wenn auch nur um meinetwegen, denn er wird Mitleid mit mir haben.
Und nun sage, Geert, wollen wir dies verwunschene Haus aufgeben,
dies Haus mit dem ...«
»... Chinesen, willst du sagen. Du siehst, Effi, man kann
das furchtbare Wort aussprechen, ohne dass er erscheint.
Was du da gesehen hast oder was da, wie du meinst, an deinem Bette
vorüberschlich, das war der kleine Chinese, den die Mädchen
oben an die Stuhllehne geklebt haben; ich wette, dass er
einen blauen Rock an hatte und einen ganz flachen Deckelhut mit
einem blanken Knopf oben.«
»... Und dann, Effi, kann ich hier nicht gut fort, auch wenn
es möglich wäre, das Haus zu verkaufen oder einen Tausch
zu machen. Es ist damit ganz wie mit einer Absage nach Varzin
hin. Ich kann hier in der Stadt die Leute nicht sagen lassen,
Landrat Innstetten verkauft sein Haus, weil seine Frau den aufgeklebten
kleinen Chinesen als Spuk an ihrem Bette gesehen hat. Dann bin
ich verloren, Effi. Von solcher Lächerlichkeit kann man sich
nie wieder erholen.«
»Will ich nicht behaupten. Es ist eine Sache,
die man glauben und noch besser nicht glauben kann. Aber angenommen,
es gäbe dergleichen, was schadet es? Dass in der Luft
Bazillen herumfliegen, von denen du gehört haben wirst, ist
viel schlimmer und gefährlicher als diese ganze Geistertummelage.
Vorausgesetzt, dass sie sich tummeln, dass so was wirklich
existiert. Und dann bin ich überrascht, solcher Furcht und
Abneigung gerade bei dir zu begegnen, bei einer Briest.
Das ist ja, wie wenn du aus einem kleinen Bürgerhause stammtest.
Spuk ist ein Vorzug, wie Stammbaum und dergleichen, und ich kenne
Familien, die sich ebenso gern ihr Wappen nehmen ließen als
ihre 'weiße Frau', die natürlich auch eine schwarze
sein kann.«
»Was soll ich antworten? Ich habe dir nachgegeben und mich
willig gezeigt, aber ich finde doch, dass du deinerseits
teilnahmsvoller sein könntest. Wenn du wüsstest,
wie mir gerade danach verlangt. Ich habe sehr gelitten, wirklich
sehr, und als ich dich sah, da dacht ich, nun würd ich frei
werden von meiner Angst. Aber du sagst mir bloß, dass
du nicht Lust hättest, dich lächerlich zu machen, nicht
vor dem Fürsten und auch nicht vor der Stadt. Das ist ein
geringer Trost. Ich finde es wenig und umso weniger, als du dir
schließlich auch noch widersprichst und nicht bloß
persönlich an diese Dinge zu glauben scheinst, sondern auch
noch einen adligen Spukstolz von mir forderst. Nun, den hab ich
nicht. Und wenn du von Familien sprichst, denen ihr Spuk so viel
wert sei wie ihr Wappen, so ist das Geschmackssache; mir gilt
mein Wappen mehr. Gott sei Dank haben wir Briests keinen Spuk.
Die Briests waren immer sehr gute Leute, und damit hängt
es wohl zusammen.«
Aller Unmut auf Effis Antlitz war sofort verschwunden; schon bloß
Gieshüblers Namen zu hören tat Effi wohl, und ihr Wohlgefühl
steigerte sich, als sie jetzt den Brief musterte. Zunächst
war es gar kein Brief, sondern ein Billett, die Adresse »Frau
Baronin von Innstetten, geb. von Briest« in wundervoller
Kanzleihandschrift und statt des Siegels ein aufgeklebtes rundes
Bildchen, eine Lyra, darin ein Stab steckte. Dieser Stab konnte
aber auch ein Pfeil sein. Sie reichte das Billett ihrem Manne,
der es ebenfalls bewunderte.
Und nun löste Effi die Oblate und las: »Hochverehrteste
Frau, gnädigste Frau Baronin! Gestatten Sie mir, meinem respektvollsten
Vormittagsgruß eine ganz gehorsamste Bitte hinzufügen
zu dürfen. Mit dem Mittagszuge wird eine vieljährige
liebe Freundin von mir, eine Tochter unserer Guten Stadt Kessin,
Fräulein Marietta Trippelli, hier eintreffen und bis morgen
früh unter uns weilen. Am 17. will sie in Petersburg sein,
um daselbst bis Mitte Januar zu konzertieren. Fürst Kotschukoff
öffnet ihr auch diesmal wieder sein gastliches Haus. In ihrer
immer gleichen Güte gegen mich hat die Trippelli mir zugesagt,
den heutigen Abend bei mir zubringen und einige Lieder ganz nach
meiner Wahl (denn sie kennt keine Schwierigkeiten) vortragen zu
wollen. Könnten sich Frau Baronin dazu verstehen, diesem
Musikabende beizuwohnen? Sieben Uhr. Ihr Herr Gemahl, auf dessen
Erscheinen ich mit Sicherheit rechne, wird meine gehorsamste Bitte
unterstützen. Anwesend nur Pastor Lindequist (der begleitet)
und natürlich die verwitwete Frau Pastorin Trippel. In vorzüglicher
Ergebenheit A. Gieshübler.«
Es war ganz ersichtlich, dass der kleine Zwischenfall auf
Effi günstig eingewirkt und ihr ein gut Teil ihrer Leichtlebigkeit
zurückgegeben hatte, Innstetten aber wollte das Seine tun,
diese Rekonvaleszens zu steigern. »Ich freue mich, dass
du ja gesagt hast und so rasch und ohne Besinnen, und nun möcht
ich dir noch einen Vorschlag machen, um dich ganz wieder in Ordnung
zu bringen. Ich sehe wohl, es schleicht dir noch von der Nacht her
etwas nach, das zu meiner Effi nicht passt, das durchaus
wieder fort muss, und dazu gibt es nichts Besseres als frische
Luft. Das Wetter ist prachtvoll, frisch und milde zugleich, kaum
dass ein Lüftchen geht; was meinst du, wenn wir eine
Spazierfahrt machten, aber eine lange, nicht bloß so durch
die Plantage hin, und natürlich im Schlitten und das Geläut
auf und die weißen Schneedecken, und wenn wir dann um vier
zurück sind, dann ruhst du dich aus, und um sieben sind wir
bei Gieshübler und hören die Trippelli.«
Effi nahm seine Hand. »Wie gut du bist, Geert, und wie nachsichtig.
Denn ich muss dir ja kindisch oder doch wenigstens sehr kindlich
vorgekommen sein; erst das mit meiner Angst und dann hinterher,
dass ich dir einen Hausverkauf, und was noch schlimmer ist,
das mit dem Fürsten ansinne. Du sollst ihm den Stuhl vor
die Tür setzen - es ist zum Lachen. Denn schließlich
ist er doch der Mann, der über uns entscheidet. Auch über
mich. Du glaubst gar nicht, wie ehrgeizig ich bin. Ich habe dich
eigentlich bloß aus Ehrgeiz geheiratet. Aber du musst
nicht solch ernstes Gesicht dabei machen. Ich liebe dich ja ...
wie heißt es doch, wenn man einen Zweig abbricht und die
Blätter abreißt? Von Herzen mit Schmerzen, über
alle Maßen.«
»Ich habe mir gedacht, nach der Bahnstation, aber auf einem
Umwege und dann auf der Chaussee zurück. Und auf der Station
essen wir oder noch besser bei Golchowski, in dem Gasthofe 'Zum
Fürsten Bismarck', dran wir, wenn du dich vielleicht erinnerst,
am Tage unserer Ankunft vorüberkamen. Solch Vorsprechen wirkt
immer gut, und ich habe dann mit dem Starosten von Effis Gnaden
ein Wahlgespräch, und wenn er auch persönlich nicht
viel taugt, seine Wirtschaft hält er in Ordnung und seine
Küche noch besser. Auf Essen und Trinken verstehen sich die
Leute hier.«
Es war gegen elf, dass sie dies Gespräch führten.
Um zwölf hielt Kruse mit dem Schlitten vor der Tür,
und Effi stieg ein. Johanna wollte Fußsack und Pelze bringen,
aber Effi hatte nach allem, was noch auf ihr lag, so sehr das
Bedürfnis nach frischer Luft, dass sie alles zurückwies
und nur eine doppelte Decke nahm. Innstetten aber sagte zu Kruse:
»Kruse, wir wollen nun also nach dem Bahnhof, wo wir zwei
beide heute früh schon mal waren. Die Leute werden sich wundern,
aber es schadet nichts. Ich denke, wir fahren hier an der Plantage
lang und dann links auf den Kroschentiner Kirchturm zu. Lassen
Sie die Pferde laufen. Um eins müssen wir am Bahnhof sein.«
Und so ging die Fahrt. Über den weißen Dächern
der Stadt stand der Rauch, denn die Luftbewegung war gering. Auch
Utpatels Mühle drehte sich nur langsam, und im Fluge fuhren
sie daran vorüber, dicht am Kirchhofe hin, dessen Berberitzensträucher
über das Gitter hinauswuchsen und mit ihren Spitzen Effi
streiften, so dass der Schnee auf ihre Reisedecke fiel. Auf
der anderen Seite des Wegs war ein eingefriedeter Platz, nicht
viel größer als ein Gartenbeet und innerhalb nichts
sichtbar als eine junge Kiefer, die mitten daraus hervorragte.
»Ja, unserer. Auf dem Gemeindekirchhof war er natürlich
nicht unterzubringen, und da hat denn Kapitän Thomsen, der
so was wie sein Freund war, diese Stelle gekauft und ihn hier
begraben lassen. Es ist auch ein Stein da mit Inschrift. Alles
natürlich vor meiner Zeit. Aber es wird noch immer davon
gesprochen.«
»Also ist es doch was damit. Eine Geschichte. Du sagtest
schon heute früh so was. Und es wird am Ende das Beste sein,
ich höre, was es ist. So lang ich es nicht weiß, bin
ich trotz aller guten Vorsätze doch immer ein Opfer meiner
Vorstellungen. Erzähle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit
kann mich nicht so quälen wie meine Phantasie.«
»Also Thomsen, den ich dir schon genannt habe, war viele
Jahre lang ein sogenannter Chinafahrer, immer mit Reisfracht zwischen
Shanghai und Singapure und mochte wohl schon sechzig sein, als
er hier ankam. Ich weiß nicht, ob er hier geboren war oder
ob er andere Beziehungen hier hatte. Kurz und gut, er war nun
da und verkaufte sein Schiff, einen alten Kasten, draus er nicht
viel heraus schlug, und kaufte sich ein Haus, dasselbe, drin wir
jetzt wohnen. Denn er war draußen in der Welt ein vermögender
Mann geworden. Und von daher schreibt sich auch das Krokodil und
der Haifisch und natürlich auch das Schiff ... Also Thomsen
war nun da, ein sehr adretter Mann (so wenigstens hat man mir
gesagt) und wohl gelitten. Auch beim Bürgermeister Kirstein,
vor allem bei dem damaligen Pastor in Kessin, einem Berliner,
der kurz vor Thomsen auch hierher gekommen war und viel Anfeindung
hatte.«
»Ja und nein, je nachdem. Es gibt auch Gegenden, wo sie gar
nicht streng sind und wo's drunter und drüber geht... Aber
sieh nur, Effi, da haben wir gerade den Kroschentiner Kirchturm
dicht vor uns. Wollen wir nicht den Bahnhof aufgeben und lieber
bei der alten Frau von Grasenabb vorfahren? Sidonie, wenn ich
recht berichtet bin, ist nicht zu Hause. Wir könnten es also
wagen ...«
»Ich bitte dich, Geert, wo denkst du hin? Es ist ja himmlisch,
so hinzufliegen, und ich fühle ordentlich, wie mir so frei
wird und wie alle Angst von mir abfällt. Und nun soll ich
das alles aufgeben, bloß um den alten Leuten eine Stippvisite
zu machen und ihnen sehr wahrscheinlich eine Verlegenheit zu schaffen.
Um Gottes willen nicht. Und dann will ich vor allem auch die Geschichte
hören. Also wir waren bei Kapitän Thomsen, den ich mir
als einen Dänen oder Engländer denke, sehr sauber, mit
weißen Vatermördern und ganz weißer Wäsche
...«
»Ganz richtig. So soll er gewesen sein. Und mit ihm war eine
junge Person von etwa zwanzig, von der einige sagen, sie sei seine
Nichte gewesen, aber die meisten sagen, seine Enkelin, was übrigens
den Jahren nach kaum möglich. Und außer der Enkelin
oder der Nichte war da auch noch ein Chinese, derselbe, der da
zwischen den Dünen liegt und an dessen Grab wir eben vorübergekommen
sind.«
»Also dieser Chinese war Diener bei Thomsen, und Thomsen
hielt so große Stücke auf ihn, dass er eigentlich
mehr Freund als Diener war. Und das ging so Jahr und Tag. Da mit
einem Male hieß es, Thomsens Enkelin, die, glaub ich, Nina
hieß, solle sich nach des Alten Wunsche verheiraten, auch
mit einem Kapitän. Und richtig, so war es auch. Es gab eine
große Hochzeit im Hause, der Berliner Pastor tat sie zusammen,
und Müller Utpatel, der ein Konventikler war, und Gieshübler,
dem man in der Stadt in kirchlichen Dingen auch nicht recht traute,
waren geladen und vor allem viele Kapitäne mit ihren Frauen
und Töchtern. Und wie man sich denken kann, es ging hoch
her. Am Abend aber war Tanz, und die Braut tanzte mit jedem und
zuletzt auch mit dem Chinesen. Da mit einem Mal hieß es,
sie sei fort, die Braut nämlich. Und sie war auch wirklich
fort, irgendwohin, und niemand weiß, was da vorgefallen.
Und nach vierzehn Tagen starb der Chinese; Thomsen kaufte die
Stelle, die ich dir gezeigt habe, und da wurd er begraben. Der
Berliner Pastor aber soll gesagt haben: Man hätte ihn auch
ruhig auf dem christlichen Kirchhof begraben können, denn
der Chinese sei ein sehr guter Mensch gewesen und gerade so gut
wie die anderen. Wen er mit den 'anderen' eigentlich gemeint hat,
sagte mir Gieshübler, das wisse man nicht recht.«
»Und das ist auch dem armen Pastor, der übrigens Trippel
hieß, sehr verdacht worden, so dass es eigentlich ein
Glück war, dass er drüber hin starb, sonst hätte
er seine Stelle verloren. Denn die Stadt, trotzdem sie ihn gewählt,
war doch auch gegen ihn, geradeso wie du, und das Konsistorium
natürlich erst recht.«
Effi lachte. »Von der Trippelli! Nun sehe ich erst klar in
allem. Dass sie in Kessin geboren, schrieb ja schon Gieshübler;
aber ich dachte, sie sei die Tochter von einem italienischen Konsul.
Wir haben ja so viele fremdländische Namen hier. Und nun
ist sie gut deutsch und stammt von Trippel. Ist sie denn so vorzüglich,
dass sie wagen konnte, sich so zu italienisieren?«
»Dem Mutigen gehört die Welt. Übrigens ist sie
ganz tüchtig. Sie war ein paar Jahre lang in Paris bei der
berühmten Viardot, wo sie auch den russischen Fürsten
kennen lernte, denn die russischen Fürsten sind sehr aufgeklärt,
über kleine Standesvorurteile weg, und Kotschukoff und Gieshübler
- den sie übrigens 'Onkel' nennt, und man kann fast von ihm
sagen, er sei der geborene Onkel - diese beiden sind es recht
eigentlich, die die kleine Marie Trippel zu dem gemacht haben,
was sie jetzt ist. Gieshübler war es, durch den sie nach
Paris kam, und Kotschukoff hat sie dann in die Trippelli transponiert.
«
Innstetten nahm ihre Hand und sagte: »So darfst du nicht
sprechen, Effi. Spuk, dazu kann man sich stellen wie man will.
Aber hüte dich vor dem Aparten oder was man so das Aparte
nennt. Was dir so verlockend erscheint - und ich rechne auch ein
Leben dahin, wie's die Trippelli führt - das bezahlt man
in der Regel mit seinem Glück. Ich weiß wohl, wie sehr
du dein Hohen-Cremmen liebst und daran hängst, aber du spottest
doch auch oft darüber und hast keine Ahnung davon, was stille
Tage, wie die Hohen-Cremmner, bedeuten.«
Die Fahrt verlief ganz wie geplant. Um ein Uhr hielt der Schlitten
unten am Bahndamm vor dem Gasthause »Zum Fürsten Bismarck«,
und Golchowski, glücklich den Landrat bei sich zu sehen,
war beflissen, ein vorzügliches Dejeuner herzurichten. Als
zuletzt das Dessert und der Ungarwein aufgetragen wurden, rief
Innstetten den von Zeit zu Zeit erscheinenden und nach der Ordnung
sehenden Wirt heran und bat ihn, sich mit an den Tisch zu setzen
und ihnen was zu erzählen. Dazu war Golchowski denn auch
der rechte Mann; auf zwei Meilen in der Runde wurde kein Ei gelegt,
von dem er nicht wusste. Das zeigte sich auch heute wieder.
Sidonie Grasenabb, Innstetten hatte recht vermutet, war wie vorige
Weihnachten so auch diesmal wieder auf vier Wochen zu »Hofpredigers«
gereist; Frau von Palleske, so hieß es weiter, habe ihre
Jungfer wegen einer fatalen Geschichte Knall und Fall entlassen
müssen, und mit dem alten Fraude steh es schlecht - es werde
zwar in Kurs gesetzt, er sei bloß ausgeglitten, aber es
sei ein Schlaganfall gewesen, und der Sohn, der in Lissa bei den
Husaren stehe, werde jede Stunde erwartet. Nach diesem Geplänkel
war man dann zu Ernsthafterem übergehend auf Varzin gekommen.
»Ja«, sagte Golchowski, »wenn man sich den Fürsten
so als Papiermüller denkt! Es ist doch alles sehr merkwürdig;
eigentlich kann er die Schreiberei nicht leiden und das bedruckte
Papier erst recht nicht, und nun legt er doch selber eine Papiermühle
an.«
Und so machten sich denn alle drei auf den Weg und stellten sich,
als sie oben waren, in einem neben dem Wärterhaus gelegenen
Gartenstreifen auf, der jetzt freilich unter Schnee lag, aber
doch eine frei geschaufelte Stelle hatte. Der Bahnwärter stand
schon da, die Fahne in der Hand. Und jetzt jagte der Zug über
das Bahnhofsgeleise hin und im nächsten Augenblick an dem
Häuschen und an dem Gartenstreifen vorüber. Effi war
so erregt, dass sie nichts sah und nur dem letzten Wagen,
auf dessen Höhe ein Bremser saß, ganz wie benommen
nachblickte.
Effi war, als der Zug vorbeijagte, von einer herzlichen Sehnsucht
erfasst worden. So gut es ihr ging, sie fühlte sich
trotzdem wie in einer fremden Welt. Wenn sie sich eben noch an
dem einen oder andern entzückt hatte, so kam ihr doch gleich
nachher zum Bewusstsein, was ihr fehlte. Da drüben lag
Varzin, und da nach der anderen Seite hin blitzte der Kroschentiner
Kirchturm auf und weiterhin der Morgenitzer, und da saßen
die Grasenabbs und die Borckes, nicht die Bellings und
nicht die Briests. »Ja, die!« Innstetten
hatte ganz Recht gehabt mit dem raschen Wechsel ihrer Stimmung,
und sie sah jetzt wieder alles, was zurücklag, wie in einer
Verklärung. Aber so gewiss sie voll Sehnsucht dem Zug
nachgesehen, sie war doch andererseits viel zu beweglichen Gemüts,
um lange dabei zu verweilen und schon auf der Heimfahrt, als
der rote Ball der niedergehenden Sonne seinen Schimmer über
den Schnee ausgoss, fühlte sie sich wieder freier; alles
erschien ihr schön und frisch, und als sie, nach Kessin zurückgekehrt,
fast mit dem Glockenschlag sieben in den Gieshüblerschen
Flur eintrat, war ihr nicht bloß behaglich, sondern beinah
übermütig zu Sinn, wozu die das Haus durchziehende Baldrian-
und Veilchenwurzel-Luft das ihrige beitragen mochte.
Pünktlich waren Innstetten und Frau erschienen, aber trotz
dieser Pünktlichkeit immer noch hinter den anderen Geladenen
zurückgeblieben; Pastor Lindequist, die alte Frau Trippel
und die Trippelli selbst waren schon da. Gieshübler - im
blauen Frack mit mattgoldenen Knöpfen, dazu Pincenez an einem
breiten schwarzen Bande, das wie ein Ordensband auf der blendend weißen
Piquéweste lag - Gieshübler konnte seiner Erregung
nur mit Mühe Herr werden. »Darf ich die Herrschaften
miteinander bekannt machen: Baron und Baronin Innstetten, Frau
Pastor Trippel, Fräulein Marietta Trippelli.« Pastor
Lindequist, den alle kannten, stand lächelnd beiseite.
Die Trippelli, Anfang der dreißig, stark, männlich und
von ausgesprochen humoristischem Typus, hatte bis zu dem Momente
der Vorstellung den Sofa-Ehrenplatz innegehabt. Nach der Vorstellung
aber sagte sie, während sie auf einen in der Nähe stehenden
Stuhl mit hoher Lehne zuschritt: »Ich bitte Sie nunmehro,
gnäd'ge Frau, die Bürden und Fährlichkeiten Ihres
Amtes auf sich nehmen zu wollen. Denn von 'Fährlichkeiten'
- und sie wies auf das Sofa - wird sich in diesem Falle
wohl sprechen lassen. Ich habe Gieshübler schon vor Jahr
und Tag darauf aufmerksam gemacht, aber leider vergeblich; so
gut er ist, so eigensinnig ist er auch.«
»Dieses Sofa nämlich, dessen Geburt um wenigstens fünfzig
Jahre zurückliegt, ist noch nach einem altmodischen Versenkungsprinzip
gebaut, und wer sich ihm anvertraut, ohne vorher einen Kissenturm
untergeschoben zu haben, sinkt ins Bodenlose, jedenfalls aber
gerade tief genug, um die Kniee wie ein Monument aufragen zu lassen.«
All dies wurde seitens der Trippelli mit ebenso viel Bonhomie wie
Sicherheit hingesprochen, in einem Tone, der ausdrücken sollte:
'Du bist die Baronin Innstetten, ich bin die Trippelli.'
Gieshübler liebte seine Künstlerfreundin enthusiastisch
und dachte hoch von ihren Talenten; aber all seine Begeisterung
konnte ihn doch nicht blind gegen die Tatsache machen, dass
ihr von gesellschaftlicher Feinheit nur ein bescheidenes Maß
zuteil geworden war. Und diese Feinheit war gerade das, was er
persönlich kultivierte. »Liebe Marietta«, nahm
er das Wort, »Sie haben eine so reizend heitere Behandlung
solcher Fragen; aber was mein Sofa betrifft, so haben Sie wirklich
Unrecht, und jeder Sachverständige mag zwischen uns entscheiden.
Selbst ein Mann wie Fürst Kotschukoff ...«
»Ach, ich bitt Sie, Gieshübler, lassen Sie doch den.
Immer Kotschukoff. Sie werden mich bei der gnäd'gen Frau
hier noch in den Verdacht bringen, als ob ich bei diesem Fürsten
- der übrigens nur zu den kleineren zählt und nicht
mehr als tausend Seelen hat, das heißt hatte (früher
wo die Rechnung noch nach Seelen ging) - als ob ich stolz wäre,
seine tausendundeinste Seele zu sein. Nein, es liegt wirklich
anders; 'immer freiweg', Sie kennen meine Devise, Gieshübler.
Kotschukoff ist ein guter Kamerad und mein Freund, aber von Kunst
und ähnlichen Sachen versteht er gar nichts, von Musik gewiss
nicht, wiewohl er Messen und Oratorien komponiert - die meisten
russischen Fürsten, wenn sie Kunst treiben, fallen ein bisschen
nach der geistlichen oder orthodoxen Seite hin -, und zu den vielen
Dingen, von denen er nichts versteht, gehören auch unbedingt
Einrichtungs- und Tapezierfragen. Er ist gerade vornehm genug,
um sich alles als schön aufreden zu lassen, was bunt aussieht
und viel Geld kostet.«
Innstetten amüsierte sich, und Pastor Lindequist war in einem
allersichtlichsten Behagen. Die gute alte Trippel aber geriet
über den ungenierten Ton ihrer Tochter aus einer Verlegenheit
in die andere, während Gieshübler es für angezeigt
hielt, eine so schwierig werdende Unterhaltung zu kupieren. Dazu
waren etliche Gesangspiecen das Beste. Dass Marietta Lieder
von anfechtbarem Inhalt wählen würde, war nicht anzunehmen,
und selbst wenn dies sein sollte, so war ihre Vortragskunst so
groß, dass der Inhalt dadurch geadelt wurde. »Liebe
Marietta«, nahm er also das Wort, »ich habe unser kleines
Mahl zu acht Uhr bestellt. Wir hätten also noch dreiviertel
Stunden, wenn Sie nicht vielleicht vorziehen, während Tisch
ein heitres Lied zu singen oder vielleicht erst, wenn wir von
Tisch aufgestanden sind ...«
»Ich bitte Sie, Gieshübler! Sie, der Mann der Ästhetik.
Es gibt nichts Unästhetischeres als einen Gesangsvortrag
mit vollem Magen. Außerdem - und ich weiß, Sie sind
ein Mann der ausgesuchten Küche, ja, Gourmand - außerdem
schmeckt es besser, wenn man die Sache hinter sich hat. Erst Kunst
und dann Nusseis, das ist die richtige Reihenfolge.«
»Ich möchte annehmen«, antwortete sie befangen,
»etwas von Gluck, etwas ausgesprochen Dramatisches ... Überhaupt,
mein gnädigstes Fräulein, wenn ich mir die Bemerkung erlauben
darf, ich bin überrascht zu hören, dass Sie lediglich
Konzertsängerin sind. Ich dächte, dass Sie wie
wenige für die Bühne berufen sein müssten.
Ihre Erscheinung, Ihre Kraft, Ihr Organ ... ich habe noch so wenig
derart kennen gelernt, immer nur auf kurzen Besuchen in Berlin
... und dann war ich noch ein halbes Kind. Aber ich dächte
Orpheus oder Kriemhild oder die Vestalin.«
Die Trippelli wiegte den Kopf und sah in Abgründe, kam aber
zu keiner Entgegnung, weil eben jetzt Gieshübler wieder erschien
und ein halbes Dutzend Notenhefte vorlegte, die seine Freundin
in rascher Reihenfolge durch die Hand gleiten ließ. »'Erlkönig'
... ah, bah; 'Bächlein, lass dein Rauschen sein ...'
Aber Gieshübler, ich bitte Sie, Sie sind ein Murmeltier,
Sie haben sieben Jahre lang geschlafen ... Und hier Löwe'sche
Balladen; auch nicht gerade das Neueste. 'Glocken von Speyer' ...
Ach dies ewige Bim Bam, das beinah einer Kulissenreißerei
gleichkommt, ist geschmacklos und abgestanden. Aber hier
'Ritter Olaf' ... nun das geht.«
Als die Trippelli mit dem Heideknaben fertig war,
sagte sie: »Nun ist es genug«, eine Erklärung,
die so bestimmt von ihr abgegeben wurde, dass weder Gieshübler
noch ein anderer den Mut hatte, mit weiteren Bitten in sie zu
dringen. Am wenigsten Effi. Diese sagte nur, als Gieshüblers
Freundin wieder neben ihr saß: »Dass ich Ihnen
doch sagen könnte, mein gnädigstes Fräulein, wie
dankbar ich Ihnen bin! Alles so schön, so sicher, so gewandt.
Aber eines, wenn Sie mir verzeihen, bewundere ich fast noch mehr,
das ist die Ruhe, womit Sie diese Sachen vorzutragen wissen. Ich
bin so leicht Eindrücken hingegeben, und wenn ich die kleinste
Gespenstergeschichte höre, so zittere ich und kann mich kaum
wieder zurechtfinden. Und Sie tragen das so mächtig und erschütternd
vor und sind selbst ganz heiter und guter Dinge.«
»Ja, meine gnädigste Frau, das ist in der Kunst nicht
anders. Und nun gar erst auf dem Theater, vor dem ich übrigens
glücklicherweise bewahrt geblieben bin. Denn so gewiss
ich mich persönlich gegen seine Versuchungen gefeit fühle
- es verdirbt den Ruf, also das Beste, was man hat. Im Übrigen
stumpft man ab, wie mir Kolleginnen hundertfach versichert haben.
Da wird vergiftet und erstochen, und der toten Julia flüstert
Romeo einen Kalauer ins Ohr oder wohl auch eine Malice, oder er
drückt ihr einen kleinen Liebesbrief in die Hand.«
»Es ist mir unbegreiflich. Und um bei dem stehen zu bleiben,
was ich Ihnen diesen Abend verdanke, beispielsweise bei dem Gespenstischen
im Olaf, ich versichere Ihnen, wenn ich einen ängstlichen
Traum habe oder wenn ich glaube, über mir hörte ich
ein leises Tanzen oder Musizieren, während doch niemand da
ist, oder es schleicht wer an meinem Bette vorbei, so bin ich außer
mir und kann es Tage lang nicht vergessen.«
»Ja, meine gnädigste Frau, was Sie da schildern und beschreiben,
das ist auch etwas anderes, das ist ja wirklich oder kann wenigstens
etwas Wirkliches sein. Ein Gespenst, das durch die Ballade geht,
da graule ich mich gar nicht, aber ein Gespenst, das durch meine
Stube geht, ist mir gerade so wie andern sehr unangenehm. Darin
empfinden wir also ganz gleich.«
»Ich bin«, fuhr die Trippelli fort, »aus einer
sehr aufgeklärten Familie (bloß mit Mutter war es immer
nicht so recht), und doch sagte mir mein Vater, als das mit dem
Psychographen aufkam: 'Höre, Marie, das ist was.' Und er hat
Recht gehabt, es ist auch was damit. Überhaupt, man ist links
und rechts umlauert, hinten und vorn. Sie werden das noch kennen lernen.
«
Es war spät, als man aufbrach. Schon bald nach zehn hatte
Effi zu Gieshübler gesagt, es sei nun wohl Zeit, Fräulein
Trippelli, die den Zug nicht versäumen dürfe, müsse
ja schon um sechs von Kessin aufbrechen; die danebenstehende Trippelli
aber, die diese Worte gehört, hatte mit der ihr eigenen ungenierten
Beredsamkeit gegen solche zarte Rücksichtnahme protestiert.
»Ach, meine gnädigste Frau, Sie glauben, dass unsereins
einen regelmäßigen Schlaf braucht, das trifft aber
nicht zu; was wir regelmäßig brauchen, heißt
Beifall und hohe Preise. Ja, lachen Sie nur. Außerdem (so
was lernt man) kann ich auch im Kupee schlafen, in jeder
Situation und sogar auf der linken Seite und brauche nicht einmal
das Kleid aufzumachen. Freilich bin ich auch nie eingepresst;
Brust und Lunge müssen immer frei sein und vor allem das
Herz. Ja, meine gnädigste Frau, das ist die Hauptsache. Und
dann das Kapitel Schlaf überhaupt, - die Menge tut es nicht,
was entscheidet, ist die Qualität; ein guter Nicker von fünf
Minuten ist besser als fünf Stunden unruhige Rumdreherei,
mal links, mal rechts. Übrigens schläft man in Russland
wundervoll, trotz des starken Tees. Es muss die Luft machen
oder das späte Diner oder weil man so verwöhnt wird.
Sorgen gibt es in Russland nicht; darin - im Geldpunkt sind
beide gleich - ist Russland noch besser als Amerika.«
Der Weg von der Mohrenapotheke bis zur
landrätlichen Wohnung war ziemlich weit; er kürzte sich
aber dadurch, dass Pastor Lindequist bat, Innstetten und
Frau eine Strecke begleiten zu dürfen; ein Spaziergang unterm
Sternenhimmel sei das Beste, um über Gieshüblers Rheinwein
hinwegzukommen. Unterwegs wurde man natürlich nicht müde,
die verschiedensten Trippelliana heranzuziehen; Effi begann mit
dem, was ihr in Erinnerung geblieben, und gleich nach ihr kam
der Pastor an die Reihe. Dieser, ein Ironikus, hatte die Trippelli
wie nach vielem sehr Weltlichen so schließlich auch nach
ihrer kirchlichen Richtung gefragt und dabei von ihr in Erfahrung
gebracht, dass sie nur eine Richtung kenne, die orthodoxe.
Ihr Vater sei freilich ein Rationalist gewesen, fast schon ein
Freigeist, weshalb er auch den Chinesen am liebsten auf dem Gemeindekirchhof
gehabt hätte; sie ihrerseits sei aber ganz entgegengesetzter
Ansicht, trotzdem sie persönlich des großen Vorzugs
genieße, gar nichts zu glauben. Aber sie sei sich in ihrem
entschiedenen Nichtglauben doch auch jeden Augenblick bewusst,
dass das ein Spezialluxus sei, den man sich nur als Privatperson
gestatten könne. Staatlich höre der Spaß auf,
und wenn ihr das Kultusministerium oder gar ein Konsistorialregiment
unterstünde, so würde sie mit unnachsichtiger Strenge
vorgehen. »Ich fühle so was von einem Torquemada in
mir.«
Innstetten war sehr erheitert und erzählte seinerseits,
dass er etwas so Heikles wie das Dogmatische geflissentlich
vermieden, aber dafür das Moralische desto mehr in den Vordergrund
gestellt habe. Hauptthema sei das Verführerische gewesen,
das beständige Gefährdetsein, das in allem öffentlichen
Auftreten liege, worauf die Trippelli leichthin und nur mit Betonung
der zweiten Satzhälfte geantwortet habe: »Ja, beständig
gefährdet; am meisten die Stimme.«
Unter solchem Geplauder war, ehe man sich trennte, der Trippelli-Abend
noch einmal an ihnen vorübergezogen, und erst drei Tage später
hatte sich Gieshüblers Freundin durch ein von Petersburg
aus an Effi gerichtetes Telegramm noch einmal in Erinnerung gebracht.
Es lautete: Madame la Baronne d'Innstetten, née de Briest.
Bien arrivée. Prince K. à la gare. Plus épris
de moi que jamais. Mille fois merci de votre bon accueil. Compliments
empressés à Monsieur le Baron. Marietta Trippelli.
Die musikalische Soiree bei Gieshübler hatte Mitte Dezember
stattgefunden, gleich danach begannen die Vorbereitungen für
Weihnachten, und Effi, die sonst schwer über diese Tage hingekommen
wäre, segnete es, dass sie selber einen Hausstand hatte,
dessen Ansprüche befriedigt werden mussten. Es galt
nachsinnen, fragen, anschaffen, und das alles ließ trübe
Gedanken nicht aufkommen. Am Tage vor Heiligabend trafen Geschenke
von den Eltern aus Hohen-Cremmen ein, und mit in die Kiste waren
allerhand Kleinigkeiten aus dem Kantorhause gepackt: wunderschöne
Reinetten von einem Baum, den Effi und Jahnke vor mehreren Jahren
gemeinschaftlich okuliert hatten, und dazu braune Puls- und Kniewärmer
von Bertha und Hertha. Hulda schrieb nur wenige Zeilen, weil sie,
wie sie sich entschuldigte, für X. noch eine Reisedecke zu
stricken habe. »Was einfach nicht wahr ist«, sagte Effi.
»Ich wette, X. existiert gar nicht. Dass sie nicht davon
lassen kann, sich mit Anbetern zu umgeben, die nicht da sind!«
Innstetten selbst baute auf für seine junge Frau, der
Baum brannte und ein kleiner Engel schwebte
oben in Lüften. Auch eine Krippe war da mit hübschen
Transparenten und Inschriften, deren eine sich in leiser Andeutung
auf ein dem Innstetten'schen Hause für nächstes Jahr
bevorstehendes Ereignis bezog. Effi las es und errötete.
Dann ging sie auf Innstetten zu, um ihm zu danken, aber eh sie
dies konnte, flog nach altpommerschem Weihnachtsbrauch ein Julklapp
in den Hausflur: eine große Kiste, drin eine Welt von Dingen
steckte. Zuletzt fand man die Hauptsache, ein zierliches, mit
allerlei japanischen Bildchen überklebtes Morsellenkästchen,
dessen eigentlichem Inhalt auch noch ein Zettelchen beigegeben
war. Es hieß da:
|
Drei Könige kamen zum Heiligenchrist,
Mohrenkönig einer gewesen ist; -
Ein Mohrenapothekerlein
Erscheinet heute mit Spezerein,
Doch statt Weihrauch und Myrrhen, die nicht zur Stelle,
Bringt er Pistazien- und Mandel-Morselle.
|
Der erste Feiertag war Kirchtag, am zweiten war man bei
Borckes draußen, alles zugegen mit Ausnahme
von Grasenabbs, die nicht kommen wollten, weil Sidonie nicht da,
was man als Entschuldigung allseitig ziemlich sonderbar
fand. Einige tuschelten sogar: »Umgekehrt; gerade deshalb
hätten sie kommen sollen.« Am Silvester war Ressourcenball,
auf dem Effi nicht fehlen durfte und auch nicht wollte, denn der
Ball gab ihr Gelegenheit, endlich einmal die ganze Stadtflora
beisammen zu sehen. Johanna hatte mit den Vorbereitungen zum Ballstaate
für ihre Gnäd'ge vollauf zu tun, Gieshübler, der
wie alles so auch ein Treibhaus hatte, schickte Kamelien, und
Innstetten, so knapp bemessen die Zeit für ihn war, fuhr
am Nachmittage noch über Land nach Papenhagen, wo drei Scheunen
abgebrannt waren.
Es war ganz still im Hause. Christel, beschäftigungslos,
hatte sich schläfrig eine Fußbank an den Herd gerückt,
und Effi zog sich in ihr Schlafzimmer zurück, wo sie sich
zwischen Spiegel und Sofa an einen kleinen, eigens zu diesem
Zweck zurechtgemachten Schreibtisch setzte, um von hier aus an
die Mama zu schreiben, der sie für Weihnachtsbrief und Weihnachtsgeschenke
bis dahin bloß in einer Karte gedankt, sonst aber seit Wochen
keine Nachricht gegeben hatte.
»Kessin, 31. Dezember. Meine liebe Mama! Das wird nun wohl ein
langer Schreibebrief werden, denn ich habe - die Karte rechnet
nicht - lange nichts von mir hören lassen. Als ich das letzte Mal
schrieb, steckte ich noch in den Weihnachtsvorbereitungen, jetzt
liegen die Weihnachtstage schon zurück. Innstetten und mein
guter Freund Gieshübler hatten alles aufgeboten, mir den
Heiligen Abend so angenehm wie möglich zu machen, aber ich
fühlte mich doch ein wenig einsam und bangte mich nach euch.
Überhaupt, so viel Ursache ich habe, zu danken und froh und
glücklich zu sein, ich kann ein Gefühl des Alleinseins
nicht ganz los werden, und wenn ich mich früher vielleicht
mehr als nötig über Huldas ewige Gefühlsträne
mokiert habe, so werde ich jetzt dafür bestraft und habe
selber mit dieser Träne zu kämpfen. Denn Innstetten
darf es nicht sehen. Ich bin aber sicher, dass das alles
besser werden wird, wenn unser Hausstand sich mehr belebt, und
das wird der Fall sein, meine liebe Mama. Was ich neulich andeutete,
das ist nun Gewissheit, und Innstetten bezeugt mir täglich
seine Freude darüber. Wie glücklich ich selber im Hinblick
darauf bin, brauche ich nicht erst zu versichern, schon weil ich
dann Leben und Zerstreuung um mich her haben werde oder, wie Geert
sich ausdrückt, ein 'liebes Spielzeug'. Mit diesem
Wort wird er wohl Recht haben, aber er sollte es lieber nicht
gebrauchen, weil es mir immer einen kleinen Stich gibt und mich
daran erinnert, wie jung ich bin und dass ich noch halb in
die Kinderstube gehöre. Diese Vorstellung verlässt
mich nicht (Geert meint, es sei krankhaft) und bringt es zu Wege,
dass das, was mein höchstes Glück sein sollte,
doch fast noch mehr eine beständige Verlegenheit für
mich ist. Ja, meine liebe Mama, als die guten Flemming'schen Damen
sich neulich nach allem möglichen erkundigten, war mir zu Mut,
als stünd ich schlecht vorbereitet in einem Examen, und
ich glaube auch, dass ich recht dumm geantwortet habe. Verdrießlich
war ich auch. Denn manches, was wie Teilnahme aussieht, ist doch
bloß Neugier und wirkt umso zudringlicher, als ich ja noch
lange, bis in den Sommer hinein, auf das frohe Ereignis zu warten
habe. Ich denke, die ersten Julitage. Dann musst du kommen
oder noch besser, sobald ich einigermaßen wieder bei Wege
bin, komme ich, nehme hier Urlaub und mache mich auf nach Hohen-Cremmen.
Ach, wie ich mich darauf freue und auf die havelländische
Luft - hier ist es fast immer rauh und kalt - und dann jeden
Tag eine Fahrt ins Luch, alles rot und gelb, und ich sehe schon,
wie das Kind die Hände danach streckt, denn es wird doch
wohl fühlen, dass es eigentlich da zu Hause ist. Aber
das schreibe ich nur dir . Innstetten darf nicht davon wissen,
und auch dir gegenüber muss ich mich wie entschuldigen,
dass ich mit dem Kinde nach Hohen-Cremmen will und mich heute
schon anmelde, statt dich, meine liebe Mama, dringend und herzlich
nach Kessin hin einzuladen, das ja doch jeden Sommer fünfzehnhundert
Badegäste hat und Schiffe mit allen möglichen Flaggen
und sogar ein Dünenhotel. Aber dass ich so wenig Gastlichkeit
zeige, das macht nicht, dass ich ungastlich wäre, so
sehr bin ich nicht aus der Art geschlagen, das macht einfach unser
landrätliches Haus, das, so viel Hübsches und Apartes
es hat, doch eigentlich gar kein richtiges Haus ist, sondern nur
eine Wohnung für zwei Menschen, und auch das kaum, denn wir
haben nicht einmal ein Esszimmer, was doch genant ist, wenn
ein paar Personen zu Besuch sich einstellen. Wir haben freilich
noch Räumlichkeiten im ersten Stock, einen großen Saal
und vier kleine Zimmer, aber sie haben alle etwas wenig Einladendes,
und ich würde sie Rumpelkammern nennen, wenn sich etwas Gerümpel
darin vorfände; sie sind aber ganz leer, ein paar Binsenstühle
abgerechnet, und machen, das Mindeste zu sagen, einen sehr sonderbaren
Eindruck. Nun wirst du wohl meinen, das alles sei ja leicht zu
ändern. Aber es ist nicht zu ändern; denn das Haus,
das wir bewohnen, ist ... ist ein Spukhaus; da ist es heraus.
Ich beschwöre dich übrigens, mir auf diese meine Mitteilung
nicht zu antworten, denn ich zeige Innstetten immer eure Briefe,
und er wäre außer sich, wenn er erführe, dass
ich dir das geschrieben. Ich hätte es auch nicht getan und
zwar umso weniger, als ich seit vielen Wochen in Ruhe geblieben
bin und aufgehört habe, mich zu ängstigen; aber Johanna
sagt mir, es käme immer mal wieder, namentlich wenn wer Neues
im Hause erschiene. Und ich kann dich doch einer solchen Gefahr
oder, wenn das zu viel gesagt ist, einer solchen eigentümlichen
und unbequemen Störung nicht aussetzen! Mit der Sache selber
will ich dich heute nicht behelligen, jedenfalls nicht ausführlich.
Es ist eine Geschichte von einem alten Kapitän, einem sogenannten
Chinafahrer, und seiner Enkelin, die mit einem hiesigen jungen
Kapitän eine kurze Zeit verlobt war und an ihrem Hochzeitstage
plötzlich verschwand. Das möchte hingehn. Aber was wichtiger
ist, ein junger Chinese, den ihr Vater aus China mit zurückgebracht
hatte und der erst der Diener und dann der Freund des Alten war,
der starb kurze Zeit danach und ist an einer einsamen Stelle neben
dem Kirchhof begraben worden. Ich bin neulich da vorübergefahren,
wandte mich aber rasch ab und sah nach der andern Seite, weil
ich glaube, ich hätte ihn sonst auf dem Grabe sitzen sehen.
Denn ach, meine liebe Mama, ich habe ihn einmal wirklich gesehen,
oder es ist mir wenigstens so vorgekommen, als ich fest schlief
und Innstetten auf Besuch beim Fürsten war. Es war schrecklich;
ich möchte so was nicht wieder erleben. Und in ein solches
Haus, so hübsch es sonst ist (es ist sonderbarerweise gemütlich
und unheimlich zugleich), kann ich dich doch nicht gut einladen.
Und Innstetten, trotzdem ich ihm schließlich in vielen Stücken
zustimmte, hat sich dabei, so viel möcht ich sagen dürfen,
auch nicht ganz richtig benommen. Er verlangte von mir, ich solle
das alles als alten Weiber-Unsinn ansehn und darüber lachen,
aber mit einem Mal schien er doch auch wieder selber daran zu glauben
und stellte mir zugleich die sonderbare Zumutung, einen solchen
Hausspuk als etwas Vornehmes und Altadliges anzusehen. Das kann
ich aber nicht und will es auch nicht. Er ist in diesem Punkt,
so gütig er sonst ist, nicht gütig und nachsichtig genug
gegen mich. Denn dass es etwas damit ist, das weiß
ich von Johanna und weiß es auch von unserer Frau Kruse.
Das ist nämlich unsere Kutscherfrau, die mit einem schwarzen
Huhn beständig in einer überheizten Stube sitzt. Dies
allein schon ist ängstlich genug. Und nun weißt du,
warum ich kommen will, wenn es erst so weit ist. Ach, wäre
es nur erst so weit. Es sind so viele Gründe, warum ich es
wünsche. Heute Abend haben wir Silvesterball, und Gieshübler
- der einzige nette Mensch hier, trotzdem er eine hohe Schulter
hat oder eigentlich schon etwas mehr - Gieshübler hat mir
Kamelien geschickt. Ich werde doch vielleicht tanzen. Unser Arzt
sagt, es würde mir nichts schaden, im Gegenteil. Und Innstetten,
was mich fast überraschte, hat auch eingewilligt. Und nun
grüße und küsse Papa und all die andern Lieben.
Glückauf zum neuen Jahr. Deine Effi.«
Der Silvesterball hatte bis an den frühen Morgen gedauert,
und Effi war ausgiebig bewundert worden, freilich nicht ganz so
anstandslos wie das Kamelienbukett, von dem man wusste, dass
es aus dem Gieshübler'schen Treibhause kam. Im Übrigen
blieb auch nach dem Silvesterball alles beim Alten, kaum dass
Versuche gesellschaftlicher Annäherung gemacht worden wären,
und so kam es denn, dass der Winter als recht lange dauernd
empfunden wurde. Besuche seitens der benachbarten Adelsfamilien
fanden nur selten statt, und dem pflichtschuldigen Gegenbesuche
ging in einem halben Trauerton jedes Mal die Bemerkung voraus:
»Ja, Geert, wenn es durchaus sein muss, aber ich vergehe
vor Langeweile.« Worte, denen Innstetten nur immer zustimmte.
Was an solchen Besuchsnachmittagen über Familie, Kinder,
auch Landwirtschaft gesagt wurde, mochte gehen; wenn dann aber
die kirchlichen Fragen an die Reihe kamen und die mitanwesenden
Pastoren wie kleine Päpste behandelt wurden oder sich auch
wohl selbst als solche ansahen, dann riss Effi der Faden
der Geduld, und sie dachte mit Wehmut an Niemeyer, der immer zurückhaltend
und anspruchslos war, trotzdem es bei jeder größeren
Feierlichkeit hieß, er habe das Zeug, an den »Dom«
berufen zu werden. Mit den Borckes, den Flemmings, den Grasenabbs,
so freundlich die Familien, von Sidonie Grasenabb abgesehen, gesinnt
waren - es wollte mit allen nicht so recht gehen, und es hätte
mit Freude, Zerstreuung und auch nur leidlichem Sich-behaglich-Fühlen
manchmal recht schlimm gestanden, wenn Gieshübler nicht gewesen
wäre. Der sorgte für Effi wie eine kleine Vorsehung,
und sie wusste es ihm auch Dank. Natürlich war er neben
allem anderen auch ein eifriger und aufmerksamer Zeitungsleser,
ganz zu geschweigen, dass er an der Spitze des Journalzirkels
stand, und so verging denn fast kein Tag, wo nicht Mirambo ein
großes, weißes Kuvert gebracht hätte mit allerhand
Blättern und Zeitungen, in denen die betreffenden Stellen
angestrichen waren, meist eine kleine, feine Bleistiftlinie, mitunter
aber auch dick mit Blaustift und ein Ausrufungs- oder Fragezeichen
daneben. Und dabei ließ er es nicht bewenden; er schickte
auch Feigen und Datteln, Schokoladentafeln in Satineepapier und
ein rotes Bändchen drum, und wenn etwas besonders Schönes
in seinem Treibhaus blühte, so brachte er es selbst und hatte
dann eine glückliche Plauderstunde mit der ihm so sympathischen
jungen Frau, für die er alle schönen Liebesgefühle
durch- und nebeneinander hatte, die des Vaters und Onkels, des
Lehrers und Verehrers. Effi war gerührt von dem allen und
schrieb öfters darüber nach Hohen-Cremmen, so dass
die Mama sie mit ihrer »Liebe zum Alchymisten« zu necken
begann; aber diese wohlgemeinten Neckereien verfehlten ihren Zweck,
ja berührten sie beinahe schmerzlich, weil ihr, wenn auch
unklar, dabei zum Bewusstsein kam, was ihr in ihrer Ehe eigentlich
fehlte: Huldigungen, Anregungen, kleine Aufmerksamkeiten. Innstetten
war lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht. Er hatte das
Gefühl Effi zu lieben, und das gute Gewissen, dass
es so sei, ließ ihn von besonderen Anstrengungen absehen.
Es war fast zur Regel geworden, dass er sich, wenn Friedrich
die Lampe brachte, aus seiner Frau Zimmer in sein eigenes zurückzog.
»Ich habe da noch eine verzwickte Geschichte zu erledigen.«
Und damit ging er. Die Portiere blieb freilich zurückgeschlagen,
so dass Effi das Blättern in dem Aktenstück oder
das Kritzeln seiner Feder hören konnte, aber das war auch
alles. Rollo kam dann wohl und legte sich vor sie hin auf den
Kaminteppich, als ob er sagen wolle: »Muss nur mal wieder
nach dir sehen; ein anderer tut's doch nicht.« Und dann beugte
sie sich nieder und sagte leise: »Ja, Rollo, wir sind allein.«
Um neun erschien dann Innstetten wieder zum Tee, meist die Zeitung
in der Hand, sprach vom Fürsten, der wieder viel Ärger
habe, zumal über diesen Eugen Richter, dessen Haltung und
Sprache ganz unqualifizierbar seien, und ging dann die Ernennungen
und Ordensverleihungen durch, von denen er die meisten beanstandete.
Zuletzt sprach er von den Wahlen, und dass es ein Glück
sei, einem Kreis vorzustehen, in dem es noch Respekt gäbe.
War er damit durch, so bat er Effi, dass sie was spiele,
aus Lohengrin oder aus der Walküre, denn er war ein Wagner-Schwärmer.
Was ihn zu diesem hinübergeführt hatte, war ungewiss;
einige sagten seine Nerven, denn so nüchtern er schien,
eigentlich war er nervös; andere schoben es auf Wagners Stellung
zur Judenfrage. Wahrscheinlich hatten beide Recht. Um zehn war
Innstetten dann abgespannt und erging sich in ein paar wohlgemeinten,
aber etwas müden Zärtlichkeiten, die sich Effi gefallen
ließ, ohne sie recht zu erwidern.
So verging der Winter, der April kam, und in dem Garten hinter
dem Hofe begann es zu grünen, worüber sich Effi freute;
sie konnte gar nicht abwarten, dass der Sommer komme mit
seinen Spaziergängen am Strand und seinen Badegästen.
Wenn sie so zurückblickte, der Trippelli-Abend bei Gieshübler
und dann der Silvesterball, ja, das ging, das war etwas Hübsches
gewesen; aber die Monate, die dann gefolgt waren, die hatten doch
viel zu wünschen übrig gelassen, und vor allem waren
sie so monoton gewesen, dass sie sogar mal an die Mama geschrieben
hatte: »Kannst du dir denken, Mama, dass ich mich mit
unsrem Spuk beinah ausgesöhnt habe? Natürlich die schreckliche
Nacht, wo Geert drüben beim Fürsten war, die möcht
ich nicht noch einmal durchmachen, nein, gewiss nicht; aber
immer das Alleinsein und so gar nichts erleben, das hat doch auch
sein Schweres, und wenn ich dann in der Nacht aufwache, dann horche
ich mitunter hinauf, ob ich nicht die Schuhe schleifen höre,
und wenn alles still bleibt, so bin ich fast wie enttäuscht
und sage mir: Wenn es doch nur wiederkäme, nur nicht zu arg
und nicht zu nah.«
Das war im Februar, dass Effi so schrieb, und nun war beinahe
Mai. Drüben in der Plantage belebte sich's schon wieder,
und man hörte die Finken schlagen. Und in derselben Woche
war es auch, dass die Störche kamen, und einer schwebte
langsam über ihr Haus hin und ließ sich dann auf einer
Scheune nieder, die neben Utpatels Mühle stand. Das war seine
alte Raststätte. Auch über dies Ereignis berichtete
Effi, die jetzt überhaupt häufiger nach Hohen-Cremmen
schrieb, und es war in demselben Briefe, dass es am Schlusse
hieß: »Etwas, meine liebe Mama, hätte ich beinah
vergessen: den neuen Landwehrbezirkskommandeur, den wir nun schon
beinah vier Wochen hier haben. Ja, haben wir ihn wirklich? Das
ist die Frage, und eine Frage von Wichtigkeit dazu, so sehr du
darüber lachen wirst und auch lachen musst, weil du
den gesellschaftlichen Notstand nicht kennst, in dem wir uns nach
wie vor befinden. Oder wenigstens ich, die ich mich mit dem Adel
hier nicht gut zurechtfinden kann. Vielleicht meine Schuld. Aber
das ist gleich. Tatsache bleibt: Notstand, und deshalb sah ich
durch all diese Winterwochen hin dem neuen Bezirkskommandeur
wie einem Trost- und Rettungsbringer entgegen. Sein Vorgänger
war ein Greuel, von schlechten Manieren und noch schlechteren
Sitten und zum Überfluss auch noch immer schlecht bei
Kasse. Wir haben all die Zeit über unter ihm gelitten, Innstetten
noch mehr als ich, und als wir Anfang April hörten, Major
von Crampas sei da, das ist nämlich der Name des neuen, da
fielen wir uns in die Arme, als könne uns nun nichts Schlimmes
mehr in diesem lieben Kessin passieren. Aber, wie schon kurz erwähnt,
es scheint, trotzdem er da ist, wieder nichts werden zu wollen.
Crampas ist verheiratet, zwei Kinder von zehn und acht Jahren,
die Frau ein Jahr älter als er, also sagen wir fünfundvierzig.
Das würde nun an und für sich nicht viel schaden, warum
soll ich mich nicht mit einer mütterlichen Freundin wundervoll
unterhalten können? Die Trippelli war auch nahe an dreißig,
und es ging ganz gut. Aber mit der Frau von Crampas, übrigens
keine Geborene, kann es nichts werden. Sie ist immer verstimmt,
beinahe melancholisch (ähnlich wie unsere Frau Kruse, an
die sie mich überhaupt erinnert) und das alles aus Eifersucht.
Er, Crampas, soll nämlich ein Mann vieler Verhältnisse
sein, ein Damenmann, etwas, was mir immer lächerlich ist
und mir auch in diesem Falle lächerlich sein würde,
wenn er nicht um eben solcher Dinge willen ein Duell mit einem
Kameraden gehabt hätte. Der linke Arm wurde ihm dicht unter
der Schulter zerschmettert, und man sieht es sofort, trotzdem
die Operation, wie mir Innstetten erzählt (ich glaube, sie
nennen es Resektion, damals noch von Wilms ausgeführt), als
ein Meisterstück der Kunst gerühmt wurde. Beide, Herr
und Frau von Crampas, waren vor vierzehn Tagen bei uns, um uns
ihren Besuch zu machen; es war eine sehr peinliche Situation,
denn Frau von Crampas beobachtete ihren Mann so, dass er
in eine halbe und ich in eine ganze Verlegenheit kam. Dass
er selbst sehr anders sein kann, ausgelassen und übermütig,
davon überzeugte ich mich, als er vor drei Tagen mit Innstetten
allein war und ich von meinem Zimmer her dem Gang ihrer Unterhaltung
folgen konnte. Nachher sprach auch ich ihn. Vollkommener Kavalier,
ungewöhnlich gewandt. Innstetten war während des Krieges
in derselben Brigade mit ihm, und sie haben sich im Norden von
Paris bei Graf Gröben öfter gesehen. Ja, meine liebe
Mama, das wäre nun also etwas gewesen, um in Kessin ein neues
Leben beginnen zu können; er, der Major, hat auch nicht die
pommerschen Vorurteile, trotzdem er in Schwedisch-Pommern zu Hause
sein soll. Aber die Frau! Ohne sie geht es natürlich nicht
und mit ihr erst recht nicht.«
Effi hatte ganz Recht gehabt, und es kam wirklich zu keiner weiteren
Annäherung mit dem Crampas'schen Paare. Man sah sich mal bei
der Borcke'schen Familie draußen, ein andermal ganz flüchtig
auf dem Bahnhof und wenige Tage später auf einer Boot- und
Vergnügungsfahrt, die nach einem am Breitling gelegenen großen
Buchen- und Eichenwalde, der »der Schnatermann« hieß, gemacht wurde; es kam
aber über kurze Begrüßungen nicht hinaus, und
Effi war froh, als Anfang Juni die Saison sich ankündigte.
Freilich fehlte es noch an Badegästen, die vor Johanni überhaupt
nur in Einzelexemplaren einzutreffen pflegten, aber schon die
Vorbereitungen waren eine Zerstreuung. In der Plantage wurden
Karussell und Scheibenstände hergerichtet, die Schiffersleute
kalfaterten und strichen ihre Boote, jede kleine Wohnung erhielt
neue Gardinen, die Zimmer, die feucht lagen, also den Schwamm
unter der Diele hatten, wurden ausgeschwefelt und dann gelüftet.
Auch in Effis eigener Wohnung, freilich um eines anderen Ankömmlings
als der Badegäste willen, war alles in einer gewissen Erregung;
selbst Frau Kruse wollte mittun, so gut es ging. Aber davor erschrak
Effi lebhaft und sagte: »Geert, dass nur die Frau Kruse
nichts anfasst; da kann nichts werden, und ich ängstige
mich schon gerade genug.« Innstetten versprach auch alles, Christel und
Johanna hätten ja Zeit genug, und um seiner jungen Frau Gedanken
überhaupt in eine andere Richtung zu bringen, ließ er das Thema der
Vorbereitungen ganz fallen und fragte stattdessen, ob sie denn schon
bemerkt habe, dass drüben ein Badegast eingezogen sei,
nicht gerade der erste, aber doch einer der ersten.
»Ja«, lachte Innstetten, »das ist die Regel. Aber
hier hast du eine Ausnahme. Jedenfalls hat sie mehr als ihre Witwenpension.
Sie kommt immer mit viel Gepäck, unendlich viel mehr als
sie gebraucht, und scheint überhaupt eine ganz eigene Frau,
wunderlich, kränklich und namentlich schwach auf den Füßen.
Sie misstraut sich deshalb auch und hat immer eine ältliche
Dienerin um sich, die kräftig genug ist, sie zu schützen
oder sie zu tragen, wenn ihr was passiert. Diesmal hat sie eine
neue. Aber doch wieder eine ganz ramassierte Person, ähnlich
wie die Trippelli, nur noch stärker.«
Das war Mitte Juni, dass Innstetten und Effi dies Gespräch
hatten. Von da ab brachte jeder Tag Zuzug, und nach dem Bollwerk
hin spazieren gehen, um daselbst die Ankunft des Dampfschiffes
abzuwarten, wurde wie immer um diese Zeit eine Art Tagesbeschäftigung
für die Kessiner. Effi freilich, weil Innstetten sie nicht
begleiten konnte, musste darauf verzichten, aber sie hatte
doch wenigstens die Freude, die nach dem Strand und dem Strandhotel
hinausführende, sonst so menschenleere Straße sich
beleben zu sehen, und war denn auch, um immer wieder Zeuge davon
zu sein, viel mehr als sonst in ihrem Schlafzimmer, von dessen
Fenstern aus sich alles am besten beobachten ließ. Johanna
stand dann neben ihr und gab Antwort auf ziemlich alles, was sie
wissen wollte; denn da die meisten alljährlich wiederkehrende
Gäste waren, so konnte das Mädchen nicht bloß
die Namen nennen, sondern mitunter auch eine Geschichte dazugeben.
Das alles war unterhaltlich und erheiternd für Effi. Gerade
am Johannistag aber traf es sich, dass kurz vor elf Uhr vormittags,
wo sonst der Verkehr vom Dampfschiff her am buntesten vorüberflutete,
statt der mit Ehepaaren, Kindern und Reisekoffern besetzten Droschken
aus der Mitte der Stadt her ein schwarz verhangener Wagen (dem
sich zwei Trauerkutschen anschlossen) die zur Plantage führende
Straße herunterkam und vor dem der landrätlichen Wohnung
gegenübergelegenen Hause hielt. Die verwitwete Frau Registrator
Rode war nämlich drei Tage vorher gestorben, und nach Eintreffen
der in aller Kürze benachrichtigten Berliner Verwandten war
seitens ebendieser beschlossen worden, die Tote nicht nach Berlin
hin überführen, sondern auf dem Kessiner Dünenkirchhof
begraben zu wollen. Effi stand am Fenster und sah neugierig auf
die sonderbar feierliche Szene, die sich drüben abspielte.
Die zum Begräbnis von Berlin her Eingetroffenen waren zwei
Neffen mit ihren Frauen, alle gegen vierzig, etwas mehr oder weniger,
und von beneidenswert gesunder Gesichtsfarbe. Die Neffen, in gut sitzenden
Fracks, konnten passieren, und die nüchterne Geschäftsmäßigkeit,
die sich in ihrem gesamten Tun ausdrückte, war im Grunde
mehr kleidsam als störend. Aber die beiden Frauen! Sie waren
ganz ersichtlich bemüht, den Kessinern zu zeigen, was eigentlich
Trauer sei, und trugen denn auch lange, bis an die Erde reichende
schwarze Kreppschleier, die zugleich ihr Gesicht verhüllten.
Und nun wurde der Sarg, auf dem einige Kränze und sogar ein
Palmwedel lagen, auf den Wagen gestellt, und die beiden Ehepaare
setzten sich in die Kutschen. In die erste - gemeinschaftlich
mit dem einen der beiden leidtragenden Paare - stieg auch Lindequist,
hinter der zweiten Kutsche aber ging die Hauswirtin und neben
dieser die stattliche Person, die die Verstorbene zur Aushilfe
mit nach Kessin gebracht hatte. Letztere war sehr aufgeregt und
schien durchaus ehrlich darin, wenn dies Aufgeregtsein auch vielleicht
nicht gerade Trauer war; der sehr heftig schluchzenden Hauswirtin
aber, einer Witwe, sah man dagegen fast allzu deutlich an, dass
sie sich beständig die Möglichkeit eines Extrageschenkes
berechnete, trotzdem sie in der bevorzugten und von anderen Wirtinnen
auch sehr beneideten Lage war, die für den ganzen Sommer
vermietete Wohnung noch einmal vermieten zu können.
Effi, als der Zug sich in Bewegung setzte, ging in ihren hinter
dem Hofe gelegenen Garten, um hier zwischen den Buchsbaumbeeten
den Eindruck des Lieb- und Leblosen, den die ganze Szene drüben
auf sie gemacht hatte, wieder loszuwerden. Als dies aber nicht
glücken wollte, kam ihr die Lust, statt ihrer eintönigen
Gartenpromenade lieber einen weiteren Spaziergang zu machen, und
zwar umso mehr, als ihr der Arzt gesagt hatte, viel Bewegung
im Freien sei das Beste, was sie bei dem, was ihr bevorstände,
tun könne. Johanna, die mit im Garten war, brachte ihr denn
auch Umhang, Hut und Entoutcas, und mit einem freundlichen »Guten
Tag« trat Effi aus dem Hause heraus und ging auf das Wäldchen
zu, neben dessen breitem chaussierten Mittelweg ein schmalerer
Fußsteig auf die Dünen und das am Strand gelegene Hotel
zulief. Unterwegs standen Bänke, von denen sie jede benutzte,
denn das Gehen griff sie an, und umso mehr, als inzwischen die
heiße Mittagsstunde herangekommen war. Aber wenn sie saß
und von ihrem bequemen Platz aus die Wagen und die Damen in Toilette
beobachtete, die da hinausfuhren, so belebte sie sich wieder.
Denn Heiteres sehen war ihr wie Lebensluft. Als das Wäldchen
aufhörte, kam freilich noch eine allerschlimmste Wegstelle,
Sand und wieder Sand und nirgends eine Spur von Schatten; aber
glücklicherweise waren hier Bohlen und Bretter gelegt, und
so kam sie, wenn auch erhitzt und müde, doch in guter Laune
bei dem Strandhotel an. Drinnen im Saal wurde schon gegessen,
aber hier draußen um sie her war alles still und leer, was
ihr in diesem Augenblicke denn auch das Liebste war. Sie ließ
sich ein Glas Sherry und eine Flasche Biliner Wasser bringen und
sah auf das Meer hinaus, das im hellen Sonnenlichte schimmerte,
während es am Ufer in kleinen Wellen brandete. »Da drüben
liegt Bornholm und dahinter Wisby, wovon mir Jahnke vor Zeiten
immer Wunderdinge vorschwärmte. Wisby ging ihm fast noch
über Lübeck und Wullenweber. Und hinter Wisby kommt Stockholm,
wo das Stockholmer Blutbad war, und dann kommen die großen
Ströme und dann das Nordkap und dann die Mitternachtssonne.«
Und im Augenblick erfasste sie eine Sehnsucht, das alles
zu sehen. Aber dann gedachte sie wieder dessen, was ihr so nahe
bevorstand, und sie erschrak fast. »Es ist eine Sünde,
dass ich so leichtsinnig bin und solche Gedanken habe und
mich wegträume, während ich doch an das Nächste
denken müsste. Vielleicht bestraft es sich auch noch
und alles stirbt hin, das Kind und ich. Und der Wagen und die
zwei Kutschen, die halten dann nicht drüben vor dem Hause,
die halten dann bei uns ... Nein, nein, ich mag hier nicht sterben,
ich will hier nicht begraben sein, ich will nach Hohen-Cremmen.
Und Lindequist, so gut er ist - aber Niemeyer ist mir lieber;
er hat mich getauft und eingesegnet und getraut, und Niemeyer
soll mich auch begraben.« Und dabei fiel eine Träne
auf ihre Hand. Dann aber lachte sie wieder. »Ich lebe ja
noch und bin erst siebzehn, und Niemeyer ist siebenundfünfzig.«
In dem Ess-Saal hörte sie das Geklapper des Geschirrs.
Aber mit einem Male war es ihr, als ob die Stühle geschoben
würden; vielleicht stand man schon auf, und sie wollte jede
Begegnung vermeiden. So erhob sie sich auch ihrerseits rasch wieder
von ihrem Platz, um auf einem Umweg nach der Stadt zurückzukehren.
Dieser Umweg führte sie dicht an dem Dünenkirchhof vorüber,
und weil der Torweg des Kirchhofs gerade offen stand, trat sie
ein. Alles blühte hier, Schmetterlinge flogen über die
Gräber hin, und hoch in den Lüften standen ein paar
Möwen. Es war so still und schön, und sie hätte
hier gleich bei den ersten Gräbern verweilen mögen;
aber weil die Sonne mit jedem Augenblick heißer niederbrannte,
ging sie höher hinauf auf einen schattigen Gang zu, den
Hängeweiden und etliche an den Gräbern stehende Trauereschen
bildeten. Als sie bis an das Ende dieses Ganges gekommen, sah
sie zur Rechten einen frisch aufgeworfenen Sandhügel mit
vier, fünf Kränzen darauf und dicht daneben eine schon
außerhalb der Baumreihe stehende Bank, darauf die gute,
robuste Person saß, die an der Seite der Hauswirtin dem
Sarge der verwitweten Registratorin als letzte Leidtragende gefolgt
war. Effi erkannte sie sofort wieder und war in ihrem Herzen bewegt,
die gute, treue Person, denn dafür musste sie sie halten,
in sengender Sonnenhitze hier vorzufinden. Seit dem Begräbnis
waren wohl an zwei Stunden vergangen.
»Ja. Sie sind die Frau Landrätin von drüben. Und ich habe mit der Alten
immer von Ihnen gesprochen. Zuletzt konnte sie nicht mehr, weil
sie keine rechte Luft mehr hatte, denn es saß ihr hier und
wird wohl Wasser gewesen sein; aber solange sie noch reden konnte,
redete sie immerzu. Es war 'ne richtige Berlin'sche ...«
»Nein; wenn ich das sagen wollte,
müsst ich lügen. Da liegt sie nun und man soll
von einem Toten nichts Schlimmes sagen, und erst recht nicht,
wenn er so kaum seine Ruhe hat. Na, die wird sie ja wohl haben!
Aber sie taugte nichts und war zänkisch und geizig, und für
mich hat sie auch nicht gesorgt. Und die Verwandtschaft, die da
gestern von Berlin gekommen ... gezankt haben sie sich bis in
die sinkende Nacht ... na, die taugt auch nichts, die taugt erst
recht nichts. Lauter schlechtes Volk, happig und gierig und hartherzig,
und haben mir barsch und unfreundlich und mit allerlei Redensarten
meinen Lohn ausgezahlt, bloß weil sie mussten und weil
es bloß noch sechs Tage sind bis zum Vierteljahrsersten.
Sonst hätte ich nichts gekriegt oder bloß halb oder
bloß ein Viertel. Nichts aus freien Stücken. Und einen
eingerissenen Fünfmarkschein haben sie mir gegeben, dass
ich nach Berlin zurückreisen kann; na, es reicht so gerade
für die vierte Klasse, und ich werde wohl auf meinem Koffer
sitzen müssen. Aber ich will auch gar nicht; ich will hier
sitzen bleiben und warten, bis ich sterbe ... Gott, ich dachte
nun mal Ruhe zu haben und hätte auch ausgehalten bei der
Alten. Und nun ist es wieder nichts und soll mich wieder 'rumstoßen
lassen. Und kattolsch bin ich auch noch. Ach, ich hab es satt
und läg am liebsten, wo die Alte liegt, und sie könnte
meinetwegen weiterleben ... Sie hätte gerne noch weitergelebt;
solche Menschenschikanierer, die nich mal Luft haben, die leben
immer am liebsten.«
Mit einem Male war die Person wie verwandelt. »Gott, das
bedeutet mir was. Das is ja 'ne Kreatur, die mich leiden kann,
die mich freundlich ansieht und ihren Kopf auf meine Knie legt.
Gott, das ist lange her, dass ich so was gehabt habe. Nu,
mein Alterchen, wie heißt du denn? Du bist ja ein Prachtkerl.«
»Ja, ganz recht, gnädige Frau, das ist ein kattolscher
Name. Und das kommt auch noch dazu, dass ich eine Kattolsche
bin. Aus'm Eichsfeld. Und das Kattolsche, das macht es einem immer
noch schwerer und saurer. Viele wollen keine Kattolsche, weil
sie so viel in die Kirche rennen. 'Immer in die Beichte; und die
Hauptsache sagen sie doch nich' - Gott, wie oft hab ich das hören
müssen, erst als ich in Giebichenstein im Dienst war und
dann in Berlin. Ich bin aber eine schlechte Katholikin und bin
ganz davon abgekommen, und vielleicht geht es mir deshalb so schlecht;
ja, man darf nich von seinem Glauben lassen und muss alles
ordentlich mitmachen.«
»Ach, gnäd'ge Frau, was soll ich vorhaben. Ich habe
gar nichts vor. Wahr und wahrhaftig, ich möchte hier sitzen
bleiben und warten, bis ich tot umfalle. Das wär mir das
Liebste. Und dann würden die Leute noch denken, ich hätte
die Alte so geliebt wie ein treuer Hund und hätte von ihrem
Grabe nicht weg gewollt und wäre da gestorben. Aber das ist
falsch, für solche Alte stirbt man nicht; ich will bloß
sterben, weil ich nicht leben kann.«
»Gewiss war ich. Das ist ja mein Bestes und Schönstes.
Solche alte Berlin'sche - Gott verzeih mir die Sünde, denn
sie ist nun tot und steht vor Gottes Thron und kann mich da verklagen
- solche Alte, wie die da, ja, das ist schrecklich, was man da
alles tun muss, und steht einem hier vor Brust und Magen,
aber solch kleines, liebes Ding, solch Dingelchen wie 'ne Puppe,
das einen mit seinen Guckäugelchen ansieht, ja, das ist was,
da geht einem das Herz auf. Als ich in Halle war, da war ich Amme
bei der Frau Salzdirektorin, und in Giebichenstein, wo ich nachher
hinkam, da hab ich Zwillinge mit der Flasche groß gezogen;
ja, gnäd'ge Frau, das versteh ich, da drin bin ich wie zu
Hause.«
»Nun, wissen Sie was, Roswitha, Sie sind eine gute, treue
Person, das seh ich Ihnen an, ein bisschen gradezu, aber
das schadet nichts, das sind mitunter die Besten, und ich habe
gleich ein Zutrauen zu Ihnen gefasst. Wollen Sie mit zu mir
kommen? Mir ist, als hätte Gott Sie mir geschickt. Ich erwarte
nun bald ein Kleines, Gott gebe mir seine Hilfe dazu, und wenn
das Kind da ist, dann muss es gepflegt und abgewartet werden
und vielleicht auch gepäppelt. Man kann das ja nicht wissen,
wiewohl ich es anders wünsche. Was meinen Sie, wollen Sie
mit zu mir kommen? Ich kann mir nicht denken, dass ich mich
in Ihnen irre.«
Roswitha war aufgesprungen und hatte die Hand der jungen Frau
ergriffen und küsste sie mit Ungestüm. »Ach,
es ist doch ein Gott im Himmel, und wenn die Not am größten
ist, ist die Hilfe am nächsten. Sie sollen sehn, gnäd'ge
Frau, es geht; ich bin eine ordentliche Person und habe gute Zeugnisse.
Das können Sie sehn, wenn ich Ihnen mein Buch bringe. Gleich
den ersten Tag, als ich die gnäd'ge Frau sah, da dacht ich:
'Ja, wenn du mal solchen Dienst hättest.' Und nun soll ich
ihn haben. O du lieber Gott, o du heilge Jungfrau Maria, wer
mir das gesagt hätte, wie wir die Alte hier unter der Erde
hatten und die Verwandten machten, dass sie wieder fortkamen
und mich hier sitzen ließen.«
Drüben lag die eingegitterte Stelle, deren weißer Stein
in der Nachmittagssonne blinkte und blitzte. Effi konnte jetzt
ruhiger hinsehen. Eine Weile noch führte der Weg zwischen
Dünen hin, bis sie dicht vor Utpatels Mühle den Außenrand
des Wäldchens erreichte. Da bog sie links ein, und unter
Benutzung einer schräg laufenden Allee, die die »Reeperbahn«
hieß, ging sie mit Roswitha auf die landrätliche Wohnung
zu.
Keine Viertelstunde, so war die Wohnung erreicht. Als beide hier
in den kühlen Flur traten, war Roswitha beim Anblick all
des Sonderbaren, das da umherhing, wie befangen; Effi aber ließ
sie nicht zu weiteren Betrachtungen kommen und sagte: »Roswitha,
nun gehen Sie da hinein. Das ist das Zimmer, wo wir schlafen.
Ich will erst zu meinem Manne nach dem Landratsamt hinüber
- das große Haus da neben dem kleinen, in dem Sie gewohnt
haben - und will ihm sagen, dass ich Sie zur Pflege haben
möchte bei dem Kinde. Er wird wohl mit allem einverstanden
sein, aber ich muss doch erst seine Zustimmung haben. Und
wenn ich die habe, dann müssen wir ihn ausquartieren, und
Sie schlafen mit mir in dem Alkoven. Ich denke, wir werden uns
schon vertragen.«
Roswitha lachte, was auf ihre junge Herrin einen besonders guten
Eindruck machte. Effi war fest protestantisch erzogen und würde
sehr erschrocken gewesen sein, wenn man an und in ihr was Katholisches
entdeckt hätte; trotzdem glaubte sie, dass der Katholizismus
uns gegen solche Dinge »wie da oben« besser schütze;
ja, diese Betrachtung hatte bei dem Plan, Roswitha ins Haus zu
nehmen, ganz erheblich mitgewirkt.
Man lebte sich schnell ein, denn Effi hatte ganz den liebenswürdigen
Zug der meisten märkischen Landfräulein, sich gern allerlei
kleine Geschichten erzählen zu lassen, und die verstorbene
Frau Registratorin und ihr Geiz und ihre Neffen und ihre Frauen
boten einen unerschöpflichen Stoff. Auch Johanna hörte
dabei gerne zu.
Diese, wenn Effi bei den drastischen Stellen oft laut lachte,
lächelte freilich und verwunderte sich im Stillen, dass
die gnädige Frau an all dem dummen Zeug so viel Gefallen finde;
diese Verwunderung aber, die mit einem starken Überlegenheitsgefühle
Hand in Hand ging, war doch auch wieder ein Glück und sorgte
dafür, dass keine Rangstreitigkeiten aufkommen konnten.
Roswitha war einfach die komische Figur, und Neid gegen sie zu
hegen, wäre für Johanna nichts anderes gewesen, wie wenn
sie Rollo um seine Freundschaftsstellung beneidet hätte.
So verging eine Woche, plauderhaft und beinahe gemütlich,
weil Effi dem, was ihr persönlich bevorstand, ungeängstigter
als früher entgegensah. Auch glaubte sie nicht, dass
es so nahe sei. Den neunten Tag aber war es mit dem Plaudern und
den Gemütlichkeiten vorbei; da gab es ein Laufen und Rennen,
Innstetten selbst kam ganz aus seiner gewohnten Reserve heraus,
und am Morgen des 3. Juli stand neben Effis Bett eine Wiege. Doktor
Hannemann patschelte der jungen Frau die Hand und sagte: »Wir
haben heute den Tag von Königgrätz; schade, dass
es ein Mädchen ist. Aber das andere kann ja nachkommen, und
die Preußen haben viele Siegestage.« Roswitha mochte
wohl Ähnliches denken, freute sich indessen vorläufig
ganz uneingeschränkt über das, was da war, und nannte
das Kind ohne weiteres »Lütt-Annie«, was der jungen
Mutter als ein Zeichen galt. »Es müsse doch wohl eine Eingebung
gewesen sein, dass Roswitha gerade auf diesen Namen gekommen
sei.« Selbst Innstetten wusste nichts dagegen zu sagen, und
so wurde schon von Klein-Annie gesprochen, lange bevor der Tauftag da
war. Effi, die von Mitte August an bei den Eltern in Hohen-Cremmen
sein wollte, hätte die Taufe gern bis dahin verschoben. Aber
es ließ sich nichts tun; Innstetten konnte nicht Urlaub
nehmen, und so wurde denn der 15. August, trotzdem es der Napoleonstag
war (was denn auch von Seiten einiger Familien beanstandet wurde),
für diesen Taufakt festgesetzt, natürlich in der Kirche.
Das sich anschließende Festmahl, weil das landrätliche
Haus keinen Saal hatte, fand in dem großen Ressourcen-Hotel
am Bollwerk statt, und der gesamte Nachbaradel war geladen und
auch erschienen. Pastor Lindequist ließ Mutter und Kind
in einem liebenswürdigen und allseitig bewunderten Toaste
leben, bei welcher Gelegenheit Sidonie von Grasenabb zu ihrem
Nachbar, einem adligen Assessor von der strengen Richtung, bemerkte:
»Ja, seine Kasualreden, das geht. Aber seine Predigten kann
er vor Gott und Menschen nicht verantworten; er ist ein Halber,
einer von denen, die verworfen sind, weil sie lau sind. Ich mag
das Bibelwort hier nicht wörtlich zitieren.« Gleich
danach nahm auch der alte Herr von Borcke das Wort, um Innstetten
leben zu lassen. »Meine Herrschaften, es sind schwere Zeiten,
in denen wir leben, Auflehnung, Trotz, Indisziplin, wohin wir blicken.
Aber solange wir noch Männer haben, und ich darf hinzusetzen,
Frauen und Mütter (und hier verbeugte er sich mit einer eleganten
Handbewegung gegen Effi) ... solange wir noch Männer haben
wie Baron Innstetten, den ich stolz bin meinen Freund nennen
zu dürfen, so lange geht es noch, so lange hält unser
altes Preußen noch. Ja, meine Freunde, Pommern und Brandenburg,
damit zwingen wir's und zertreten dem Drachen der Revolution das
giftige Haupt. Fest und treu, so siegen wir. Die Katholiken, unsere
Brüder, die wir, auch wenn wir sie bekämpfen, achten
müssen, haben den Felsen Petri, wir aber haben den Rocher
de Bronze. Baron Innstetten, er lebe hoch!« Innstetten dankte
ganz kurz. Effi sagte zu dem neben ihr sitzenden Major von Crampas,
das mit dem 'Felsen Petri' sei wahrscheinlich eine Huldigung
gegen Roswitha gewesen; sie werde nachher an den alten Justizrat
Gadebusch herantreten und ihn fragen, ob er nicht ihrer Meinung
sei. Crampas nahm diese Bemerkung unerklärlicherweise für
Ernst und riet von einer Anfrage bei dem Justizrat ab, was Effi
ungemein erheiterte. »Ich habe Sie doch für einen besseren
Seelenleser gehalten.«
Als man von Tisch aufgestanden war, kam der Spätnachmittags-Dampfer
die Kessine herunter und legte an der Landungsbrücke gegenüber
dem Hotel an. Effi saß mit Crampas und Gieshübler
beim Kaffee, alle Fenster auf, und sah dem Schauspiel drüben
zu. »Morgen früh um neun führt mich dasselbe Schiff
den Fluss hinauf, und zu Mittag bin ich in Berlin, und am
Abend bin ich in Hohen-Cremmen, und Roswitha geht neben mir und
hält das Kind auf dem Arme. Hoffentlich schreit es nicht.
Ach, wie mir schon heute zu Mute ist! Lieber Gieshübler, sind
Sie auch mal so froh gewesen, ihr elterliches Haus wiederzusehen?«
Mitte August war Effi abgereist, Ende September war sie wieder
in Kessin. Manchmal in den zwischenliegenden sechs Wochen hatte
sie's zurückverlangt; als sie aber wieder da war und in den
dunklen Flur eintrat, auf den nur von der Treppenstiege her ein
etwas fahles Licht fiel, wurde ihr mit einem Mal wieder bang und
sie sagte leise: »Solch fahles gelbes Licht gibt es in Hohen-Cremmen
gar nicht.«
Ja, ein paarmal während ihrer Hohen-Cremmer Tage hatte sie
Sehnsucht nach dem »verwunschenen Hause« gehabt, alles
in allem aber war ihr doch das Leben daheim voller Glück
und Zufriedenheit gewesen. Mit Hulda freilich, die's nicht verwinden
konnte, noch immer auf Mann oder Bräutigam warten zu müssen,
hatte sie sich nicht recht stellen können, desto besser dagegen
mit den Zwillingen, und mehr als einmal, wenn sie mit ihnen Ball
oder Krocket gespielt hatte, war ihr's ganz aus dem Sinn gekommen,
überhaupt verheiratet zu sein. Das waren dann glückliche
Viertelstunden gewesen. Am liebsten aber hatte sie wie früher
auf dem durch die Luft fliegenden Schaukelbrett gestanden und
in dem Gefühle 'jetzt stürz' ich' etwas eigentümlich
Prickelndes, einen Schauer süßer Gefahr empfunden.
Sprang sie dann schließlich von der Schaukel ab, so begleitete
sie die beiden Mädchen bis an die Bank vor dem Schulhause
und erzählte, wenn sie da saßen, dem alsbald hinzukommenden
Jahnke von ihrem Leben in Kessin, das halb hanseatisch und halb
skandinavisch und jedenfalls sehr anders als in Schwantikow und
Hohen-Cremmen sei.
Das waren so die täglichen kleinen Zerstreuungen, an die
sich gelegentlich auch Fahrten in das sommerliche Luch schlossen,
meist im Jagdwagen; allem voran aber standen für Effi doch
die Plaudereien, die sie beinahe jeden Morgen mit der Mama hatte.
Sie saßen dann oben in der luftigen, großen Stube,
Roswitha wiegte das Kind und sang in einem thüringischen
Platt allerlei Wiegenlieder, die niemand recht verstand, vielleicht
sie selber nicht; Effi und Frau von Briest aber rückten ans
offene Fenster und sahen, während sie sprachen, auf den Park
hinunter, auf die Sonnenuhr oder auf die Libellen, die beinahe
regungslos über dem Teich standen, oder auch auf den Fliesengang,
wo Herr von Briest neben dem Treppenvorbau saß und die Zeitungen
las. Immer wenn er umschlug, nahm er zuvor den Kneifer ab und
grüßte zu Frau und Tochter hinauf. Kam dann das letzte
Blatt an die Reihe, das in der Regel der »Anzeiger fürs
Havelland« war, so ging Effi hinunter, um sich entweder zu
ihm zu setzen oder um mit ihm durch Garten und Park zu schlendern.
Einmal bei solcher Gelegenheit traten sie von dem Kieswege her
an ein kleines, zur Seite stehendes Denkmal heran, das schon Briests
Großvater zur Erinnerung an die Schlacht von Waterloo hatte
aufrichten lassen, eine verrostete Pyramide mit einem gegossenen
Blücher in Front und einem dito Wellington auf der Rückseite.
»Nein, Papa, solche Spaziergänge habe ich nicht. Das
ist ausgeschlossen, denn wir haben bloß einen kleinen Garten
hinter dem Haus, der eigentlich kaum ein Garten ist, bloß
ein paar Buchsbaumrabatten und Gemüsebeete mit drei, vier
Obstbäumen drin. Innstetten hat keinen Sinn dafür und
denkt wohl auch nicht sehr lange mehr in Kessin zu bleiben.«
»Ach, Papa, das wäre ja schrecklich, wenn's auch freilich
- so viel muss ich zugeben - eine Zeit gegeben hat, wo's ohne
Rollo gar nicht gegangen wäre. Das war damals ... nun, du
weißt schon ... Da hat er mich so gut wie gerettet oder
ich habe mir's wenigstens eingebildet, und seitdem ist er mein
guter Freund und mein ganz besonderer Verlass. Aber er ist
doch bloß ein Hund. Und erst kommen doch natürlich
die Menschen.«
»Ja, das sagt man immer, aber ich habe da doch so meine Zweifel.
Das mit der Kreatur, damit hat's doch seine eigene Bewandtnis,
und was da das Richtige ist, darüber sind die Akten noch
nicht geschlossen. Glaube mir, Effi, das ist auch ein weites Feld.
Wenn ich mir so denke, da verunglückt einer auf dem Wasser
oder gar auf dem schülbrigen Eis, und solch ein Hund, sagen
wir so einer wie dein Rollo, ist dabei, ja, der ruht nicht eher,
als bis er den Verunglückten wieder an Land hat. Und wenn
der Verunglückte schon tot ist, dann legt er sich neben den
Toten hin und blafft und winselt so lange, bis wer kommt, und
wenn keiner kommt, dann bleibt er bei dem Toten liegen, bis er
selber tot ist. Und das tut solch Tier immer. Und nun nimm dagegen
die Menschheit! Gott, vergib mir die Sünde, aber mitunter
ist mir's doch, als ob die Kreatur besser wäre als der Mensch.«
Effi errötete, weil sie geradeso dachte. Sie mochte es aber
nicht einräumen. »Innstetten ist so gewissenhaft und
will, glaub ich, gut angeschrieben sein und hat so seine Pläne
für die Zukunft; Kessin ist doch bloß eine Station.
Und dann am Ende, ich lauf ihm ja nicht fort. Er hat mich ja.
Wenn man zu zärtlich ist ... und dazu der Unterschied der
Jahre ... da lächeln die Leute bloß.«
»Ja, das tun sie, Effi. Aber darauf muss man's ankommen
lassen. Übrigens sage nichts darüber, auch nicht zu
Mama. Es ist so schwer, was man tun und lassen soll. Das ist auch
ein weites Feld.«
Gespräche wie diese waren während Effis Besuch im elterlichen
Hause mehr als einmal geführt worden, hatten aber glücklicherweise
nicht lange nachgewirkt, und ebenso war auch der etwas melancholische
Eindruck rasch verflogen, den das erste Wiederbetreten ihres Kessiner
Hauses auf Effi gemacht hatte. Innstetten zeigte sich voll kleiner
Aufmerksamkeiten, und als der Tee genommen und alle Stadt- und
Liebesgeschichten in heiterster Stimmung durchgesprochen waren,
hing sich Effi zärtlich an seinen Arm, um drüben
ihre Plaudereien mit ihm fortzusetzen und noch einige Anekdoten
von der Trippelli zu hören, die neuerdings wieder mit Gieshübler
in einer lebhaften Korrespondenz gestanden hatte, was immer gleichbedeutend
mit einer neuen Belastung ihres nie ausgeglichenen Kontos war.
Effi war bei diesem Gespräch sehr ausgelassen, fühlte
sich ganz als junge Frau und war froh, die nach der Gesindestube
hin ausquartierte Roswitha auf unbestimmte Zeit los zu sein.
Am anderen Morgen sagte sie: »Das Wetter ist schön und
mild, und ich hoffe, die Veranda nach der Plantage hinaus ist
noch in gutem Stande, und wir können uns ins Freie setzen
und da das Frühstück nehmen. In unsere Zimmer kommen
wir ohnehin noch früh genug, und der Kessiner Winter ist
wirklich um vier Wochen zu lang.«
Innstetten war sehr einverstanden. Die Veranda, von der Effi gesprochen
und die vielleicht richtiger ein Zelt genannt worden wäre,
war schon im Sommer hergerichtet worden, drei, vier Wochen vor
Effis Abreise nach Hohen-Cremmen, und bestand aus einem großen
gedielten Podium, vorn offen, mit einer mächtigen Markise
zu Häupten, während links und rechts breite Leinwandvorhänge
waren, die sich mit Hilfe von Ringen an einer Eisenstange hin
und her schieben ließen. Es war ein reizender Platz, den
ganzen Sommer über von allen Badegästen, die hier vorüber
mussten, bewundert.
Effi hatte sich in einen Schaukelstuhl gelehnt und sagte, während
sie das Kaffeebrett von der Seite her ihrem Manne zuschob: »Geert,
du könntest heute den liebenswürdigen Wirt machen; ich
für mein Teil find es so schön in diesem Schaukelstuhl,
dass ich nicht aufstehen mag. Also strenge dich an, und wenn
du dich recht freust, mich wieder hier zu haben, so werd ich mich
auch zu revanchieren wissen.« Und dabei zupfte sie die weiße
Damastdecke zurecht und legte ihre Hand darauf, die Innstetten
nahm und küsste.
»Ja, Geert, wenn du nur ein bisschen Sehnsucht gehabt
hättest, so hättest du mich nicht sechs Wochen mutterwindallein
in Hohen-Cremmen sitzen lassen wie eine Witwe, und nichts da als
Niemeyer und Jahnke und mal die Schwantikower. Und von den Rathenowern
ist niemand gekommen, als ob sie sich vor mir gefürchtet
hätten oder als ob ich zu alt geworden sei.«
»Nun, ich will es lieber nicht sagen. Aber ich kenne dich
recht gut; du bist eigentlich, wie der Schwantikower Onkel mal
sagte, ein Zärtlichkeitsmensch und unterm Liebesstern geboren,
und Onkel Belling hatte ganz Recht, als er das sagte. Du willst
es bloß nicht zeigen und denkst, es schickt sich nicht und
verdirbt einem die Karriere. Hab ich's getroffen?«
Crampas trat heran. Er war in Zivil und küsste der in
ihrem Schaukelstuhl sich weiter wiegenden Effi die Hand. »Entschuldigen
Sie mich, Major, dass ich so schlecht die Honneurs des Hauses
mache; aber die Veranda ist kein Haus und zehn Uhr früh
ist eigentlich gar keine Zeit. Da wird man formlos oder, wenn
Sie wollen, intim. Und nun setzen Sie sich und geben Sie Rechenschaft
von Ihrem Tun. Denn an Ihrem Haar, ich wünschte Ihnen, dass
es mehr wäre, sieht man deutlich, dass Sie gebadet haben.«
»Unverantwortlich«, sagte Innstetten, halb ernst-, halb
scherzhaft. »Da haben Sie nun selber vor vier Wochen die
Geschichte mit dem Bankier Heinersdorf erlebt, der auch dachte,
das Meer und der grandiose Wellenschlag würden ihn um seiner
Million willen respektieren. Aber die Götter sind eifersüchtig
untereinander, und Neptun stellte sich ohne weiteres gegen Pluto
oder doch wenigstens gegen Heinersdorf.«
Crampas lachte. »Ja, eine Million Mark! Lieber Innstetten, wenn ich die
hätte, da hätt ich es am Ende nicht gewagt; denn
so schön das Wetter ist, das Wasser hatte nur neun Grad.
Aber unsereins mit seiner Million Unterbilanz, gestatten Sie mir
diese kleine Renommage, unsereins kann sich so was ohne Furcht
vor der Götter Eifersucht erlauben. Und dann muss einen
das Sprichwort trösten: 'Wer für den Strick geboren
ist, kann im Wasser nicht umkommen.'«
»... Ist es keine herkömmliche Todesart. Zugegeben, meine
Gnädigste. Nicht herkömmlich und in meinem Fall auch
nicht einmal sehr wahrscheinlich - also alles bloß Zitat
oder noch richtiger façon de parler. Und doch steckt etwas
aufrichtig Gemeintes dahinter, wenn ich da eben sagte, die See
werde mir nichts anhaben. Es steht mir nämlich fest, dass
ich einen richtigen und hoffentlich ehrlichen Soldatentod sterben
werde. Zunächst bloß Zigeunerprophezeiung, aber mit
Resonanz im eigenen Gewissen.«
Innstetten lachte. »Das wird seine Schwierigkeiten haben,
Crampas, wenn Sie nicht vorhaben, beim Großtürken oder
unterm chinesischen Drachen Dienst zu nehmen. Da schlägt
man sich jetzt herum. Hier ist die Geschichte, glauben Sie mir,
auf dreißig Jahre vorbei, und wer seinen Soldatentod sterben
will ...«
»... Der muss sich erst bei Bismarck einen Krieg bestellen.
Weiß ich alles, Innstetten. Aber das ist doch für Sie
eine Kleinigkeit. Jetzt haben wir Ende September; in zehn Wochen
spätestens ist der Fürst wieder in Varzin, und da er
ein liking für Sie hat - mit der volkstümlicheren Wendung
will ich zurückhalten, um nicht direkt vor Ihren Pistolenlauf
zu kommen - so werden Sie einem alten Kameraden von Vionville
her doch wohl ein bisschen Krieg besorgen können. Der
Fürst ist auch nur ein Mensch, und Zureden hilft.«
Effi hatte während dieses Gesprächs einige Brotkügelchen
gedreht, würfelte damit und legte sie zu Figuren zusammen,
um so anzuzeigen, dass ihr ein Wechsel des Themas wünschenswert
wäre. Trotzdem schien Innstetten auf Crampas scherzhafte
Bemerkungen antworten zu wollen, was denn Effi bestimmte, lieber
direkt einzugreifen. »Ich sehe nicht ein, Major, warum wir
uns mit Ihrer Todesart beschäftigen sollen; das Leben ist
uns näher und zunächst auch eine viel ernstere Sache.«
»Das ist recht, dass Sie mir Recht geben. Wie soll man
hier leben? Das ist vorläufig die Frage, das ist
wichtiger als alles andere. Gieshübler hat mir darüber
geschrieben, und wenn es nicht indiskret und eitel wäre,
denn es steht noch allerlei nebenher darin, so zeigte ich Ihnen
den Brief ... Innstetten braucht ihn nicht zu lesen, der hat keinen
Sinn für dergleichen ... beiläufig eine Handschrift
wie gestochen und Ausdrucksformen, als wäre unser Freund
statt am Kessiner Alten Markt an einem altfranzösischen Hofe
erzogen worden. Und dass er verwachsen ist und weiße
Jabots trägt wie kein anderer Mensch mehr - ich weiß
nur nicht, wo er die Plätterin hernimmt -, das passt
alles so vorzüglich. Nun, also Gieshübler hat mir von
Plänen für die Ressourcenabende geschrieben und von
einem Entrepreneur, Namens Crampas. Sehen Sie, Major, das gefällt
mir besser als der Soldatentod oder gar der andere.«
»Abwechslung also«, fuhr Crampas fort. »Und diese
für uns und unsere Ressource zu gewinnen, deren Vizevorstand
zu sein ich zur Zeit die Ehre habe, dazu braucht es aller bewährten
Kräfte. Wenn wir uns zusammentun, so müssen wir das
ganze Nest auf den Kopf stellen. Die Theaterstücke sind schon
ausgesucht: Krieg im Frieden, Monsieur Herkules, Jugendliebe
von Wildbrandt, vielleicht auch Euphrosine von Gensichen. Sie
die Euphrosine, ich der alte Goethe. Sie sollen staunen, wie gut
ich den Dichterfürsten tragiere ... wenn 'tragieren' das
richtige Wort ist.«
Die Tage waren schön und blieben es bis in den Oktober hinein.
Eine Folge davon war, dass die halb zeltartige Veranda draußen
zu ihrem Rechte kam, so sehr, dass sich wenigstens die Vormittagsstunden
regelmäßig darin abspielten. Gegen elf kam dann wohl
der Major, um sich zunächst nach dem Befinden der gnädigen
Frau zu erkundigen und mit ihr ein wenig zu medisieren, was er
wundervoll verstand, danach aber mit Innstetten einen Ausritt
zu verabreden, oft landeinwärts, die Kessine hinauf bis an
den Breitling, noch häufiger auf die Molen zu. Effi, wenn
die Herren fort waren, spielte mit dem Kind oder durchblätterte
die von Gieshübler nach wie vor ihr zugeschickten Zeitungen
und Journale, schrieb auch wohl einen Brief an die Mama oder sagte:
»Roswitha, wir wollen mit Annie spazieren fahren«, und
dann spannte sich Roswitha vor den Korbwagen und fuhr, während
Effi hinterherging, ein paar hundert Schritt in das Wäldchen
hinein auf eine Stelle zu, wo Kastanien ausgestreut lagen, die
man nun auflas, um sie dem Kinde als Spielzeug zu geben. In die
Stadt kam Effi wenig; es war niemand recht da, mit dem sie hätte
plaudern können, nachdem ein Versuch, mit der Frau von Crampas
auf einen Umgangsfuß zu kommen, aufs Neue gescheitert war.
Die Majorin war und blieb menschenscheu.
Das ging so wochenlang, bis Effi plötzlich den Wunsch äußerte,
mit ausreiten zu dürfen; sie habe nun mal die Passion, und
es sei doch zu viel verlangt, bloß um des Geredes der Kessiner
willen auf etwas zu verzichten, das einem so viel wert sei. Der
Major fand die Sache kapital und Innstetten, dem es augenscheinlich
weniger passte - so wenig, dass er immer wieder hervorhob,
es werde sich kein Damenpferd finden lassen - Innstetten musste
nachgeben, als Crampas versicherte, das solle seine Sorge sein.
Und richtig, was man wünschte, fand sich auch, und Effi war
selig, am Strande hinjagen zu können, jetzt wo »Damenbad«
und »Herrenbad« keine scheidenden Schreckensworte mehr
waren. Meist war auch Rollo mit von der Partie, und weil es sich
ein paar Mal ereignet hatte, dass man am Strande zu rasten
oder auch eine Strecke Wegs zu Fuß zu machen wünschte,
so kam man überein, sich von entsprechender Dienerschaft
begleiten zu lassen, zu welchem Behufe des Majors Bursche, ein
alter Treptower Ulan, der Knut hieß, und Innstettens Kutscher
Kruse zu Reitknechten umgewandelt wurden, allerdings ziemlich
unvollkommen, indem sie zu Effis Leidwesen in eine Phantasie-Livree
gesteckt wurden, darin der eigentliche Beruf beider noch nachspukte.
Mitte Oktober war schon heran, als man so herausstaffiert zum
ersten Mal in voller Kavalkade aufbrach, in Front Innstetten und
Crampas, Effi zwischen ihnen, dann Kruse und Knut und zuletzt
Rollo, der aber bald, weil ihm das Nachtrotten missfiel,
allen vorauf war. Als man das jetzt öde Strandhotel passiert
und bald danach, sich rechts haltend, auf dem von einer mäßigen
Brandung überschäumten Strandwege den diesseitigen Molendamm
erreicht hatte, verspürte man Lust, abzusteigen und einen
Spaziergang bis an den Kopf der Mole zu machen. Effi war die Erste
aus dem Sattel. Zwischen den beiden Steindämmen floss
die Kessine breit und ruhig dem Meere zu, das wie eine sonnenbeschienene
Fläche, darauf nur hier und da eine leichte Welle kräuselte,
vor ihnen lag.
Effi war noch nie hier draußen gewesen, denn als sie vorigen
November in Kessin eintraf, war schon Sturmzeit, und als der Sommer
kam, war sie nicht mehr imstande, weite Gänge zu machen.
Sie war jetzt entzückt, fand alles groß und herrlich,
erging sich in kränkenden Vergleichen zwischen dem Luch und
dem Meer und ergriff, sooft die Gelegenheit dazu sich bot, ein
Stück angeschwemmtes Holz, um es nach links hin in die See
oder nach rechts hin in die Kessine zu werfen. Rollo war immer
glücklich, im Dienste seiner Herrin sich nachstürzen
zu können; mit einem Mal aber wurde seine Aufmerksamkeit nach
einer ganz anderen Seite hin abgezogen, und sich vorsichtig, ja
beinahe ängstlich vorwärts schleichend, sprang er plötzlich
auf einen in Front sichtbar werdenden Gegenstand zu, freilich
vergeblich, denn im selben Augenblicke glitt von einem sonnenbeschienenen
und mit grünem Tang überwachsenen Stein eine Robbe glatt
und geräuschlos in das nur etwa fünf Schritt entfernte
Meer hinunter. Eine kurze Weile noch sah man den Kopf, dann tauchte
auch dieser unter.
»Nein«, lachte dieser, »und ich will es auch nicht.
Auf Mohrenwäsche lasse ich mich nicht ein. Aber einer wie
Sie, Crampas, der unter der Fahne der Disziplin groß geworden
ist und recht gut weiß, dass es ohne Zucht und Ordnung
nicht geht, ein Mann wie Sie, der sollte doch eigentlich so was
nicht reden, auch nicht einmal im Spaß. Indessen, ich weiß
schon, Sie haben einen himmlischen Kehrmichnichtdran und denken,
der Himmel wird nicht gleich einstürzen. Nein, gleich nicht.
Aber mal kommt es.«
Crampas wurde einen Augenblick verlegen, weil er glaubte, das
alles sei mit einer gewissen Absicht gesprochen, was aber nicht
der Fall war. Innstetten hielt nur einen seiner kleinen moralischen
Vorträge, zu denen er überhaupt hinneigte. »Da
lob ich mir Gieshübler«, sagte er einlenkend, »immer
Kavalier und dabei doch Grundsätze.«
Der Major hatte sich mittlerweile wieder zurechtgefunden und sagte
in seinem alten Ton: »Ja, Gieshübler; der beste Kerl
von der Welt und, wenn möglich, noch bessere Grundsätze.
Aber am Ende woher? warum? Weil er einen 'Verdruss' hat.
Wer gerade gewachsen ist, ist für Leichtsinn. Überhaupt
ohne Leichtsinn ist das ganze Leben keinen Schuss Pulver
wert.«
Effi hatte von diesem Gespräch wenig gehört. Sie war dicht
an die Stelle getreten, wo die Robbe gelegen, und Rollo stand neben ihr.
Dann sahen beide, von dem Stein weg, auf das Meer und warteten, ob die 'Seejungfrau'
noch einmal sichtbar werden würde.
Ende Oktober begann die Wahlkampagne, was Innstetten hinderte,
sich ferner an den Ausflügen zu beteiligen, und auch Crampas
und Effi hätten jetzt um der lieben Kessiner willen wohl
verzichten müssen, wenn nicht Knut und Kruse als eine Art
Ehrengarde gewesen wären. So kam es, dass sich die Spazierritte
bis in den November hinein fortsetzten.
Ein Wetterumschlag war freilich eingetreten, ein andauernder
Nordwest trieb Wolkenmassen heran, und das Meer schäumte
mächtig, aber Regen und Kälte fehlten noch und so waren
diese Ausflüge bei grauem Himmel und lärmender Brandung
fast noch schöner, als sie vorher bei Sonnenschein und stiller
See gewesen waren. Rollo jagte vorauf, dann und wann von der Gischt
überspritzt, und der Schleier von Effis Reithut flatterte
im Winde. Dabei zu sprechen war fast unmöglich; wenn man dann
aber vom Meer fort in die schutzgebenden Dünen oder noch
besser in den weiter zurückgelegenen Kiefernwald einlenkte,
so wurd es still, Effis Schleier flatterte nicht mehr, und die
Enge des Wegs zwang die beiden Reiter dicht nebeneinander. Das
war dann die Zeit, wo man - schon um der Knorren und Wurzeln willen
im Schritt reitend - die Gespräche, die der Brandungslärm
unterbrochen hatte, wieder aufnehmen konnte. Crampas, ein guter
Causeur, erzählte dann Kriegs- und Regimentsgeschichten,
auch Anekdoten und kleine Charakterzüge von Innstetten, der
mit seinem Ernst und seiner Zugeknöpftheit in den übermütigen
Kreis der Kameraden nie recht hineingepasst habe, so dass
er eigentlich immer mehr respektiert als geliebt worden sei.
»Ja, zu seiner Zeit. Aber er passt doch nicht immer.
Und zu dem allen kam noch seine mystische Richtung, die mitunter
Anstoß gab, einmal, weil Soldaten überhaupt nicht sehr
für derlei Dinge sind, und dann, weil wir die Vorstellung
unterhielten, vielleicht mit Unrecht, dass er doch nicht ganz
so dazu stände, wie er's uns einreden wollte.«
»Nein, so weit ging er nicht. Aber es ist vielleicht besser,
davon abzubrechen. Ich möchte nicht hinter seinem Rücken
etwas sagen, was falsch ausgelegt werden könnte. Zudem sind
es Dinge, die sich sehr gut auch in seiner Gegenwart verhandeln
lassen. Dinge, die nur, man mag wollen oder nicht, zu was Sonderbarem
aufgebauscht werden, wenn er nicht dabei ist und nicht jeden Augenblick
eingreifen und uns widerlegen oder meinetwegen auch auslachen
kann.«
»Ein Geisterseher! Das will ich nicht gerade sagen. Aber
er hatte eine Vorliebe, uns Spukgeschichten zu erzählen.
Und wenn er uns dann in große Aufregung versetzt und manchen
auch wohl geängstigt hatte, dann war es mit einem Male wieder,
als habe er sich über alle die Leichtgläubigen bloß
mokieren wollen. Und kurz und gut, einmal kam es, dass ich
ihm auf den Kopf zusagte: 'Ach was, Innstetten, das ist ja alles
bloß Komödie. Mich täuschen Sie nicht. Sie treiben
Ihr Spiel mit uns. Eigentlich glauben Sie's grad so wenig wie wir,
aber Sie wollen sich interessant machen und haben eine Vorstellung
davon, dass Ungewöhnlichkeiten nach oben hin besser
empfehlen. In höheren Karrieren will man keine Alltagsmenschen.
Und da Sie so was vorhaben, so haben Sie sich was Apartes ausgesucht
und sind bei der Gelegenheit auf den Spuk gefallen.'«
»Darf ich fragen warum? Hab ich Anstoß gegeben? Oder
finden Sie's unritterlich, einen abwesenden Freund, ich muss
das trotz aller Verwahrungen einräumen, ein klein wenig zu
hecheln? Aber da tun Sie mir trotz alledem Unrecht. Das alles
soll ganz ungeniert seine Fortsetzung vor seinen Ohren haben,
und ich will ihm dabei jedes Wort wiederholen, was ich jetzt eben
gesagt habe.«
»Also ganz der Alte«, lachte Crampas. »So war er
damals auch schon, als wir in Liancourt und dann später in
Beauvais mit ihm in Quartier lagen. Er wohnte da in einem alten
bischöflichen Palast - beiläufig, was Sie vielleicht
interessieren wird, war es ein Bischof von Beauvais, glücklicherweise
'Cochon' mit Namen, der die Jungfrau von Orleans zum Feuertod
verurteilte - und da verging denn kein Tag, das heißt keine
Nacht, wo Innstetten nicht Unglaubliches erlebt hatte. Freilich
immer nur so halb. Es konnte auch nichts sein. Und nach diesem
Prinzip arbeitet er noch, wie ich sehe.«
»Ja, wenn ich durchaus sprechen soll, er denkt sich dabei,
dass ein Mann wie Landrat Baron Innstetten, der jeden Tag
Ministerial-Direktor oder dergleichen werden kann (denn glauben
Sie mir, er ist hoch hinaus), dass ein Mann wie Baron Innstetten
nicht in einem gewöhnlichen Hause wohnen kann, nicht in einer
solchen Kate, wie die landrätliche Wohnung, ich bitte um
Vergebung, gnädigste Frau, doch eigentlich ist. Da hilft
er denn nach. Ein Spukhaus ist nie was Gewöhnliches ... Das
ist das Eine.«
»Gut denn. Also Innstetten, meine gnädigste Frau, hat
außer seinem brennenden Verlangen, es koste was es wolle,
ja, wenn es sein muss unter Heranziehung eines Spuks, seine
Karriere zu machen, noch eine zweite Passion: Er operiert nämlich
immer erzieherisch, ist der geborene Pädagog und hätte,
links Basedow und rechts Pestalozzi (aber doch kirchlicher als
beide), eigentlich nach Schnepfental oder Bunzlau hingepasst.«
Es schlug zwei Uhr, als man zurück war. Crampas verabschiedete
sich und ritt in die Stadt hinein, bis er vor seiner am Marktplatz
gelegenen Wohnung hielt. Effi ihrerseits kleidete sich um und
versuchte zu schlafen; es wollte aber nicht glücken, denn
ihre Verstimmung war noch größer als ihre Müdigkeit.
Dass Innstetten sich seinen Spuk parat hielt, um ein nicht
ganz gewöhnliches Haus zu bewohnen, das mochte hingehen,
das stimmte zu seinem Hange, sich von der großen Menge zu
unterscheiden; aber das andere, dass er den Spuk als Erziehungsmittel
brauchte, das war doch arg und beinahe beleidigend. Und »Erziehungsmittel«,
darüber war sie sich klar, sagte nur die kleinere Hälfte;
was Crampas gemeint hatte, war viel, viel mehr, war eine Art Angstapparat
aus Kalkül. Es fehlte jede Herzensgüte darin und grenzte
schon fast an Grausamkeit. Das Blut stieg ihr zu Kopf, und sie
ballte ihre kleine Hand und wollte Pläne schmieden; aber
mit einem Male musste sie wieder lachen. »Ich Kindskopf!
Wer bürgt mir denn dafür, dass Crampas Recht hat!
Crampas ist unterhaltlich, weil er medisant ist, aber er ist unzuverlässig
und ein bloßer Haselant, der schließlich Innstetten
nicht das Wasser reicht.«
In diesem Augenblick fuhr Innstetten vor, der heute früher
zurückkam als gewöhnlich. Effi sprang auf, um ihn schon
im Flur zu begrüßen, und war umso zärtlicher,
je mehr sie das Gefühl hatte, etwas gutmachen zu müssen.
Aber ganz konnte sie das, was Crampas gesagt hatte, doch nicht
verwinden, und inmitten ihrer Zärtlichkeiten und während
sie mit anscheinendem Interesse zuhörte, klang es in ihr
immer wieder: »Also Spuk aus Berechnung, Spuk, um dich in
Ordnung zu halten.«
Inzwischen war Mitte November herangekommen, und der bis zum Sturm
sich steigernde Nordwester stand anderthalb Tage lang so hart
auf die Molen, dass die mehr und mehr zurückgestaute
Kessine das Bollwerk überstieg und in die Straßen trat.
Aber nachdem sich's ausgetobt, legte sich das Unwetter, und es
kamen noch ein paar sonnige Spätherbsttage. »Wer weiß,
wie lange sie dauern«, sagte Effi zu Crampas, und so beschloss
man, am nächsten Vormittage noch einmal auszureiten; auch
Innstetten, der einen freien Tag hatte, wollte mit. Es sollte zunächst
wieder bis an die Mole gehen; da wollte man dann absteigen, ein wenig
am Strande promenieren und schließlich im Schutze der Dünen,
wo's windstill war, ein Frühstück nehmen.
Um die festgesetzte Stunde ritt Crampas vor dem landrätlichen
Hause vor; Kruse hielt schon das Pferd der gnädigen Frau,
die sich rasch in den Sattel hob und noch im Aufsteigen Innstetten
entschuldigte, der nun doch verhindert sei: letzte Nacht wieder
großes Feuer in Morgenitz - das dritte seit drei Wochen,
also angelegt -, da habe er hingemusst, sehr zu seinem Leidwesen,
denn er habe sich auf diesen Ausritt, der wohl der letzte in diesem
Herbste sein werde, wirklich gefreut.
Crampas sprach sein Bedauern aus, vielleicht nur um was zu sagen,
vielleicht aber auch aufrichtig, denn so rücksichtslos er
im Punkte chevaleresker Liebesabenteuer war, so sehr war er auch
wieder guter Kamerad. Natürlich alles ganz oberflächlich.
Einem Freunde helfen und fünf Minuten später ihn betrügen,
das waren Dinge, die sich mit seinem Ehrbegriffe sehr wohl vertrugen.
Er tat das eine und das andere mit unglaublicher Bonhomie.
»Wenn das zuträfe, wäre das, was mir schmeicheln
soll, ziemlich ungezogen ... Aber sehen Sie da die Bojen, wie
die schwimmen und tanzen. Die kleinen roten Fahnen sind eingezogen.
Immer, wenn ich diesen Sommer die paarmal, wo ich mich bis an
den Strand hinauswagte, die roten Fahnen sah, sagt ich mir: da
liegt Vineta, da muss es liegen, das sind die Turmspitzen ...«
»Und haben doch Gieshübler und den Journalzirkel! Übrigens
hat Heine dem Gedicht einen anderen Namen gegeben, ich glaube
'Seegespenst' oder so ähnlich. Aber Vineta hat er gemeint.
Und er selber - verzeihen Sie, wenn ich Ihnen so ohne weiteres
den Inhalt hier wiedergebe - der Dichter also, während er
die Stelle passiert, liegt auf einem Schiffsdeck und sieht hinunter
und sieht da schmale mittelalterliche Straßen und trippelnde
Frauen in Kapothüten, und alle haben ein Gesangbuch in Händen
und wollen zur Kirche, und alle Glocken läuten. Und als er
das hört, da fasst ihn eine Sehnsucht, auch mit in die
Kirche zu gehen, wenn auch bloß um der Kapothüte willen,
und vor Verlangen schreit er auf und will sich hinunterstürzen.
Aber im selben Augenblicke packt ihn der Kapitän am Bein und
ruft ihm zu: 'Doktor, sind Sie des Teufels?'«
»Nein, es ist eigentlich kurz, etwas länger als 'du
hast Diamanten und Perlen' oder 'deine weichen Lilienfinger' ...«
und er berührte leise ihre Hand. »Aber lang oder kurz,
welche Schilderungskraft, welche Anschaulichkeit! Er ist mein
Lieblingsdichter, und ich kann ihn auswendig, so wenig ich mir
sonst, trotz gelegentlich eigener Versündigungen, aus der
Dichterei mache. Bei Heine liegt es aber anders: Alles ist Leben,
und vor allem versteht er sich auf die Liebe, die doch die Hauptsache
bleibt. Er ist übrigens nicht einseitig darin ...«
»Er ist auch sehr für das Romantische, was freilich
gleich nach der Liebe kommt und nach Meinung einiger sogar damit
zusammenfällt. Was ich aber nicht glaube. Denn in seinen
späteren Gedichten, die man denn auch die 'romantischen'
genannt hat, oder eigentlich hat er es selber getan, in diesen
romantischen Dichtungen wird in einem fort hingerichtet, allerdings
vielfach aus Liebe. Aber doch meist aus anderen, gröberen
Motiven, wohin ich in erster Reihe die Politik. die fast immer
gröblich ist, rechne. Karl Stuart zum Beispiel trägt
in einer dieser Romanzen seinen Kopf unterm Arm, und noch fataler
ist die Geschichte vom Vitzliputzli ...«
»Vom Vitzliputzli. Vitzliputzli ist nämlich ein mexikanischer
Gott, und als die Mexikaner zwanzig oder dreißig Spanier
gefangen genommen hatten, mussten diese zwanzig oder dreißig
dem Vitzliputzli geopfert werden. Das war da nicht anders, Landessitte,
Kultus, und ging auch alles im Handumdrehen, Bauch auf, Herz 'raus
...«
Während dieser Worte waren sie, ganz wie's das Programm wollte,
vom Strand her bis an eine schon halb im Schutze der Dünen
aufgeschlagene Bank, mit einem äußerst primitiven Tisch
davor, gekommen, zwei Pfosten mit einem Brett darüber. Kruse,
der voraufgeritten, hatte hier bereits serviert; Teebrötchen
und Aufschnitt von kaltem Braten, dazu Rotwein und neben der Flasche
zwei hübsche zierliche Trinkgläser, klein und mit Goldrand,
wie man sie in Badeörtern kauft oder von Glashütten als Erinnerung
mitbringt.
Und nun stieg man ab. Kruse, der die Zügel seines eigenen
Pferdes um eine Krüppelkiefer geschlungen hatte, ging mit
den beiden anderen Pferden auf und ab, während sich Crampas
und Effi, die durch eine schmale Dünenöffnung einen
freien Blick auf Strand und Mole hatten, vor dem gedeckten Tische
niederließen.
Über das von den Sturmtagen her noch bewegte Meer goss
die schon halb winterliche Novembersonne ihr fahles Licht aus,
und die Brandung ging hoch. Dann und wann kam ein Windzug und
trieb den Schaum bis dicht an sie heran. Strandhafer stand umher,
und das helle Gelb der Immortellen hob sich trotz der Farbenverwandtschaft
von dem gelben Sande, darauf sie wuchsen, scharf ab. Effi machte
die Wirtin. »Es tut mir Leid, Major, Ihnen diese Brötchen
in einem Korbdeckel präsentieren zu müssen ...«
»Das ist gut. Von so einem hört man immer am liebsten,
und ich weiß noch, dass wir von meiner Freundin Hulda
Niemeyer, deren Namen Sie ja kennen, immer behaupteten: sie wisse
nichts von Geschichte, mit Ausnahme der sechs Frauen von Heinrich
dem Achten, diesem englischen Blaubart, wenn das Wort für
ihn reicht. Und wirklich, diese sechs kannte sie auswendig. Und
dabei hätten Sie hören sollen, wie sie die Namen aussprach,
namentlich den von der Mutter der Elisabeth - so schrecklich verlegen,
als wäre sie nun an der Reihe ... Aber nun bitte,
die Geschichte von Don Pedro ...«
»Nun also, an Don Pedro's Hofe war ein schöner, schwarzer
spanischer Ritter, der das Kreuz von Kalatrava - was ungefähr
so viel bedeutet wie schwarzer Adler und pour le mérite
zusammengenommen - auf seiner Brust trug. Dies Kreuz gehörte
mit dazu, das mussten sie immer tragen, und dieser Kalatrava-Ritter,
den die Königin natürlich heimlich liebte ...«
»Das ging so machen Tag. Aber das mit der heimlichen Liebe,
die wohl nicht ganz heimlich blieb, das wurde dem Könige doch
zu viel, und weil er den schönen Kalatrava-Ritter überhaupt
nicht recht leiden mochte, - denn er war nicht bloß grausam,
er war auch ein Neidhammel, oder wenn das Wort für einen
König und noch mehr für meine liebenswürdige Zuhörerin,
Frau Effi, nicht recht passen sollte, wenigstens ein Neidling
-, so beschloss er, den Kalatrava-Ritter für die heimliche
Liebe heimlich hinrichten zu lassen.«
»Ich weiß doch nicht, meine Gnädigste. Hören
Sie nur weiter. Etwas geht schon, aber es war zu viel; der König,
find ich, ging um ein Erkleckliches zu weit. Er heuchelte nämlich,
dass er dem Ritter wegen seiner Kriegs- und Heldentaten ein
Fest veranstalten wolle, und da gab es denn eine lange, lange
Tafel, und alle Granden des Reichs saßen an dieser Tafel,
und in der Mitte saß der König, und ihm gegenüber
war der Platz für den, dem dies alles galt, also für
den Kalatrava-Ritter, für den an diesem Tage zu Feiernden.
Und weil der, trotzdem man schon eine ganze Weile seiner gewartet
hatte, noch immer nicht kommen wollte, so musste schließlich
die Festlichkeit ohne ihn begonnen werden, und es blieb ein leerer
Platz - ein leerer Platz gerade gegenüber dem König.«
»Und nun denken Sie, meine gnädigste Frau, wie der König,
dieser Pedro, sich eben erheben will, um gleißnerisch sein Bedauern
auszusprechen, dass sein 'lieber Gast' noch immer fehle,
da hört man auf der Treppe draußen einen Aufschrei
der entsetzten Dienerschaften, und ehe noch irgendwer weiß,
was geschehen ist, jagt etwas an der langen Festestafel entlang,
und nun springt es auf den Stuhl und setzt ein abgeschlagenes
Haupt auf den leer gebliebenen Platz, und über eben dieses
Haupt hinweg starrt Rollo auf sein Gegenüber, den König.
Rollo hatte seinen Herrn auf seinem letzten Gange begleitet, und
im selben Augenblicke, wo das Beil fiel, hatte das treue Tier das
fallende Haupt gepackt, und da war er nun, unser Freund Rollo,
an der langen Festestafel und verklagte den königlichen Mörder.«
Effi war ganz still geworden. Endlich sagte sie: »Crampas,
das ist in seiner Art sehr schön, und weil es sehr schön
ist, will ich es Ihnen verzeihen. Aber Sie könnten doch Bessres
und zugleich mir Lieberes tun, wenn Sie mir andere Geschichten
erzählten. Auch von Heine. Heine wird doch nicht bloß
von Vitzliputzli und Don Pedro und Ihrem Rollo - denn meiner
hätte so was nicht getan - gedichtet haben. Komm, Rollo!
Armes Tier, ich kann dich gar nicht mehr ansehen, ohne an den
Kalatrava-Ritter zu denken, den die Königin heimlich liebte
... Rufen Sie bitte Kruse, dass er die Sachen hier wieder
in die Halfter steckt, und wenn wir zurückreiten, müssen
Sie mir was anderes erzählen, ganz was anderes.«
Effi, die dies mit angehört hatte, schüttelte den Kopf.
Dann lachte sie. »Crampas, was fällt Ihnen nur eigentlich
ein? Kruse ist dumm genug, über die Sache nicht weiter nachzudenken,
und wenn er darüber nachdenkt, so findet er glücklicherweise
nichts. Aber das berechtigt Sie doch nicht, dies Glas, dies Dreißig-Pfennig-Glas
aus der Josefinenhütte ...«
»Nun denn, meinetwegen. Jeder trägt seine Kappe; Sie
wissen, welche. Nur das muss ich Ihnen doch sagen dürfen,
die Rolle, die Sie mir dabei zudiktieren, ist mir zu wenig
schmeichelhaft. Ich mag nicht als Reimwort auf Ihren König
von Thule herumlaufen. Behalten Sie das Glas, aber bitte ziehen
Sie nicht Schlüsse daraus, die mich kompromittieren. Ich
werde Innstetten davon erzählen.«
Effi war unzufrieden mit sich und freute sich, dass es nunmehr
feststand, diese gemeinschaftlichen Ausflüge für die
ganze Winterdauer auf sich beruhen zu lassen. Überlegte sie,
was während all dieser Wochen und Tage gesprochen, berührt
und angedeutet war, so fand sie nichts, um dessentwillen sie sich
direkte Vorwürfe zu machen gehabt hätte. Crampas war
ein kluger Mann, welterfahren, humoristisch, frei, frei auch im
Guten, und es wäre kleinlich und kümmerlich gewesen,
wenn sie sich ihm gegenüber aufgesteift und jeden Augenblick
die Regeln strengen Anstandes befolgt hätte. Nein, sie konnte
sich nicht tadeln, auf seinen Ton eingegangen zu sein, und doch
hatte sie ganz leise das Gefühl einer überstandenen
Gefahr und beglückwünschte sich, dass das alles
nun mutmaßlich hinter ihr läge. Denn an ein häufigeres
Sichsehen en famille war nicht wohl zu denken, das war durch die
Crampas'schen Hauszustände so gut wie ausgeschlossen, und
Begegnungen bei den benachbarten adligen Familien, die freilich
für den Winter in Sicht standen, konnten immer nur sehr vereinzelt
und sehr flüchtige sein. Effi rechnete sich dies alles mit
wachsender Befriedigung heraus und fand schließlich, dass
ihr der Verzicht auf das, was sie dem Verkehr mit dem Major verdankte,
nicht allzu schwer ankommen würde. Dazu kam noch, dass
Innstetten ihr mitteilte, seine Fahrten nach Varzin würden
in diesem Jahre fortfallen: der Fürst gehe nach Friedrichsruh,
das ihm immer lieber zu werden scheine; nach der einen Seite hin
bedauere er das, nach der anderen sei es ihm lieb - er könne
sich nun ganz seinem Hause widmen, und wenn es ihr recht wäre,
so wollten sie die italienische Reise an der Hand seiner Aufzeichnungen
noch einmal durchmachen. Eine solche Rekapitulation sei eigentlich
die Hauptsache, dadurch mache man sich alles erst dauernd zu eigen,
und selbst Dinge, die man nur flüchtig gesehen und von denen
man kaum wisse, dass man sie in seiner Seele beherberge,
kämen einem durch solche nachträglichen Studien erst
voll zu Bewusstsein und Besitz. Er führte das noch weiter
aus und fügte hinzu, dass ihn Gieshübler, der den
ganzen »italienischen Stiefel« bis Palermo kenne, gebeten
habe, mit dabei sein zu dürfen. Effi, der ein ganz gewöhnlicher
Plauderabend ohne den »italienischen Stiefel« (es sollten
sogar Fotografien herumgereicht werden) viel, viel lieber gewesen
wäre, antwortete mit einer gewissen Gezwungenheit; Innstetten
indessen, ganz erfüllt von seinem Plane, merkte nichts und
fuhr fort: »Natürlich ist nicht bloß Gieshübler
zugegen, auch Roswitha und Annie müssen dabei sein, und wenn
ich mir dann denke, dass wir den Canal grande hinauffahren
und hören dabei ganz in der Ferne die Gondoliere singen,
während drei Schritt von uns Roswitha sich über Annie
beugt und 'Buhküken von Halberstadt' oder so was Ähnliches
zum Besten gibt, so können das schöne Winterabende werden,
und du sitzest dabei und strickst mir eine große Winterkappe.
Was meinst du dazu, Effi?«
Solche Abende wurden nicht bloß geplant, sie nahmen auch
ihren Anfang, und sie würden sich aller Wahrscheinlichkeit
nach über viele Wochen hin ausgedehnt haben, wenn nicht der
unschuldige harmlose Gieshübler trotz größter
Abgeneigtheit gegen zweideutiges Handeln dennoch im Dienste zweier
Herren gestanden hätte. Der eine, dem er diente, war Innstetten,
der andere war Crampas, und wenn er der Innstetten'schen Aufforderung
zu den italienischen Abenden schon um Effis willen auch mit
aufrichtigster Freude Folge leistete, so war die Freude, mit der
er Crampas gehorchte, doch noch eine größere. Nach
einem Crampas'schen Plan nämlich sollte noch vor Weihnachten
»Ein Schritt vom Wege« aufgeführt werden, und als
man vor dem dritten italienischen Abend stand, nahm Gieshübler
die Gelegenheit wahr, mit Effi, die die Rolle der Ella spielen
sollte, darüber zu sprechen.
Effi war wie elektrisiert; was wollten Padua, Vicenza daneben
bedeuten! Effi war nicht für Aufgewärmtheiten; Frisches
war es, wonach sie sich sehnte, Wechsel der Dinge. Aber als ob
eine Stimme ihr zugerufen hätte: »Sieh dich vor!«,
so fragte sie doch inmitten ihrer freudigen Erregung: »Ist
es der Major, der den Plan aufgebracht hat?«
»O, Sie dürfen das nicht so feierlich nehmen; das ist
nur so eine Redensart, die eigentlich das Gegenteil bedeutet.
Auf der anderen Seite freilich, der Major hat so was Gewaltsames,
er nimmt einem die Dinge gern über den Kopf fort. Und man
muss dann spielen, wie er will, und nicht, wie man selber
will.«
Der »Schritt vom Wege« kam wirklich zustande, und gerade
weil man nur noch gute vierzehn Tage hatte (die letzte Woche vor
Weihnachten war ausgeschlossen), so strengte sich alles an und
es ging vorzüglich; die Mitspielenden, vor allem Effi, ernteten
reichen Beifall. Crampas hatte sich wirklich mit der Regie begnügt,
und so streng er gegen alle anderen war, so wenig hatte er auf
den Proben in Effis Spiel hineingeredet. Entweder waren ihm vonseiten
Gieshüblers Mitteilungen über das mit Effi gehabte
Gespräch gemacht worden, oder er hatte es auch aus sich selber
bemerkt, dass Effi beflissen war, sich von ihm zurückzuziehen.
Und er war klug und Frauenkenner genug, um den natürlichen
Entwicklungsgang, den er nach seinen Erfahrungen nur zu gut kannte,
nicht zu stören.
Am Theaterabend in der Ressource trennte man sich spät, und
Mitternacht war vorüber, als Innstetten und Effi wieder zu
Hause bei sich eintrafen. Johanna war noch auf, um behilflich
zu sein, und Innstetten, der auf seine junge Frau nicht wenig
eitel war, erzählte Johanna, wie reizend die gnädige
Frau ausgesehen und wie gut sie gespielt habe. Schade, dass
er nicht vorher daran gedacht, Christel und sie selber und auch
die alte Unke, die Kruse, hätten von der Musikgalerie her
sehr gut zusehen können; es seien viele da gewesen. Dann ging
Johanna, und Effi, die müde war, legte sich nieder. Innstetten
aber, der noch plaudern wollte, schob einen Stuhl heran und setzte
sich an das Bett seiner Frau, diese freundlich ansehend und ihre
Hand in der seinen haltend.
»Ja, Effi, das war ein hübscher Abend. Ich habe mich
amüsiert über das hübsche Stück. Und denke
dir, der Dichter ist ein Kammergerichtsrat, eigentlich kaum zu
glauben. Und noch dazu aus Königsberg. Aber worüber
ich mich am meisten gefreut, das war doch meine entzückende
kleine Frau, die allen die Köpfe verdreht hat.«
Er küsste ihr die Hand. »Nein, Effi. Nach Mitternacht
kann auch der Kaiser keine Tasse Tee mehr verlangen, und du weißt,
ich mag die Leute nicht mehr in Anspruch nehmen als nötig.
Nein, ich will nichts, als dich ansehen und mich freuen, dass
ich dich habe. So manchmal empfindet man's doch stärker,
welchen Schatz man hat. Du könntest ja auch so sein wie die
arme Frau Crampas; das ist eine schreckliche Frau, gegen keinen
freundlich, und dich hätte sie vom Erdboden vertilgen mögen.«
»Weil du für derlei keine Augen hast. Aber es war so
wie ich dir sage, und der arme Crampas war wie befangen dadurch
und mied dich immer und sah dich kaum an. Was doch ganz unnatürlich
ist; denn erstens ist er überhaupt ein Damenmann, und nun
gar Damen wie du, das ist seine besondere Passion. Und ich wette
auch, dass es keiner besser weiß als meine kleine Frau
selber. Wenn ich daran denke, wie, Pardon, das Geschnatter hin-
und herging, wenn er morgens in die Veranda kam oder wenn wir
am Strande ritten oder auf der Mole spazieren gingen. Es ist, wie
ich dir sage, er traute sich heute nicht, er fürchtete sich
vor seiner Frau. Und ich kann es ihm nicht verdenken. Die Majorin
ist so etwas wie unsere Frau Kruse, und wenn ich zwischen beiden
wählen müsste, ich wüsste nicht wen.«
»Nein, für schlecht nicht. Beinah im Gegenteil, jedenfalls
hat er gute Seiten. Aber er ist so'n halber Pole, kein rechter
Verlass, eigentlich in nichts, am wenigsten mit Frauen. Eine
Spielernatur. Er spielt nicht am Spieltisch, aber er hasardiert
im Leben in einem fort, und man muss ihm auf die Finger sehen.«
Effi nickte und dachte mit einem Male wieder an die Worte, die
ihr Crampas über ihren Mann als »Erzieher« gesagt
hatte.
Der Heilige Abend kam und verging ähnlich wie das Jahr vorher;
aus Hohen-Cremmen kamen Geschenke und Briefe; Gieshübler
war wieder mit einem Huldigungsvers zur Stelle, und Vetter Briest
sandte eine Karte: Schneelandschaft mit Telegrafenstangen, auf
deren Draht geduckt ein Vögelchen saß. Auch für
Annie war aufgebaut: ein Baum mit Lichtern, und das Kind griff
mit seinen Händchen danach. Innstetten, unbefangen und heiter,
schien sich seines häuslichen Glücks zu freuen und beschäftigte
sich viel mit dem Kinde. Roswitha war erstaunt, den gnädigen
Herrn so zärtlich und zugleich so aufgeräumt zu sehen.
Auch Effi sprach viel und lachte viel, es kam ihr aber nicht aus
innerster Seele. Sie fühlte sich bedrückt und wusste
nur nicht, wen sie dafür verantwortlich machen sollte, Innstetten
oder sich selber. Von Crampas war kein Weihnachtsgruß eingetroffen;
eigentlich war es ihr lieb, aber auch wieder nicht, seine Huldigungen
erfüllten sie mit einem gewissen Bangen, und seine Gleichgültigkeiten
verstimmten sie; sie sah ein, es war nicht alles so, wie's sein
sollte.
Spät gegen Abend kam Pastor Lindequist, um zu gratulieren
und noch wegen der Partie nach der Oberförsterei Uvagla hin
anzufragen, die natürlich eine Schlittenpartie werden müsse.
Crampas habe ihm einen Platz in seinem Schlitten angeboten, aber
weder der Major noch sein Bursche, der wie alles auch das Kutschieren
übernehmen solle, kenne den Weg, und so würde es sich
vielleicht empfehlen, die Fahrt gemeinschaftlich zu machen, wobei
dann der landrätliche Schlitten die Tete zu nehmen und der
Crampas'sche zu folgen hätte. Wahrscheinlich auch der Gieshübler'sche.
Denn mit der Wegkenntnis Mirambos, dem sich unerklärlicherweise
Freund Alonzo, der doch sonst so vorsichtig, anvertrauen wolle,
stehe es wahrscheinlich noch schlechter als mit der des sommersprossigen
Treptower Ulanen. Innstetten, den diese kleinen Verlegenheiten
erheiterten, war mit Lindequists Vorschlag durchaus einverstanden
und ordnete die Sache dahin, dass er pünktlich um zwei
Uhr über den Marktplatz fahren und ohne alles Säumen
die Führung des Zuges in die Hand nehmen werde.
Nach diesem Übereinkommen wurde denn auch verfahren, und
als Innstetten Punkt zwei Uhr den Marktplatz passierte, grüßte
Crampas zunächst von seinem Schlitten aus zu Effi hinüber
und schloss sich dann dem Innstetten'schen an. Der Pastor
saß neben ihm. Gieshüblers Schlitten mit Gieshübler
selbst und Doktor Hannemann folgte, jener in einem eleganten
Büffelrock und Marderbesatz, dieser in einem Bärenpelz,
dem man ansah, dass er wenigstens dreißig Dienstjahre
zählte. Hannemann war nämlich in seiner Jugend Schiffschirurgus
auf einem Grönlandfahrer gewesen. Mirambo saß vorn,
etwas aufgeregt wegen Unkenntnis im Kutschieren, ganz wie Lindequist
vermutet hatte.
Zwischen Kessin und Uvagla (wo, der Sage nach, ein Wendentempel
gestanden) lag ein nur etwa tausend Schritt breiter, aber wohl
anderthalb Meilen langer Waldstreifen, der an seiner rechten Längsseite
das Meer, an seiner linken, bis weit an den Horizont hin, ein
großes, überaus fruchtbares und gut angebautes Stück
Land hatte. Hier an der Binnenseite flogen jetzt die drei Schlitten
hin, in einiger Entfernung ein paar alte Kutschwagen vor sich,
in denen aller Wahrscheinlichkeit nach andere nach der Oberförsterei
hin eingeladene Gäste saßen. Einer dieser Wagen war
an seinen altmodisch hohen Rädern deutlich zu erkennen, es
war der Papenhagen'sche. Natürlich. Güldenklee galt als
der beste Redner des Kreises (noch besser als Borcke, ja selbst
besser als Grasenabb) und durfte bei Festlichkeiten nicht leicht
fehlen.
Die Fahrt ging rasch - auch die herrschaftlichen Kutscher
strengten sich an und wollten sich nicht überholen lassen
-, so dass man schon um drei vor der Oberförsterei hielt.
Ring, ein stattlicher, militärisch dreinschauender Herr von
Mitte fünfzig, der den ersten Feldzug in Schleswig noch unter
Wrangel und Bonin mitgemacht und sich bei Erstürmung des
Danewerks ausgezeichnet hatte, stand in der Tür und empfing
seine Gäste, die, nachdem sie abgelegt und die Frau des Hauses
begrüßt hatten, zunächst vor einem langgedeckten
Kaffeetisch Platz nahmen, auf dem kunstvoll aufgeschichtete Kuchenpyramiden
standen. Die Oberförsterin, eine von Natur sehr ängstliche,
zum mindesten aber sehr befangene Frau, zeigte sich auch als Wirtin
so, was den überaus eitlen Oberförster, der für
Sicherheit und Schneidigkeit war, ganz augenscheinlich verdross.
Zum Glück kam sein Unmut zu keinem Ausbruch, denn von dem,
was seine Frau vermissen ließ, hatten seine Töchter
desto mehr, bildhübsche Backfische von vierzehn und dreizehn,
die ganz nach dem Vater schlugen. Besonders die ältere, Cora,
kokettierte sofort mit Innstetten und Crampas, und beide gingen
auch darauf ein. Effi ärgerte sich darüber und schämte
sich dann wieder, dass sie sich geärgert habe. Sie saß
neben Sidonie von Grasenabb und sagte: »Sonderbar, so bin
ich auch gewesen, als ich vierzehn war.«
Der Kaffee war bald genommen, und man stand auf, um noch einen
halbstündigen Spaziergang in den umliegenden Wald zu machen,
zunächst auf ein Gehege zu, drin Wild eingezäunt war.
Cora öffnete das Gatter, und kaum, dass sie eingetreten,
so kamen auch schon die Rehe auf sie zu. Es war eigentlich reizend,
ganz wie ein Märchen. Aber die Eitelkeit des jungen Dinges,
das sich bewusst war, ein lebendes Bild zu stellen, ließ
doch einen reinen Eindruck nicht aufkommen, am wenigsten bei Effi.
»Nein«, sagte sie zu sich selber, »so bin ich doch
nicht gewesen. Vielleicht hat es mir auch an Zucht gefehlt, wie
diese furchtbare Sidonie mir eben andeutete, vielleicht auch anderes
noch. Man war zu Haus zu gütig gegen mich, man liebte mich
zu sehr. Aber das darf ich doch wohl sagen, ich habe mich nie
geziert. Das war immer Huldas Sache. Darum gefiel sie mir auch
nicht, als ich diesen Sommer sie wiedersah.
Auf dem Rückwege vom Wald nach der Oberförsterei begann
es zu schneien. Crampas gesellte sich zu Effi und sprach ihr sein
Bedauern aus, dass er noch nicht Gelegenheit gehabt habe,
sie zu begrüßen. Zugleich wies er auf die großen,
schweren Schneeflocken, die fielen, und sagte: »Wenn das
so weiter geht, so schneien wir hier ein.«
»Ja«, fuhr Effi fort und versuchte zu lachen, »mit
den Vorstellungen ist es ein eigen Ding, man macht sie sich nicht
bloß nach dem, was man persönlich erfahren hat, auch
nach dem, was man irgendwo gehört oder ganz zufällig
weiß. Sie sind so belesen, Major, aber mit einem Gedichte
- freilich keinem Heine'schen, keinem 'Seegespenst' und keinem
'Vitzliputzli' - bin ich Ihnen, wie mir scheint, doch voraus.
Dies Gedicht heißt die 'Gottesmauer', und ich hab es bei
unserm Hohen-Cremmner Pastor vor vielen, vielen Jahren, als ich
noch ganz klein war, auswendig gelernt.«
»Eine kleine Geschichte, nur ganz kurz. Da war irgendwo Krieg,
ein Winterfeldzug, und eine alte Witwe, die sich vor dem Feinde
mächtig fürchtete, betete zu Gott, er möge doch
'eine Mauer um sie bauen', um sie vor dem Landesfeinde zu schützen.
Und da ließ Gott das Haus einschneien, und der Feind zog
daran vorüber.«
Gleich nach sieben ging man zu Tisch, und alles freute sich, dass
der Weihnachtsbaum, eine mit zahllosen Silberkugeln bedeckte Tanne,
noch einmal angesteckt wurde. Crampas, der das Ring'sche Haus noch
nicht kannte, war helle Bewunderung. Der Damast, die Weinkühler,
das reiche Silbergeschirr, alles wirkte herrschaftlich, weit über
oberförsterliche Durchschnittsverhältnisse hinaus, was
darin seinen Grund hatte, dass Rings Frau, so scheu und verlegen
sie war, aus einem reichen Danziger Kornhändlerhause stammte.
Von daher rührten auch die meisten der ringsumher hängenden
Bilder: der Kornhändler und seine Frau, der Marienburger
Remter und eine gute Kopie nach dem berühmten Memling'schen
Altarbilde in der Danziger Marienkirche. Kloster Oliva war zweimal
da, einmal in Öl und einmal in Kork geschnitzt. Außerdem
befand sich über dem Büfett ein sehr nachgedunkeltes
Porträt des alten Nettelbeck, das noch aus dem bescheidenen
Mobiliar des erst vor anderthalb Jahren verstorbenen Ring'schen
Amtsvorgängers herrührte. Niemand hatte damals bei der
gewöhnlich stattfindenden Auktion das Bild des Alten haben
wollen, bis Innstetten, der sich über diese Missachtung
ärgerte, darauf geboten hatte. Da hatte sich denn auch Ring
patriotisch besonnen, und der alte Kolbergverteidiger war der
Oberförsterei verblieben.
Das Nettelbeck-Bild ließ ziemlich viel zu wünschen übrig;
sonst aber verriet alles, wie schon angedeutet, eine beinahe an
Glanz streifende Wohlhabenheit, und dem entsprach denn auch das
Mahl, das aufgetragen wurde. Jeder hatte mehr oder weniger seine
Freude daran, mit Ausnahme Sidoniens. Diese saß zwischen
Innstetten und Lindequist und sagte, als sie Coras ansichtig wurde:
»Da ist ja wieder dies unausstehliche Balg, diese Cora. Sehen
Sie nur, Innstetten, wie sie die kleinen Weingläser präsentiert,
ein wahres Kunststück, sie könnte jeden Augenblick Kellnerin
werden. Ganz unerträglich. Und dazu die Blicke von Ihrem
Freund Crampas! Das ist so die rechte Saat! Ich frage Sie, was
soll dabei herauskommen?«
Innstetten, der ihr eigentlich zustimmte, fand trotzdem den Ton,
in dem das alles gesagt wurde, so verletzend herbe, dass er
spöttisch bemerkte: »Ja, meine Gnädigste, was dabei
herauskommen soll? Ich weiß es auch nicht« -
worauf sich Sidonie von ihm ab- und ihrem Nachbar zur Linken
zuwandte: »Sagen Sie, Pastor, ist diese vierzehnjährige Kokette
schon im Unterricht bei Ihnen?«
»Dann müssen Sie mir die Bemerkung verzeihen, dass
Sie sie nicht in die richtige Schule genommen haben. Ich weiß
wohl, es hält das heutzutage sehr schwer, aber ich weiß
auch, dass die, denen die Fürsorge für junge Seelen
obliegt, es vielfach an dem rechten Ernste fehlen lassen. Es bleibt
dabei, die Hauptschuld tragen die Eltern und Erzieher.«
»Geist der Zeit!«, sagte Sidonie. »Kommen Sie mir
nicht damit. Das kann ich nicht hören, das ist der Ausdruck
höchster Schwäche, Bankrotterklärung. Ich kenne
das; nie scharf zufassen wollen, immer dem Unbequemen aus dem
Wege gehen. Denn Pflicht ist unbequem. Und so wird nur allzu leicht
vergessen, dass das uns anvertraute Gut auch mal von uns
zurückgefordert wird. Eingreifen, lieber Pastor, Zucht. Das
Fleisch ist schwach, gewiss, aber ...«
In diesem Augenblicke kam ein englisches Roastbeef, von dem Sidonie
ziemlich ausgiebig nahm, ohne Lindequists Lächeln dabei zu
bemerken. Und weil sie's nicht bemerkte, so durfte es auch nicht
Wunder nehmen, dass sie mit vieler Unbefangenheit fortfuhr:
»Es kann übrigens alles, was Sie hier sehen, nicht wohl
anders sein; alles ist schief und verfahren von Anfang an. Ring,
Ring - wenn ich nicht irre, hat es drüben in Schweden oder
da herum mal einen Sagenkönig dieses Namens gegeben. Nun
sehen Sie, benimmt er sich nicht, als ob er von dem abstamme,
und seine Mutter, die ich noch gekannt habe, war eine Plättfrau
in Cöslin.«
»Schlimmes finden? Ich auch nicht. Und jedenfalls gibt es
Schlimmeres. Aber so viel muss ich doch von Ihnen als einem
geweihten Diener der Kirche gewärtigen dürfen, dass
Sie die gesellschaftlichen Ordnungen gelten lassen. Ein Oberförster
ist ein bisschen mehr als ein Förster, und ein Förster
hat nicht solche Weinkühler und solch Silberzeug; das alles
ist ungehörig und zieht dann solche Kinder groß wie
dies Fräulein Cora.«
Sidonie, jedes Mal bereit irgendwas Schreckliches zu prophezeien,
wenn sie, vom Geist überkommen, die Schalen ihres Zornes ausschüttete,
würde sich auch heute bis zum Kassandrablick in die Zukunft
gesteigert haben, wenn nicht in eben diesem Augenblicke die dampfende
Punschbowle - womit die Weihnachtsréunions bei Ring immer abschlossen
- auf der Tafel erschienen wäre, dazu Krausgebackenes, das
geschickt über einandergetürmt noch weit über die
vor einigen Stunden aufgetragene Kaffeekuchenpyramide hinauswuchs.
Und nun trat auch Ring selbst, der sich bis dahin etwas zurückgehalten
hatte, mit einer gewissen strahlenden Feierlichkeit in Aktion
und begann die vor ihm stehenden Gläser, große geschliffene
Römer, in virtuosem Bogensturz zu füllen, ein Einschenkekunststück,
das die stets schlagfertige Frau von Padden, die heute leider
fehlte, mal als 'Ring'sche Füllung en cascade' bezeichnet
hatte. Rotgolden wölbte sich dabei der Strahl, und kein Tropfen
durfte verloren gehen. So war es auch heute wieder. Zuletzt aber,
als jeder, was ihm zukam, in Händen hielt - auch Cora, die
sich mittlerweile mit ihrem rotblonden Wellenhaar auf »Onkel
Crampas'« Schoß gesetzt hatte - erhob sich der alte
Papenhagner, um, wie herkömmlich bei Festlichkeiten derart,
einen Toast auf seinen lieben Oberförster auszubringen. Es
gäbe viele Ringe, so etwa begann er, Jahresringe, Gardinenringe,
Trauringe, und was nun gar - denn auch davon dürfe sich am
Ende wohl sprechen lassen - die Verlobungsringe angehe, so sei
glücklicherweise die Gewähr gegeben, dass einer
davon in kürzester Frist in diesem Hause sichtbar werden
und den Ringfinger (und zwar hier in einem doppelten Sinne
den Ringfinger) eines kleinen hübschen Pätschelchens
zieren werde...
»Ja, meine Freunde«, fuhr Güldenklee mit gehobener
Stimme fort, »viele Ringe gibt es, und es gibt sogar eine
Geschichte, die wir alle kennen, die die Geschichte von den 'drei
Ringen' heißt, eine Judengeschichte, die, wie der ganze
liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil gestiftet
hat und noch stiftet. Gott bessere es. Und nun lassen Sie mich
schließen, um Ihre Geduld und Nachsicht nicht über
Gebühr in Anspruch zu nehmen. Ich bin nicht für
diese drei Ringe, meine Lieben, ich bin vielmehr für einen
Ring, für einen Ring, der so recht ein Ring ist,
wie er sein soll, ein Ring, der alles Gute, was wir in unsrem
altpommerschen Kessiner Kreise haben, alles, was noch mit Gott
für König und Vaterland einsteht - und es sind ihrer
noch einige (lauter Jubel) -, an diesem seinem gastlichen Tisch
vereinigt sieht. Für diesen Ring bin ich. Er lebe
hoch!«
Alles stimmte ein und umdrängte Ring, der, so lange das dauerte,
das Amt des 'Einschenkens en cascade' an den ihm gegenübersitzenden
Crampas abtreten musste; der Hauslehrer aber stürzte
von seinem Platz am unteren Ende der Tafel an das Klavier und
schlug die ersten Takte des Preußenliedes an, worauf alles
stehend und feierlich einfiel: »Ich bin ein Preuße
... will ein Preuße sein.«
Man sang alle Strophen durch, dann hieß es, die Wagen seien
vorgefahren, und gleich danach erhob sich alles, um die Pferde
nicht warten zu lassen. Denn diese Rücksicht »auf die
Pferde« ging auch im Kreise Kessin allem anderen vor. Im
Hausflur standen zwei hübsche Mägde, Ring hielt auf
dergleichen, um den Herrschaften beim Anziehen ihrer Pelze behilflich
zu sein. Alles war heiter angeregt, einige mehr als das, und das
Einsteigen in die verschiedenen Gefährte schien sich schnell
und ohne Störung vollziehen zu sollen, als es mit einem Mal
hieß, der Gieshübler'sche Schlitten sei nicht da. Gieshübler
selbst war viel zu artig, um gleich Unruhe zu zeigen oder gar
Lärm zu machen; endlich aber, weil doch wer das Wort nehmen
musste, fragte Crampas, was es denn eigentlich sei.
Nun wurde natürlich nach Doktor Hannemann gerufen, der denn
auch hinausging und nach fünf Minuten mit echter Chirurgenruhe
versicherte: »Ja, Mirambo müsse zurückbleiben; es sei
vorläufig in der Sache nichts zu machen als still liegen und
kühlen. Übrigens von Bedenklichem keine Rede.« Das war
nun einigermaßen ein Trost, aber schaffte doch die Verlegenheit,
wie der Gieshübler'sche Schlitten zurückzufahren sei,
nicht aus der Welt, bis Innstetten erklärte, dass er
für Mirambo einzutreten und das Zwiegestirn von Doktor und
Apotheker persönlich glücklich heimzusteuern gedenke.
Lachend und unter ziemlich angeheiterten Scherzen gegen den verbindlichsten
aller Landräte, der sich, um hilfreich zu sein, sogar von
seiner jungen Frau trennen wolle, wurde dem Vorschlage zugestimmt,
und Innstetten, mit Gieshübler und dem Doktor im Fond, nahm
jetzt wieder die Tete. Crampas und Lindequist folgten unmittelbar.
Und als gleich danach auch Kruse mit dem landrätlichen Schlitten
vorfuhr, trat Sidonie lächelnd an Effi heran und bat diese,
da ja nun ein Platz frei sei, mit ihr fahren zu dürfen. »In
unserer Kutsche ist es immer so stickig; mein Vater liebt das.
Und außerdem, ich möchte so gerne mit Ihnen plaudern.
Aber nur bis Quappendorf. Wo der Morgnitzer Weg abzweigt, steig
ich aus und muss dann wieder in unsern unbequemen Kasten.
Und Papa raucht auch noch.«
Effi war wenig erfreut über diese Begleitung und hätte
die Fahrt lieber allein gemacht; aber ihr blieb keine Wahl, und
so stieg denn das Fräulein ein, und kaum dass beide
Damen ihre Plätze genommen hatten, so gab Kruse den Pferden
auch schon einen Peitschenknips und von der oberförsterlichen
Rampe her, von der man einen prächtigen Ausblick auf das
Meer hatte, ging es die ziemlich steile Düne hinunter auf
den Strandweg zu, der eine Meile lang in beinahe gerader Linie
bis an das Kessiner Strandhotel und von dort aus, rechts einbiegend,
durch die Plantage hin in die Stadt führte. Der Schneefall
hatte schon seit ein paar Stunden aufgehört,
die Luft war frisch, und auf das weite, dunkelnde Meer fiel der
matte Schein der Mondsichel. Kruse fuhr hart am Wasser hin, mitunter
den Schaum der Brandung durchschneidend, und Effi, die etwas fröstelte,
wickelte sich fester in ihren Mantel und schwieg noch immer und
mit Absicht. Sie wusste recht gut, dass das mit der
»stickigen Kutsche« bloß ein Vorwand gewesen und
dass sich Sidonie nur zu ihr gesetzt hatte, um ihr etwas
Unangenehmes zu sagen. Und das kam immer noch früh genug.
Zudem war sie wirklich müde, vielleicht von dem Spaziergange
im Walde, vielleicht auch von dem oberförsterlichen Punsch,
dem sie auf Zureden der neben ihr sitzenden Frau von Flemming
tapfer zugesprochen hatte. Sie tat denn auch, als ob sie schliefe,
schloss die Augen und neigte den Kopf immer mehr nach links.
»Ja«, sagte Sidonie. »Gnädigste Frau tun ja,
als ob es ein Weltwunder wäre. Das ist es nicht. Und wenn
es dergleichen wäre, wir haben uns vor Naturkultus zu hüten.
Übrigens ein wahres Glück, dass wir außer
Gefahr sind, unsern Freund Oberförster, diesen eitelsten
aller Sterblichen, über dies Nordlicht sprechen zu hören.
Ich wette, dass er sich einbilden würde, das tue ihm
der Himmel zu Gefallen, um sein Fest noch festlicher zu machen.
Er ist ein Narr. Güldenklee konnte Besseres tun, als ihn
feiern. Und dabei spielt er sich auf den Kirchlichen aus und hat
auch neulich eine Altardecke geschenkt. Vielleicht, dass
Cora daran mitgestickt hat. Diese Unechten sind schuld an allem,
denn ihre Weltlichkeit liegt immer obenauf und wird denen mit
angerechnet, die's ernst mit dem Heil ihrer Seele meinen.«
»Bei manchem, sag ich, ist es ganz leicht«, wiederholte
Sidonie, die ihren Zweck erreicht hatte und deshalb ruhig lächelnd
fortfuhr: »Und zu diesen leichten Rätseln gehört
unser Oberförster. Wer seine Kinder so erzieht, den beklag
ich, aber das eine Gute hat es, es liegt bei ihm alles
klar da. Und wie bei ihm selbst, so bei den Töchtern. Cora
geht nach Amerika und wird Millionärin oder Methodistenpredigerin;
in jedem Fall ist sie verloren. Ich habe noch keine Vierzehnjährige
gesehen ...«
In diesem Augenblicke hielt der Schlitten, und als sich beide Damen
umsahen, um in Erfahrung zu bringen, was es denn eigentlich sei,
bemerkten sie, dass rechts von ihnen in etwa dreißig
Schritt Abstand auch die beiden anderen Schlitten hielten - am
weitesten nach rechts der von Innstetten geführte, näher
heran der Crampas'sche.
Kruse wiegte den Kopf hin und her, wie wenn er ausdrücken
wollte, dass die Frage leichter gestellt als beantwortet
sei. Worin er auch Recht hatte. Denn was der Schloon sei, das war nicht
so mit drei Worten zu sagen. Kruse fand aber in seiner Verlegenheit
alsbald Hilfe bei dem gnädigen Fräulein, das hier mit
allem Bescheid wusste und natürlich auch mit dem Schloon.
»Ja, meine gnädigste Frau«, sagte Sidonie, »da
steht es schlimm. Für mich hat es nicht viel auf sich, ich
komme bequem durch; denn wenn erst die Wagen heran sind, die haben
hohe Räder, und unsere Pferde sind außerdem daran gewöhnt.
Aber mit solchem Schlitten ist es was anderes; die versinken im
Schloon, und Sie werden wohl oder übel einen Umweg machen
müssen.«
»Und doch ist es so was, nur freilich im Kleinen; dieser
Schloon ist eigentlich bloß ein kümmerliches Rinnsal,
das hier rechts vom Gothener See herunterkommt und sich durch
die Dünen schleicht. Und im Sommer trocknet es mitunter ganz
aus, und Sie fahren dann ruhig drüber hin und wissen es nicht
einmal.«
»... Da wird es ein Sog und am stärksten immer dann,
wenn der Wind nach dem Lande hin steht. Dann drückt der Wind
das Meerwasser in das kleine Rinnsal hinein, aber nicht so, dass
man es sehen kann. Und das ist das Schlimmste von der Sache, darin
steckt die eigentliche Gefahr. Alles geht nämlich unterirdisch
vor sich, und der ganze Strandsand ist dann bis tief hinunter
mit Wasser durchsetzt und gefüllt. Und wenn man dann über
solche Sandstelle weg will, die keine mehr ist, dann sinkt man
ein, als ob es ein Sumpf oder ein Moor wäre.«
Während das Gespräch noch so ging und sich fortsetzte,
war Crampas aus seinem Schlitten ausgestiegen und auf den am äußersten
Flügel haltenden Gieshübler'schen zugeschritten, um hier
mit Innstetten zu verabreden, was nun wohl eigentlich zu tun sei.
Knut, so vermeldete er, wolle die Durchfahrt riskieren, aber Knut
sei dumm und verstehe nichts von der Sache; nur solche, die hier
zu Hause seien, müssten die Entscheidung treffen. Innstetten
- sehr zu Crampas' Überraschung - war auch fürs »Riskieren«,
es müsse durchaus noch mal versucht werden ... er wisse schon,
die Geschichte wiederhole sich jedes Mal: die Leute hier hätten
einen Aberglauben und vorweg eine Furcht, während es doch
eigentlich wenig zu bedeuten habe. Nicht Knut, der wisse nicht
Bescheid, wohl aber Kruse solle noch einmal einen Anlauf nehmen
und Crampas derweilen bei den Damen einsteigen (ein kleiner Rücksitz
sei ja noch da), um bei der Hand zu sein, wenn der Schlitten umkippe.
Das sei doch schließlich das Schlimmste, was geschehen könne.
Mit dieser Innstetten'schen Botschaft erschien jetzt Crampas bei
den beiden Damen und nahm, als er lachend seinen Auftrag ausgeführt
hatte, ganz nach empfangener Ordre den kleinen Sitzplatz ein,
der eigentlich nichts als eine mit Tuch überzogene Leiste
war, und rief Kruse zu: »Nun, vorwärts, Kruse.«
Dieser hatte denn auch die Pferde bereits um hundert Schritte
zurückgezoppt und hoffte, scharf anfahrend, den Schlitten
glücklich durchbringen zu können; im selben Augenblick
aber, wo die Pferde den Schloon auch nur berührten, sanken
sie bis über die Knöchel in den Sand ein, so dass
sie nur mit Mühe nach rückwärts wieder herauskonnten.
Während sich dies abspielte, waren endlich auch die Kutschen
herangekommen, die Grasenabb'sche vorauf, und als Sidonie, nach
kurzem Dank gegen Effi, sich verabschiedet und dem seine türkische
Pfeife rauchenden Vater gegenüber ihren Rückplatz eingenommen
hatte, ging es mit dem Wagen ohne weiteres auf den Schloon zu;
die Pferde sanken tief ein, aber die Räder ließen alle
Gefahr leicht überwinden, und ehe eine halbe Minute vorüber
war, trabten auch schon die Grasenabbs drüben weiter. Die
andern Kutschen folgten. Effi sah ihnen nicht ohne Neid nach.
Indessen nicht lange, denn auch für die Schlittenfahrer war
in der zwischenliegenden Zeit Rat geschafft worden, und zwar einfach
dadurch, dass sich Innstetten entschlossen hatte, statt aller
weiteren Forcierung das friedlichere Mittel eines Umwegs zu wählen.
Also genau das, was Sidonie gleich anfangs in Sicht gestellt hatte.
Vom rechten Flügel her klang des Landrats bestimmte Weisung
herüber, vorläufig diesseits zu bleiben und ihm durch
die Dünen hin bis an eine weiter hinauf gelegene Bohlenbrücke
zu folgen. Als beide Kutscher, Knut und Kruse, so verständigt
waren, trat der Major, der, um Sidonie zu helfen, gleichzeitig
mit dieser ausgestiegen war, wieder an Effi heran und sagte: »Ich
kann Sie nicht allein lassen, gnäd'ge Frau.«
All dies hätte vielleicht missdeutet werden können,
Crampas selbst aber war zu sehr Frauenkenner, um es sich bloß
in Eitelkeit zurechtzulegen. Er sah deutlich, dass Effi nur
tat, was nach Lage der Sache das einzig Richtige war. Es war unmöglich
für sie, sich seine Gegenwart zu verbitten. Und so ging es
denn im Fluge den beiden anderen Schlitten nach, immer dicht an
dem Wasserlaufe hin, an dessen anderem Ufer dunkle Waldmassen aufragten.
Effi sah hinüber und nahm an, dass schließlich
an dem landeinwärts gelegenen Außenrand des Waldes
hin die Weiterfahrt gehen würde, genau also den Weg
entlang, auf dem man in früher Nachmittagsstunde gekommen
war. Innstetten aber hatte sich inzwischen einen andern Plan
gemacht, und im selben Augenblicke, wo sein Schlitten die Bohlenbrücke
passierte, bog er, statt den Außenweg zu wählen, in
einen schmaleren Weg ein, der mitten durch die dichte Waldmasse
hindurchführte. Effi schrak zusammen. Bis dahin waren Luft
und Licht um sie her gewesen, aber jetzt war es damit vorbei,
und die dunklen Kronen wölbten sich über ihr. Ein Zittern
überkam sie, und sie schob die Finger fest ineinander, um
sich einen Halt zu geben. Gedanken und Bilder jagten sich, und
eines dieser Bilder war das Mütterchen in dem Gedichte, das
die »Gottesmauer« hieß, und wie das Mütterchen,
so betete auch sie jetzt, dass Gott eine Mauer um sie her
bauen möge. Zwei, drei Male kam es auch über ihre Lippen,
aber mit einem Mal fühlte sie, dass es tote Worte waren.
Sie fürchtete sich und war doch zugleich wie in einem Zauberbann
und wollte auch nicht heraus.
Als sie die Augen wieder öffnete, war man aus dem Walde heraus,
und in geringer Entfernung vor sich hörte sie das Geläut
der voraufeilenden Schlitten. Immer vernehmlicher klang es, und
als man dicht vor Utpatels Mühle von den Dünen her
in die Stadt einbog, lagen rechts die kleinen Häuser mit
ihren Schneedächern neben ihnen.
»Ja, uns. Sidonien und mir. Du musst durchaus vergessen
haben, dass der Major in deinem Auftrage kam. Und als er mir
erst gegenübersaß, beiläufig jämmerlich genug
auf der elenden schmalen Leiste, sollte ich ihn da ausweisen,
als die Grasenabbs kamen und mit einem Male die Fahrt weiterging?
Ich hätte mich lächerlich gemacht, und dagegen bist
du doch so empfindlich. Erinnere dich, dass wir unter deiner
Zustimmung viele Male gemeinschaftlich spazieren geritten sind,
und nun sollte ich nicht gemeinschaftlich mit ihm fahren? Es ist
falsch, so hieß es bei uns zu Haus, einem Edelmanne Misstrauen
zu zeigen.«
»Ja«, fuhr Innstetten fort und seine Stimme wurde freundlicher,
trotzdem ein leiser Spott noch darin nachklang. »Kavalier,
das ist er, und ein perfekter Kavalier, das ist er nun schon ganz
gewiss. Aber Edelmann! Meine liebe Effi, ein Edelmann sieht
anders aus. Hast du schon etwas Edles an ihm bemerkt? Ich nicht.«
»Es scheint, wir sind gleicher Meinung. Im Übrigen,
wie du schon sagtest, ich bin selber schuld; von einem faux pas
mag ich nicht sprechen, das ist in diesem Zusammenhange kein gutes
Wort. Also selber schuld, und es soll nicht wieder vorkommen,
soweit ich's hindern kann. Aber auch du, wenn ich dir raten darf,
sei auf deiner Hut. Er ist ein Mann der Rücksichtslosigkeiten
und hat so seine Ansichten über junge Frauen. Ich kenne ihn
von früher.«
»Nein, nicht ganz, meine liebe Effi. Ich begehe die Torheit,
zwischen Crampas und Gieshübler einen Unterschied zu machen.
Sie sind sozusagen nicht von gleichem Karat; nach Karat berechnet
man nämlich den reinen Goldeswert, unter Umständen auch
der Menschen. Mir persönlich, um auch das noch zu sagen,
ist Gieshüblers weißes Jabot, trotzdem kein Mensch
mehr Jabots trägt, erheblich lieber als Crampas' rotblonder
Sappeurbart. Aber ich bezweifle, dass dies weiblicher Geschmack
ist.«
Und Effi las: »Darf ich mich nach der gnäd'gen Frau
Befinden erkundigen? Ich weiß nur, dass Sie dem Schloon
glücklich entronnen sind; aber es blieb auch durch den Wald
immer noch Fährlichkeit genug. Eben kommt Doktor Hannemann
von Uvagla zurück und beruhigt mich über Mirambo; gestern
habe er die Sache für bedenklicher angesehen, als er uns
habe sagen wollen, heute nicht mehr. Es war eine reizende Fahrt.
- In drei Tagen feiern wir Silvester. Auf eine Festlichkeit wie
die vorjährige müssen wir verzichten; aber einen Ball
haben wir natürlich, und Sie erscheinen zu sehen würde
die Tanzwelt beglücken und nicht am wenigsten Ihren respektvollst
ergebenen Alonzo G.«
Drei Tage später war Silvester. Effi erschien in einer reizenden
Balltoilette, einem Geschenk, das ihr der Weihnachtstisch gebracht
hatte; sie tanzte aber nicht, sondern nahm ihren Platz bei den
alten Damen, für die ganz in der Nähe der Musikempore
die Fauteuils gestellt waren. Von den adligen Familien, mit denen
Innstettens vorzugsweise verkehrten, war niemand da, weil kurz
vorher ein kleines Zerwürfnis mit dem städtischen Ressourcenvorstand,
der namentlich seitens des alten Güldenklee mal wieder
»destruktiver Tendenzen« beschuldigt worden war, stattgefunden
hatte; drei, vier andere adlige Familien aber, die nicht Mitglieder
der Ressource, sondern immer nur geladene Gäste waren und
deren Güter an der anderen Seite der Kessine lagen, waren
aus zum Teil weiter Entfernung über das Flusseis gekommen
und freuten sich, an dem Fest teilnehmen zu können. Effi
saß zwischen der alten Ritterschaftsrätin von Padden
und einer etwas jüngeren Frau von Titzewitz.
Die Ritterschaftsrätin, eine vorzügliche alte Dame,
war in allen Stücken ein Original und suchte das, was die
Natur besonders durch starke Backenknochenbildung nach der
wendisch-heidnischen Seite hin für sie getan hatte, durch
christlich-germanische Glaubensstrenge wieder in Ausgleich zu
bringen. In dieser Strenge ging sie so weit, dass selbst Sidonie von
Grasenabb eine Art esprit fort neben ihr war, wogegen sie freilich
- vielleicht weil sich die Radegaster und die Swantowiter Linie
des Hauses in ihr vereinigten - über jenen alten Paddenhumor
verfügte, der von langer Zeit her wie ein Segen auf der Familie
ruhte und jeden, der mit derselben in Berührung kam, auch
wenn es Gegner in Politik und Kirche waren, herzlich erfreute.
»Da kommt es schon. Ich kenne das. Immer dasselbe. Darin
ändern die Zeiten nichts. Und vielleicht ist es auch recht
gut so. Denn worauf es ankommt, meine liebe junge Frau, das ist
das Kämpfen. Man muss immer ringen mit dem natürlichen
Menschen. Und wenn man sich dann so unter hat und beinah schreien
möchte, weil's weh tut, dann jubeln die lieben Engel!«
»Freilich ist es schwer. Aber je schwerer, desto besser.
Darüber müssen Sie sich freuen. Das mit dem Fleisch,
das bleibt, und ich habe Enkel und Enkelinnen, da seh ich es jeden
Tag. Aber im Glauben sich unterkriegen, meine liebe Frau, darauf
kommt es an, das ist das Wahre. Das hat uns unser alter Martin
Luther zur Erkenntnis gebracht, der Gottesmann. Kennen Sie seine
Tischreden?«
Effi nannte nun Crampas' Namen, der seinerseits schon vorher vollkommen
orientiert war und in leichtem Geplauder alle Paddens und Titzewitze,
von denen er je gehört hatte, Revue passieren ließ.
Zugleich entschuldigte er sich, den Herrschaften jenseits der
Kessine noch immer nicht seinen Besuch gemacht und seine Frau
vorgestellt zu haben; »aber es sei sonderbar, welche trennende
Macht das Wasser habe. Es sei dasselbe wie mit dem Canal La
Manche ...«
Frau von Padden, die darin mit feinem Instinkt etwas Anzügliches
witterte, wollte für das Wasser eintreten, Crampas aber sprach
mit immer wachsendem Redefluss weiter und lenkte die Aufmerksamkeit
der Damen auf ein schönes Fräulein von Stojentin, »das
ohne Zweifel die Ballkönigin« sei, wobei sein Blick
übrigens Effi bewundernd streifte. Dann empfahl er sich rasch
unter Verbeugung gegen alle drei.
Es kam Effi sehr zupass, dass das neue Jahr gleich in
seinem Anfang allerlei Aufregungen brachte. Seit Silvesternacht
ging ein scharfer Nordost, der sich in den nächsten Tagen
fast bis zum Sturm steigerte, und am dritten Januar nachmittags hieß
es, dass ein Schiff draußen mit der Einfahrt nicht
zustande gekommen und hundert Schritt vor der Mole gescheitert
sei; es sei ein englisches von Sunderland her und, soweit sich
erkennen lasse, sieben Mann an Bord; die Lotsen könnten beim
Ausfahren trotz aller Anstrengung nicht um die Mole herum, und
vom Strand aus ein Boot abzulassen, daran sei nun vollends nicht
zu denken, die Brandung sei viel zu stark. Das klang traurig genug.
Aber Johanna, die die Nachricht brachte, hatte doch auch Trost
bei der Hand: Konsul Eschrich mit dem Rettungsapparat und der
Raketenbatterie sei schon unterwegs und es würde gewiss
glücken; die Entfernung sei nicht voll so weit wie Anno 75,
wo's doch auch gegangen, und sie hätten damals sogar den
Pudel mit gerettet, und es wäre ordentlich rührend gewesen,
wie sich das Tier gefreut und die Kapitänsfrau und das liebe
kleine Kind, nicht viel größer als Anniechen, immer
wieder mit seiner roten Zunge geleckt habe.
»Geert, da muss ich mit hinaus, das muss ich sehen«,
hatte Effi sofort erklärt, und beide waren aufgebrochen,
um nicht zu spät zu kommen, und hatten denn auch den rechten
Moment abgepasst; denn im Augenblick, als sie von der Plantage
her den Strand erreichten, fiel der erste Schuss, und sie
sahen ganz deutlich, wie die Rakete mit dem Fangseil unter dem
Sturmgewölk hinflog und über das Schiff weg jenseits
niederfiel. Alle Hände regten sich sofort an Bord, und nun
holten sie mit Hilfe der kleinen Leine das dickere Tau samt dem
Korb heran, und nicht lange, so kam der Korb in einer Art Kreislauf
wieder zurück und einer der Matrosen, ein schlanker, bildhübscher
Mensch mit einer wachsleinenen Kappe, war geborgen an Land und
wurde neugierig ausgefragt, während der Korb aufs Neue seinen
Weg machte, zunächst den zweiten und dann den dritten heranzuholen
und so fort. Alle wurden gerettet, und Effi hätte sich, als
sie nach einer halben Stunde mit ihrem Manne wieder heimging,
in die Dünen werfen und sich ausweinen mögen. Ein schönes
Gefühl hatte wieder Platz in ihrem Herzen gefunden, und es
beglückte sie unendlich, dass es so war.
Das war am dritten gewesen. Schon am fünften kam ihr eine neue Aufregung,
freilich ganz anderer Art. Innstetten hatte Gieshübler, der
natürlich auch Stadtrat und Magistratsmitglied war, beim
Herauskommen aus dem Rathause getroffen und im Gespräche mit
ihm erfahren, dass seitens des Kriegsministeriums angefragt
worden sei, wie sich die Stadtbehörden eventuell zur Garnisonsfrage
zu stellen gedächten? Bei nötigem Entgegenkommen, also
bei Bereitwilligkeit zu Stall- und Kasernenbauten, könnten
ihnen zwei Schwadronen Husaren zugesagt werden. »Nun, Effi,
was sagst du dazu?« - Effi war wie benommen. All das unschuldige
Glück ihrer Kinderjahre stand mit einem Mal wieder vor ihrer
Seele, und im Augenblick war es ihr, als ob rote Husaren - denn
es waren auch rote wie daheim in Hohen-Cremmen - so recht eigentlich
die Hüter von Paradies und Unschuld seien. Und dabei schwieg
sie noch immer.
»Damit hat's freilich noch gute Wege, ja Gieshübler
meinte sogar, die Väter der Stadt, seine Kollegen, verdienten
es gar nicht. Statt einfach über die Ehre, und wenn nicht
über die Ehre, so doch wenigstens über den Vorteil einig
und glücklich zu sein, wären sie mit allerlei 'Wenns'
und 'Abers' gekommen und hätten geknausert wegen der neuen
Bauten: ja, Pefferküchler Michelsen habe sogar gesagt, es
verderbe die Sitten der Stadt, und wer eine Tochter habe, der
möge sich vorsehen und Gitterfenster anschaffen.
Effi lachte so herzlich, wie sie seit lange nicht
mehr gelacht hatte. Doch es war von keiner Dauer, und als Innstetten
ging und sie allein ließ, setzte sie sich an die Wiege des
Kindes, und ihre Tränen fielen auf die Kissen. Es brach wieder
über sie herein, und sie fühlte, dass sie wie eine
Gefangene sei und nicht mehr herauskönne.
Sie litt schwer darunter und wollte sich befreien. Aber wiewohl
sie starker Empfindungen fähig war, so war sie doch keine
starke Natur; ihr fehlte die Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen
gingen wieder vorüber. So trieb sie denn weiter, heute, weil
sie's nicht ändern konnte, morgen, weil sie's nicht ändern
wollte. Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine Macht über
sie.
So kam es, dass sie sich, von Natur frei und offen, in ein
verstecktes Komödienspiel mehr und mehr hineinlebte. Mitunter
erschrak sie, wie leicht es ihr wurde. Nur in einem blieb sie
sich gleich: sie sah alles klar und beschönigte nichts. Einmal
trat sie spät abends vor den Spiegel in ihrer Schlafstube;
die Lichter und Schatten flogen hin und her und Rollo schlug
draußen an, und im selben Augenblicke war es ihr, als sähe
ihr wer über die Schulter. Aber sie besann sich rasch. »Ich
weiß schon, was es ist; es war nicht der«, und
sie wies mit dem Finger nach dem Spukzimmer oben. »Es war
was anderes ... mein Gewissen ... Effi, du bist verloren.«
Um die Mitte des Monats kamen Einladungen aufs Land. Über
die dabei innezuhaltende Reihenfolge hatten sich die vier Familien,
mit denen Innstettens vorzugsweise verkehrten, geeinigt: die Borckes
sollten beginnen, die Flemmings und Grasenabbs folgten, die Güldenklees
schlossen ab. Immer eine Woche dazwischen. Alle vier Einladungen
kamen am selben Tage; sie sollten ersichtlich den Eindruck des
Ordentlichen und Wohlerwogenen machen, auch wohl den einer besonderen
freundschaftlichen Zusammengehörigkeit.
»Nein, es ist doch mehr Ehrlichkeit dabei, als
du zugeben willst. Du hast selbst gewollt, dass ich den Doktor
zu Rate ziehe. Das hab ich getan, und nun muss ich doch seinem
Rate folgen. Der gute Doktor, er hält mich für bleichsüchtig,
sonderbar genug, und du weißt, dass ich jeden Tag von
dem Eisenwasser trinke. Wenn du dir ein Borcke'sches Diner dazu
vorstellst, vielleicht mit Presskopf und Aal in Aspik, so
musst du den Eindruck haben, es wäre mein Tod. Und so
wirst du dich doch zu deiner Effi nicht stellen wollen. Freilich
mitunter ist es mir ...«
»... Übrigens freu' ich mich, und das ist das einzige
Gute dabei, dich jedes Mal, wenn du fährst, eine Strecke Wegs
begleiten zu können, bis an die Mühle gewiss oder
bis an den Kirchhof oder auch bis an die Waldecke, da wo der
Morgnitzer Querweg einmündet. Und dann steig ich ab und schlendere
wieder zurück. In den Dünen ist es immer am schönsten.
«
Innstetten war einverstanden, und als drei Tage später der
Wagen vorfuhr, stieg Effi mit auf und gab ihrem Manne das Geleit
bis an die Waldecke. »Hier lass halten, Geert. Du fährst
nun links weiter, ich gehe rechts bis an den Strand und durch
die Plantage zurück. Es ist etwas weit, aber doch nicht zu
weit. Doktor Hannemann sagt mir jeden Tag, Bewegung sei alles,
Bewegung und frische Luft. Und ich glaube beinah, dass er
Recht hat. Empfiehl mich all den Herrschaften; nur bei Sidonie
kannst du schweigen.«
Die Fahrten, auf denen Effi ihren Gatten bis an die Waldecke begleitete,
wiederholten sich allwöchentlich; aber auch in der zwischenliegenden
Zeit hielt Effi darauf, dass sie der ärztlichen Verordnung
streng nachkam. Es verging kein Tag, wo sie nicht ihren vorgeschriebenen
Spaziergang gemacht hätte, meist nachmittags, wenn sich Innstetten
in seine Zeitungen zu vertiefen begann. Das Wetter war schön,
eine milde, frische Luft, der Himmel bedeckt. Sie ging in der
Regel allein und sagte zu Roswitha: »Roswitha, ich gehe nun
also die Chaussee hinunter und dann rechts an den Platz mit dem
Karussell; da will ich auf dich warten, da hole mich ab. Und dann
gehen wir durch die Birkenallee oder durch die Reeperbahn wieder
zurück. Aber komme nur, wenn Annie schläft. Und wenn
sie nicht schläft, so schicke Johanna. Oder lass es
lieber ganz; es ist nicht nötig, ich finde mich schon zurecht.«
Den ersten Tag, als es so verabredet war, trafen sie sich auch
wirklich. Effi saß auf einer an einem langen Holzschuppen
sich hinziehenden Bank und sah nach einem niedrigen Fachwerkhaus
hinüber, gelb mit schwarz gestrichenen Balken, einer Wirtschaft
für kleine Bürger, die hier ihr Glas Bier tranken oder
Solo spielten. Es dunkelte noch kaum, die Fenster aber waren schon
hell und ihr Lichtschimmer fiel auf die Schneemassen und etliche
zur Seite stehende Bäume. »Sieh, Roswitha, wie schön
das aussieht.«
In dieser Art ging es durch Wochen hin. Das mit den Husaren hatte
sich wegen der Schwierigkeiten, die die Bürgerschaft machte,
so gut wie zerschlagen; aber da die Verhandlungen noch nicht geradezu
abgeschlossen waren und neuerdings durch eine andere Behörde,
das Generalkommando, gingen, so war Crampas nach Stettin berufen
worden, wo man seine Meinung in dieser Angelegenheit hören
wollte. Von dort schrieb er den zweiten Tag an Innstetten:
»Pardon, Innstetten, dass ich mich auf französisch
empfohlen. Es kam alles so schnell. Ich werde übrigens die
Sache hinauszuspinnen suchen, denn man ist froh, einmal draußen
zu sein. Empfehlen Sie mich der gnädigen Frau, meiner liebenswürdigen
Gönnerin.«
Innstettens Blick flog scharf über sie hin. Aber er sah nichts,
und sein Verdacht beruhigte sich wieder. »Ich will auch fort«,
sagte er nach einer Weile, »sogar nach Berlin; vielleicht
kann ich dann wie Crampas auch mal was Neues mitbringen. Meine
liebe Effi will immer gern was Neues hören; sie langweilt
sich in unserm guten Kessin. Ich werde gegen acht Tage fort sein,
vielleicht noch einen Tag länger. Und ängstige dich
nicht ... es wird ja wohl nicht wiederkommen ... du weißt
schon, das da oben ... Und wenn doch, du hast ja Rollo und Roswitha.«
Effi lächelte vor sich hin, und es mischte sich etwas von
Wehmut mit ein. Sie musste des Tages gedenken, wo Crampas
ihr zum ersten Mal gesagt hatte, dass er mit dem Spuk und
ihrer Furcht eine Komödie spiele. Der große Erzieher!
Aber hatte er nicht Recht? War die Komödie nicht am Platz?
Und allerhand Widerstreitendes, Gutes und Böses, ging ihr
durch den Kopf.
Innstetten war erst vier Tage fort, als Crampas von Stettin wieder
eintraf und die Nachricht brachte, man hätte höheren
Orts die Absicht, zwei Schwadronen nach Kessin zu legen, endgültig
fallen lassen; es gäbe so viele kleine Städte, die sich
um eine Kavallerie-Garnison, und nun gar um Blücher'sche Husaren,
bewürben, dass man gewohnt sei, bei solchem Anerbieten
einem herzlichen Entgegenkommen, aber nicht einem zögernden
zu begegnen. Als Crampas das mitteilte, machte der Magistrat ein
ziemlich verlegenes Gesicht; nur Gieshübler, weil er der
Philisterei seiner Kollegen eine Niederlage gönnte, triumphierte.
Seitens der kleinen Leute griff beim Bekanntwerden der Nachricht
eine gewisse Verstimmung Platz, ja selbst einige Konsuls mit Töchtern
waren momentan unzufrieden; im Ganzen aber kam man rasch über
die Sache hin, vielleicht weil die nebenherlaufende Frage, was
Innstetten in Berlin vorhabe, die Kessiner Bevölkerung oder
doch wenigstens die Honoratiorenschaft der Stadt mehr interessierte.
Diese wollte den überaus wohlgelittenen Landrat nicht gern
verlieren, und doch gingen darüber ganz ausschweifende Gerüchte,
die von Gieshübler, wenn er nicht ihr Erfinder war, wenigstens
genährt und weiter verbreitet wurden. Unter anderem hieß
es, Innstetten würde als Führer einer Gesandtschaft
nach Marokko gehn, und zwar mit Geschenken, unter denen nicht
bloß die herkömmliche Vase mit Sanssouci und dem neuen
Palais, sondern vor allem auch eine große Eismaschine sei.
Das letztere erschien mit Rücksicht auf die marokkanischen
Temperaturverhältnisse so wahrscheinlich, dass das Ganze
geglaubt wurde.
Effi hörte auch davon. Die Tage, wo sie sich darüber
erheitert hätte, lagen noch nicht allzu weit zurück;
aber in der Seelenstimmung, in der sie sich seit Schluss
des Jahres befand, war sie nicht mehr fähig, unbefangen und
ausgelassen über derlei Dinge zu lachen. Ihre Gesichtszüge
hatten einen ganz anderen Ausdruck angenommen und das halb rührend,
halb schelmisch Kindliche, was sie noch als Frau gehabt hatte,
war hin. Die Spaziergänge nach dem Strand und der Plantage,
die sie, während Crampas in Stettin war, aufgegeben hatte,
nahm sie nach seiner Rückkehr wieder auf und ließ sich
auch durch ungünstige Witterung nicht davon abhalten. Es
wurde wie früher bestimmt, dass ihr Roswitha bis an
den Ausgang der Reeperbahn oder bis in die Nähe des Kirchhofs
entgegenkommen solle, sie verfehlten sich aber noch häufiger
als früher. »Ich könnte dich schelten, Roswitha,
dass du mich nie findest. Aber es hat nichts auf sich; ich
ängstige mich nicht mehr, auch nicht einmal am Kirchhof,
und im Wald bin ich noch keiner Menschenseele begegnet.«
Es war am Tage vor Innstettens Rückkehr von Berlin, dass
Effi das sagte. Roswitha machte nicht viel davon und beschäftigte
sich lieber damit, Girlanden über den Türen anzubringen;
auch der Haifisch bekam einen Fichtenzweig und sah noch merkwürdiger
aus als gewöhnlich. Effi sagte: »Das ist recht, Roswitha;
er wird sich freuen über all das Grün, wenn er morgen
wieder da ist. Ob ich heute wohl noch gehe? Doktor Hannemann besteht
darauf und meint in einem fort, ich nähme es nicht ernst
genug, sonst müsste ich besser aussehn; ich habe aber
keine rechte Lust heut, es nieselt und der Himmel ist so grau.«
Roswitha blieb denn auch zu Haus, und weil Annie schlief, ging
sie zu Kruses, um mit der Frau zu plaudern. »Liebe Frau Kruse«,
sagte sie, »Sie wollten mir ja das mit dem Chinesen noch
erzählen. Gestern kam die Johanna dazwischen, die tut immer
so vornehm, für die ist so was nicht. Ich glaube aber doch,
dass es was gewesen ist, ich meine mit dem Chinesen und mit
Thomsens Nichte, wenn es nicht seine Enkelin war.«
»Entweder«, fuhr Roswitha fort, »war es eine unglückliche
Liebe (die Kruse nickte wieder), oder es kann auch eine glückliche
gewesen sein und der Chinese konnte es bloß nicht aushalten,
dass es alles mit einem Mal so wieder vorbei sein sollte.
Denn die Chinesen sind doch auch Menschen, und es wird wohl alles
ebenso mit ihnen sein wie mit uns.«
»Alles«, versicherte die Kruse und wollte dies eben
durch ihre Geschichte bestätigen, als ihr Mann eintrat und sagte:
»Mutter, du könntest
mir die Flasche mit dem Lederlack geben; ich muss doch das
Sielenzeug blank haben, wenn der Herr morgen wieder da ist; der
sieht alles und wenn er auch nichts sagt, so merkt man doch,
dass er's gesehn hat.«
Roswitha, die Flasche mit dem Lack in der Hand, kam denn auch
ein paar Minuten danach auf den Hof hinaus und stellte sich neben
das Sielenzeug, das Kruse eben über den Gartenzaun gelegt
hatte. »Gott«, sagte er, während er ihr die Flasche
aus der Hand nahm, »viel hilft es ja nicht, es nieselt in
einem weg, und die Blänke vergeht doch wieder. Aber ich denke,
alles muss seine Ordnung haben.«
»Das muss es. Und dann, Kruse, es ist ja doch auch ein
richtiger Lack, das kann ich gleich sehn, und was ein richtiger
Lack ist, der klebt nicht lange, der muss gleich trocknen.
Und wenn es dann morgen nebelt oder nass fällt, dann
schadet es nich' mehr. Aber das muss ich doch sagen, das
mit dem Chinesen is eine merkwürdige Geschichte.«
Kruse lachte. »Unsinn is es, Roswitha. Und meine Frau, statt
aufs Richtige zu sehen, erzählt immer so was, un' wenn ich
ein reines Hemd anziehen will, fehlt ein Knopp. Un' so is es nu'
schon, so lange wir hier sind. Sie hat immer bloß solche
Geschichten in ihrem Kopp und dazu das schwarze Huhn. Un das schwarze
Huhn legt nich' mal Eier. Un' am Ende, wovon soll es auch Eier legen?
Es kommt ja nich' 'raus und von's bloße Kikeriki kann doch
so was nich' kommen. Das is von keinem Huhn nich' zu verlangen.«
»Hören Sie, Kruse, das werde ich Ihrer Frau wieder erzählen.
Ich habe Sie immer für einen anständigen Menschen gehalten,
und nun sagen Sie so was wie das da von Kikeriki. Die Mannsleute
sind doch immer noch schlimmer als man denkt. Un' eigentlich müsst
ich nu' gleich den Pinsel hier nehmen und Ihnen einen schwarzen
Schnurrbart anmalen.«
»Nu' von Ihnen, Roswitha, kann man sich das schon gefallen
lassen«, und Kruse, der meist den Würdigen spielte,
schien in einen mehr und mehr schäkrigen Ton übergehen
zu wollen, als er plötzlich der gnädigen Frau ansichtig
wurde, die heute von der anderen Seite der Plantage herkam und
in eben diesem Augenblicke den Gartenzaun passierte.
Aber Roswitha, als sie das sagte, war doch rot geworden und ging,
rasch abbrechend, auf das Haus zu, um der gnädigen Frau beim
Umkleiden behilflich zu sein. Denn ob Johanna da war, das war
die Frage. Die steckte jetzt viel auf dem 'Amt' drüben,
weil es zu Haus weniger zu tun gab und Friedrich und Christel
waren ihr zu langweilig und wussten nie was.
Annie schlief noch. Effi beugte sich über die Wiege, ließ
sich dann Hut und Regenmantel abnehmen und setzte sich auf das
kleine Sofa in ihrer Schlafstube. Das feuchte Haar strich sie
langsam zurück, legte die Füße auf einen niedrigen
Stuhl, den Roswitha herangeschoben, und sagte, während sie
sichtlich das Ruhebehagen nach einem ziemlich langen Spaziergange
genoss: »Ich muss dich darauf aufmerksam machen,
Roswitha, dass Kruse verheiratet ist.«
»Denn wenn du denkst, sie sei krank, da machst du die Rechnung
ohne den Wirt. Die Kranken leben am längsten. Und dann hat
sie das schwarze Huhn. Vor dem hüte dich, das weiß
alles und plaudert alles aus. Ich weiß nicht, ich habe einen
Schauder davor. Und ich wette, dass das alles da oben mit
dem Huhn zusammenhängt.«
»Nun, Mäuse, das ist auch gerade schlimm genug. Ich
kann keine Mäuse leiden. Aber ich sah ja deutlich, wie du
mit dem Kruse schwatztest und vertraulich tatest, und ich glaube
sogar, du wolltest ihm einen Schnurrbart anmalen. Das ist doch
schon sehr viel. Und nachher sitzest du da. Du bist ja noch eine
schmucke Person und hast so was. Aber sieh dich vor, so viel kann
ich dir bloß sagen. Wie war es denn eigentlich das erste Mal
mit dir? Ist es so, dass du mir's erzählen kannst?«
»Ach, ich kann schon. Aber schrecklich war es. Und weil es
so schrecklich war, drum können gnäd'ge Frau auch ganz
ruhig sein von wegen dem Kruse. Wem es so gegangen ist wie mir,
der hat genug davon und passt auf. Mitunter träume ich
noch davon, und dann bin ich den andern Tag wie zerschlagen. Solche
grausame Angst ...«
»Ja, zuerst is es wohl immer dasselbe, und ich will mir auch
nicht einbilden, dass es mit mir was Besonderes war, ganz
und gar nicht. Aber wie sie's mir dann auf den Kopf zusagten und
ich mit einem Male sagen musste: 'Ja, es ist so', ja, das
war schrecklich. Die Mutter, na, das ging noch, aber der Vater,
der die Dorfschmiede hatte, der war streng und wütend, und
als er's hörte, da kam er mit einer Stange auf mich los,
die er eben aus dem Feuer genommen hatte, und wollte mich umbringen.
Und ich schrie laut auf und lief auf den Boden und versteckte
mich, und da lag ich und zitterte und kam erst wieder nach unten,
als sie mich riefen und sagten, ich solle nur kommen. Und dann
hatte ich noch eine jüngere Schwester, die wies immer auf
mich hin und sagte 'Pfui'. Und dann, wie das Kind kommen sollte,
ging ich in eine Scheune nebenan, weil ich mir's bei uns nicht
getraute. Da fanden mich fremde Leute halb tot und trugen mich
ins Haus und in mein Bett. Und den dritten Tag nahmen sie mir
das Kind fort, und als ich nachher fragte, wo es sei, da hieß
es, es sei gut aufgehoben. Ach, gnädigste Frau, die heilge
Mutter Gottes bewahre Sie vor solchem Elend.«
»Und dann, nach ein paar Tagen, da kam wer aus Erfurt, der
fuhr bei dem Schulzen vor und fragte, ob da nicht eine Amme sei.
Da sagte der Schulze 'ja'. Gott lohne es ihm, und der fremde Herr
nahm mich gleich mit, und von da an hab ich bessre Tage gehabt;
selbst bei der Registratorin war es doch immer noch zum Aushalten,
und zuletzt bin ich zu Ihnen gekommen, gnädigste Frau. Und
das war das Beste, das Allerbeste.« Und als sie das sagte,
trat sie an das Sofa heran und küsste Effi die Hand.
»Aber wenn es mal wieder so über mich käme, mit
dem Kruse, das is ja nichts, und ich könnte nicht mehr anders,
da lief ich gleich ins Wasser. Es war zu schrecklich. Alles. Und
was nur aus dem armen Wurm geworden is? Ich glaube nicht, dass
es noch lebt; sie haben es umkommen lassen, aber ich bin doch
schuld.« Und sie warf sich vor Annies Wiege nieder und wiegte
das Kind hin und her und sang in einem fort ihr 'Buhküken
von Halberstadt'.
Roswitha ging, und Effi, als sie allein war, sagte: »Womit
man sich nicht alles hilft? Eine hübsche Dame mit einem Muff
und eine mit einem Halbschleier; Modepuppen. Aber es ist das Beste,
mich auf andre Gedanken zu bringen.«
Im Laufe des andern Vormittags kam ein Telegramm von Innstetten,
worin er mitteilte, dass er erst mit dem zweiten Zuge kommen,
also nicht vor Abend in Kessin eintreffen werde. Der Tag verging
in ewiger Unruhe; glücklicherweise kam Gieshübler
im Laufe des Nachmittags und half über eine Stunde weg. Endlich
um sieben Uhr fuhr der Wagen vor, Effi trat hinaus, und man begrüßte
sich. Innstetten war in einer ihm sonst fremden Erregung, und
so kam es, dass er die Verlegenheit nicht sah, die sich in
Effis Herzlichkeit mischte. Drinnen im Flur brannten die Lampen
und Lichter, und das Teezeug, das Friedrich schon auf einen der
zwischen den Schränken stehenden Tische gestellt hatte, reflektierte
den Lichterglanz.
»Der ist nicht recht zufrieden, entweder mit mir nicht oder
mit andern. Nun, ich will annehmen, mit mir. Jedenfalls lass
uns eintreten.« Und er trat in sein Zimmer und bat Effi,
während er sich aufs Sofa niederließ, neben ihm Platz
zu nehmen. »Es war so hübsch in Berlin, über Erwarten;
aber in all meiner Freude habe ich mich immer zurückgesehnt.
Und wie gut du aussiehst! Ein bisschen blass und auch ein
bisschen verändert, aber es kleidet dich.«
»Das ist eine Doktorfrage, darauf lasse ich mich nicht ein.
Aber da bringt Friedrich den Tee. Wie hat's mich nach dieser Stunde
verlangt! Und hab es auch ausgesprochen, sogar zu deinem Vetter
Briest, als wir bei Dressel saßen und in Champagner dein
Wohl tranken ... Die Ohren müssen dir geklungen haben ...
Und weißt du, was dein Vetter dabei sagte?«
»Das ist der schwärzeste Undank, den ich all mein Lebtag
erlebt habe. 'Lassen wir Effi leben', sagte er, 'meine schöne
Kusine ... Wissen Sie, Innstetten, dass ich Sie am liebsten
fordern und totschießen möchte? Denn Effi ist ein Engel,
und Sie haben mich um diesen Engel gebracht'. Und dabei sah er
so ernst und wehmütig aus, dass man's beinah hätte
glauben können.«
»Aber er ist dalbrig. Und das ist keine Eigenschaft, die
wir Frauen lieben, auch nicht einmal dann, wenn wir noch halbe
Kinder sind, wohin du mich immer gerechnet hast und vielleicht
trotz meiner Fortschritte auch jetzt noch rechnest. Das Dalbrige,
das ist nicht unsre Sache. Männer müssen Männer
sein.«
»Ein Ministerium? Nun, das kann zweierlei sein. Es können
Menschen sein, kluge, vornehme Herren, die den Staat regieren,
und es kann auch bloß ein Haus sein, ein Palazzo, ein Palazzo
Strozzi oder Pitti oder, wenn die nicht passen, irgendein andrer.
Du siehst, ich habe meine italienische Reise nicht umsonst gemacht.«
»Nein. Und wir werden, die Wahrheit zu sagen, auch nicht
einmal in einem Ministerium wohnen, aber ich werde täglich
ins Ministerium gehen, wie ich jetzt in unser Landratsamt gehe,
und werde dem Minister Vortrag halten und mit ihm reisen, wenn
er die Provinzialbehörden inspiziert. Und du wirst eine Ministerialrätin
sein und in Berlin leben, und in einem halben Jahre wirst du kaum
noch wissen, dass du hier in Kessin gewesen bist und nichts
gehabt hast, als Gieshübler und die Dünen und die Plantage.«
Innstetten verfärbte sich. Was war das? Etwas, was seit Wochen
flüchtig, aber doch immer sich erneuernd über ihn kam,
war wieder da und sprach so deutlich aus seinem Auge, dass
Effi davor erschrak. Sie hatte sich durch ein schönes Gefühl,
das nicht viel was andres als ein Bekenntnis ihrer Schuld war,
hinreißen lassen und dabei mehr gesagt, als sie sagen durfte.
Sie musste das wieder ausgleichen, musste was finden,
irgendeinen Ausweg, es koste, was es wolle.
»Dass du noch fragen kannst, Geert«, sagte sie,
während sie mit einer äußersten Anstrengung das
Zittern ihrer Stimme zu bezwingen suchte. »Glückliche
Tage! Ja, gewiss, glückliche Tage, aber doch auch andre.
Nie bin ich die Angst hier ganz los geworden, nie. Noch keine vierzehn
Tage, dass es mir wieder über die Schulter sah, dasselbe
Gesicht, derselbe fahle Teint. Und diese letzten Nächte,
wo du fort warst, war es auch wieder da, nicht das Gesicht, aber
es schlurrte wieder, und Rollo schlug wieder an, und Roswitha,
die's auch gehört, kam an mein Bett und setzte sich zu mir,
und erst, als es schon dämmerte, schliefen wir wieder ein.
Es ist ein Spukhaus, und ich hab es auch glauben sollen, das mit
dem Spuk, - denn du bist ein Erzieher. Ja, Geert, das bist du. Aber
lass es sein, wie's will, so viel weiß ich, ich habe
mich ein ganzes Jahr lang und länger in diesem Hause gefürchtet,
und wenn ich von hier fortkomme, so wird es, denke ich, von mir
abfallen, und ich werde wieder frei sein.«
Innstetten hatte kein Auge von ihr gelassen und war jedem Worte
gefolgt. Was sollte das heißen: »Du bist ein Erzieher?«,
und dann das andre, was vorausging: »Und ich hab es auch
glauben sollen, das mit dem Spuk.« Was war das alles? Wo
kam das her? Und er fühlte seinen leisen Argwohn sich wieder
regen und fester einnisten. Aber er hatte lange genug gelebt,
um zu wissen, dass alle Zeichen trügen und dass
wir in unsrer Eifersucht trotz ihrer hundert Augen oft noch
mehr in die Irre gehen als in der Blindheit unsres Vertrauens.
Es konnte ja so sein, wie sie sagte. Und wenn es so war, warum
sollte sie nicht ausrufen: »Gott sei Dank!«
Und so, rasch alle Möglichkeiten ins Auge fassend, wurde
er seines Argwohns wieder Herr und reichte ihr die Hand über
den Tisch hin: »Verzeih mir, Effi, aber ich war so sehr überrascht
von dem allen. Freilich wohl meine Schuld. Ich bin immer zu sehr
mit mir beschäftigt gewesen. Wir Männer sind alle Egoisten.
Aber das soll nun anders werden. Ein Gutes hat Berlin gewiss:
Spukhäuser gibt es da nicht. Wo sollen die auch herkommen?
Und nun lass uns hinübergehen, dass ich Annie sehe;
Roswitha verklagt mich sonst als einen unzärtlichen Vater.«
Am andern Morgen nahmen beide gemeinschaftlich ihr etwas verspätetes
Frühstück. Innstetten hatte seine Missstimmung
und Schlimmeres überwunden, und Effi lebte so ganz dem Gefühl
ihrer Befreiung, dass sie nicht bloß die Fähigkeit
einer gewissen erkünstelten Laune, sondern fast auch ihre
frühere Unbefangenheit wieder gewonnen hatte. Sie war noch
in Kessin, und doch war ihr schon zu Mute, als läge es weit
hinter ihr.
»Ich habe mir's überlegt, Effi«, sagte Innstetten,
»du hast nicht so ganz Unrecht mit allem, was du gegen unser
Haus hier gesagt hast. Für Kapitän Thomsen war es gerade
gut genug, aber nicht für eine junge verwöhnte Frau;
alles altmodisch, kein Platz. Da sollst du's in Berlin besser
haben, auch einen Saal, aber einen andern als hier, und auf Flur
und Treppe hohe bunte Glasfenster, Kaiser Wilhelm mit Zepter und
Krone oder auch was Kirchliches, heilige Elisabeth oder Jungfrau
Maria. Sagen wir Jungfrau Maria, das sind wir Roswitha schuldig.«
»Nein«, sagte sie, während sie das Kaffeegeschirr,
um eine aufsteigende Verlegenheit zu verbergen, ziemlich geräuschvoll
zusammenrückte, »nein, so soll's auch nicht sein, nicht
heut und nicht morgen, aber doch in den nächsten Tagen. Und
wenn ich etwas finde, so bin ich rasch wieder zurück. Aber
noch eins, Roswitha und Annie müssen mit. Am schönsten
wär es, du auch. Aber ich sehe ein, das geht nicht. Und ich
denke, die Trennung soll nicht lange dauern. Ich weiß auch
schon, wo ich miete ...«
Effi schnitt das Kuvert auf und las: »Meine liebe Effi. Seit
24 Stunden bin ich hier in Berlin; Konsultationen bei Schweigger.
Als er mich sieht, beglückwünscht er mich, und als ich
erstaunt ihn frage, wozu, erfahr ich, dass Ministerialdirektor
Wüllersdorf eben bei ihm gewesen und ihm erzählt habe: Innstetten
sei ins Ministerium berufen. Ich bin ein wenig ärgerlich,
dass man dergleichen von einem Dritten erfahren muss.
Aber in meinem Stolz und meiner Freude sei euch verziehen. Ich
habe es übrigens immer gewusst (schon als I. noch bei
den Rathenowern war), dass etwas aus ihm werden würde.
Nun kommt es dir zugute. Natürlich müsst
ihr eine Wohnung haben und eine andere Einrichtung. Wenn du, meine
liebe Effi, glaubst, meines Rates dabei bedürfen zu können,
so komme, so rasch es dir deine Zeit erlaubt. Ich bleibe acht
Tage hier in Kur, und wenn es nicht anschlägt, vielleicht
noch etwas länger; Schweigger drückt sich unbestimmt
darüber aus. Ich habe eine Privatwohnung in der Schadowstraße
genommen; neben dem meinigen sind noch Zimmer frei. Was es mit
meinem Auge ist, darüber mündlich; vorläufig beschäftigt
mich nur eure Zukunft. Briest wird unendlich glücklich sein,
er tut immer so gleichgültig gegen dergleichen, eigentlich
hängt er aber mehr daran als ich. Grüße Innstetten,
küsse Annie, die du vielleicht mitbringst. Wie immer deine
dich zärtlich liebende Mutter Luise von B.«
Die Tage bis zur Abreise vergingen wie im Fluge. Roswitha war
sehr glücklich. »Ach, gnädigste Frau, Kessin, nun
ja ..., aber Berlin ist es nicht. Und die Pferdebahn. Und wenn
es dann so klingelt und man nicht weiß, ob man links oder
rechts soll, und mitunter ist mir schon gewesen, als ginge alles
grad über mich weg. Nein, so was ist hier nicht. Ich glaube,
manchen Tag sehen wir keine sechs Menschen. Und immer bloß
die Dünen und draußen die See. Und das rauscht und
rauscht, aber weiter ist es auch nichts.«
Das war am Donnerstag, am Tag vor der Abreise. Innstetten war
über Land gefahren und wurde erst gegen Abend zurückerwartet.
Am Nachmittag ging Effi in die Stadt, bis auf den Marktplatz,
und trat hier in die Apotheke und bat um eine Flasche Sal volatile.
»Man weiß nie, mit wem man reist«, sagte sie zu
dem alten Gehilfen, mit dem sie auf dem Plauderfuße stand
und der sie anschwärmte wie Gieshübler selbst.
»Ja, lieber Freund, ich soll wiederkommen, und es ist sogar
verabredet, dass ich spätestens in einer Woche wieder
in Kessin bin. Aber ich könnte doch auch nicht wiederkommen.
Muss ich Ihnen sagen, welche tausend Möglichkeiten es
gibt ... Ich sehe, Sie wollen mir sagen, dass ich noch zu
jung sei ..., auch Junge können sterben. Und dann so vieles
andere noch. Und da will ich doch lieber Abschied nehmen von Ihnen,
als wär es für immer.«
»Als wär es für immer. Und ich will Ihnen danken,
lieber Gieshübler. Denn Sie waren das Beste hier; natürlich,
weil Sie der Beste waren. Und wenn ich hundert Jahre alt würde,
so werde ich Sie nicht vergessen. Ich habe mich hier mitunter
einsam gefühlt, und mitunter war mir so schwer ums Herz,
schwerer als Sie wissen können; ich habe es nicht immer
richtig eingerichtet; aber wenn ich Sie gesehen habe, vom ersten
Tage an, dann habe ich mich immer wohler gefühlt und auch
besser.«
»Und dafür wollte ich Ihnen danken. Ich habe mir eben
ein Fläschchen mit Sal volatile gekauft; im Kupee
sind mitunter so merkwürdige Menschen und wollen einem nicht
mal erlauben, dass man ein Fenster aufmacht; und wenn mir
dann vielleicht - denn es steigt einem ja ordentlich zu Kopf,
ich meine das Salz - die Augen übergehen, dann will ich an
Sie denken. Adieu, lieber Freund, und grüßen Sie Ihre
Freundin, die Trippelli. Ich habe in den letzten Wochen öfter
an sie gedacht und an Fürst Kotschukoff. Ein eigentümliches
Verhältnis bleibt es doch. Aber ich kann mich hineinfinden
... Und lassen Sie einmal von sich hören. Oder ich werde
schreiben.«
Damit ging Effi. Gieshübler begleitete sie bis auf den Platz hinaus. Er
war wie benommen, so sehr, dass er über manches Rätselhafte,
was sie gesprochen, ganz hinwegsah.
Als Johanna das Zimmer wieder verlassen hatte, schloss Effi
sich ein, sah einen Augenblick in den Spiegel und setzte sich
dann wieder. Und nun schrieb sie: »Ich reise morgen mit
dem Schiff, und dies sind Abschiedszeilen. Innstetten erwartet mich
in wenig Tagen zurück, aber ich komme nicht wieder ... Warum
ich nicht wiederkomme, Sie wissen es ... Es wäre das Beste
gewesen, ich hätte dies Stück Erde nie gesehen. Ich
beschwöre Sie, dies nicht als einen Vorwurf zu fassen; alle
Schuld ist bei mir. Blick ich auf Ihr Haus ..., Ihr Tun
mag entschuldbar sein, nicht das meine. Meine Schuld ist sehr
schwer. Aber vielleicht kann ich noch heraus. Dass wir hier
abberufen wurden, ist mir wie ein Zeichen, dass ich noch
zu Gnaden angenommen werden kann. Vergessen Sie das Geschehene,
vergessen Sie mich. Ihre Effi.«
Sie überflog die Zeilen noch einmal, am fremdesten war ihr
das »Sie«; aber auch das musste sein; es sollte
ausdrücken, dass keine Brücke mehr da sei. Und
nun schob sie die Zeilen in ein Kuvert und ging auf ein Haus zu
zwischen dem Kirchhof und der Waldecke. Ein dünner Rauch
stieg aus dem halb eingefallenen Schornstein. Da gab sie die Zeilen
ab.
Das Gepäck war größer, als es für einen auf
so wenig Tage geplanten Ausflug geboten erschien. Innstetten sprach
mit dem Kapitän; Effi, in einem Regenmantel und hellgrauem
Reisehut, stand auf dem Hinterdeck nahe am Steuer und musterte
von hier aus das Bollwerk und die hübsche Häuserreihe,
die dem Zuge des Bollwerks folgte. Gerade der Landungsbrücke
gegenüber lag Hoppensacks Hotel, ein drei Stock hohes Gebäude,
von dessen Giebeldach eine gelbe Flagge mit Kreuz und Krone darin
schlaff in der stillen, etwas nebeligen Luft herniederhing. Effi
sah eine Weile nach der Flagge hinauf, ließ dann aber ihr
Auge wieder abwärts gleiten und verweilte zuletzt auf einer
Anzahl von Personen, die neugierig am Bollwerk umherstanden. In
diesem Augenblicke wurde geläutet. Effi war ganz eigen zu Mut;
das Schiff setzte sich langsam in Bewegung, und als sie die Landungsbrücke
noch einmal musterte, sah sie, dass Crampas in vorderster
Reihe stand. Sie erschrak bei seinem Anblick und freute sich doch
auch. Er seinerseits, in seiner ganzen Haltung verändert,
war sichtlich bewegt und grüßte ernst zu ihr hinüber,
ein Gruß, den sie ebenso, aber doch zugleich in großer
Freundlichkeit erwiderte; dabei lag etwas Bittendes in ihrem Auge.
Dann ging sie rasch auf die Kajüte zu, wo sich Roswitha mit
Annie schon eingerichtet hatte. Hier, in dem etwas stickigen Raume
blieb sie, bis man aus dem Fluss in die weite Bucht des Breitling
eingefahren war; da kam Innstetten und rief sie nach oben, dass
sie sich an dem herrlichen Anblick erfreue, den die Landschaft
gerade an dieser Stelle bot. Sie ging dann auch hinauf. Über
dem Wasserspiegel hingen graue Wolken, und nur dann und wann schoss
ein halb umschleierter Sonnenblick aus dem Gewölk hervor.
Effi gedachte des Tages, wo sie vor jetzt gerade Fünfvierteljahren
im offenen Wagen am Ufer eben dieses Breitlings hin entlanggefahren
war. Eine kurze Spanne Zeit, und das Leben oft so still und einsam.
Und doch, was war alles seitdem geschehen!
So fuhr man die Wasserstraße hinauf und war um zwei an der
Station oder doch ganz in Nähe derselben. Als man gleich
danach das Gasthaus des 'Fürsten Bismarck' passierte,
stand auch Golchowski wieder in der Tür und versäumte
nicht, den Herrn Landrat und die gnädige Frau bis an die
Stufen der Böschung zu geleiten. Oben war der Zug noch nicht
angemeldet, und Effi und Innstetten schritten auf dem Bahnsteig
auf und ab. Ihr Gespräch drehte sich um die Wohnungsfrage;
man war einig über den Stadtteil und dass es zwischen
dem Tiergarten und dem Zoologischen Garten sein müsse. »Ich
will den Finkenschlag hören und die Papageien auch«,
sagte Innstetten, und Effi stimmte ihm zu.
Auf dem Friedrichstraßen-Bahnhofe war ein Gedränge;
aber trotzdem, Effi hatte schon vom Kupee aus die Mama
erkannt und neben ihr den Vetter Briest. Die Freude des Wiedersehens
war groß, das Warten in der Gepäckhalle stellte die
Geduld auf keine allzu harte Probe, und nach wenig mehr als fünf
Minuten rollte die Droschke neben dem Pferdebahngeleise hin in
die Dorotheenstraße hinein und auf die Schadowstraße
zu, an deren nächstgelegener Ecke sich die 'Pension'
befand. Roswitha war entzückt und freute sich über Annie,
die die Händchen nach den Lichtern ausstreckte.
Nun war man da. Effi erhielt ihre zwei Zimmer, die nicht, wie
erwartet, neben denen der Frau von Briest, aber doch auf demselben
Korridor lagen, und als alles seinen Platz und Stand hatte und
Annie in einem Bettchen mit Gitter glücklich untergebracht
war, erschien Effi wieder im Zimmer der Mama, einem kleinen Salon
mit Kamin, drin ein schwaches Feuer brannte; denn es war mildes,
beinah warmes Wetter. Auf dem runden Tische mit grüner Schirmlampe
waren drei Kuverts gelegt, und auf einem Nebentischchen stand das Teezeug.
»Ich versteh, deiner Augen halber. Aber nun sage mir, Mama,
was ist es damit? In der Droschke, die noch dazu so klapperte,
haben wir immer nur von Innstetten und unserer großen Karriere
gesprochen, viel zu viel, und das geht nicht so weiter; glaube
mir, deine Augen sind mir wichtiger, und in einem finde ich sie,
Gott sei Dank, ganz unverändert, du siehst mich immer noch
so freundlich an wie früher.« Und sie eilte auf die Mama
zu und küsste ihr die Hand.
»Ganz der Vetter«, versicherte die Mama; Effi selbst
aber wollte davon nichts hören und sagte: »Dagobert,
du bist alles, nur kein Menschenkenner. Es ist sonderbar. Ihr
Offiziere seid keine guten Menschenkenner, die jungen gewiss
nicht. Ihr guckt euch immer nur selber an oder eure Rekruten,
und die von der Kavallerie haben auch noch ihre Pferde. Die wissen
nun vollends nichts.«
»Aber Kusine, wo hast du denn diese ganze Weisheit her?
Du kennst ja keine Offiziere. Kessin, so habe ich gelesen, hat
ja auf die ihm zugedachten Husaren verzichtet, ein Fall, der übrigens
einzig in der Weltgeschichte dasteht. Und willst du von alten
Zeiten sprechen? Du warst ja noch ein halbes Kind, als die Rathenower
zu euch herüberkamen.«
Frau von Briest erzählte nun, dass es der Augenarzt
für Blutandrang nach dem Gehirn ausgegeben habe. Daher käme
das Flimmern. Es müsse mit Diät gezwungen werden; Bier,
Kaffee, Tee - alles gestrichen und gelegentlich eine lokale Blutentziehung,
dann würde es bald besser werden. »Er sprach so von
vierzehn Tagen. Aber ich kenne die Doktorangaben; vierzehn Tage
heißt sechs Wochen, und ich werde noch hier sein, wenn Innstetten
kommt und ihr in eure neue Wohnung einzieht. Ich will auch nicht
leugnen, dass das das Beste von der Sache ist und mich über
die mutmaßlich lange Kurdauer schon vorweg tröstet.
Sucht euch nur recht was Hübsches. Ich habe mir Landgrafen-
oder Keithstraße gedacht, elegant und doch nicht allzu teuer.
Denn ihr werdet euch einschränken müssen. Innstettens
Stellung ist sehr ehrenvoll, aber sie wirft nicht allzuviel ab.
Und Briest klagt auch. Die Preise gehen herunter, und er erzählt
mir jeden Tag, wenn nicht Schutzzölle kämen, so müss
er mit einem Bettelsack von Hohen-Cremmen abziehen. Du weißt,
er übertreibt gern. Aber nun lange zu, Dagobert, und wenn
es sein kann, erzähle uns was Hübsches. Krankheitsberichte
sind immer langweilig, und die liebsten Menschen hören bloß
zu, weil es nicht anders geht. Effi wird wohl auch gern eine Geschichte
hören, etwas aus den Fliegenden Blättern oder aus dem
Kladderadatsch. Er soll aber nicht mehr so gut sein.«
»Ja, das sind die Besten. Aber Wippchen, der übrigens
- Pardon, schöne Kusine - keine Kladderadatschfigur ist,
Wippchen hat gegenwärtig nichts zu tun, es ist ja kein Krieg
mehr. Leider. Unsereins möchte doch auch mal an die Reihe
kommen und hier diese schreckliche Leere«, und er strich
vom Knopfloch nach der Achsel hinüber, »endlich los werden.«
»Gewiss geht es. Und ich möchte sogar hinzusetzen
dürfen, du triffst es besonders gut. Was jetzt nämlich
kursiert, ist etwas hervorragend Feines, weil es als Kombination
auftritt und in die einfache Bibelstelle noch das dativisch Wrangel'sche
mit einmischt. Die Fragestellung - alle diese Witze treten nämlich
in Frageform auf - ist übrigens in vorliegendem Falle von
großer Simplizität und lautet: 'Wer war der erste Kutscher?'
Und nun rate.«
Effi wiederholte kopfschüttelnd den Satz, auch die Zubemerkung,
konnte sich aber trotz aller Mühe nicht drin zurechtfinden;
sie gehörte ganz ausgesprochen zu den Bevorzugten, die für
derlei Dinge durchaus kein Organ haben, und so kam denn Vetter
Briest in die nicht beneidenswerte Situation, immer erneut erst
auf den Gleichklang und dann auch wieder auf den Unterschied von
'widerfahren' und 'wieder fahren' hinweisen zu müssen.
Am andern Tage war das schönste Wetter, und Mutter und Tochter
brachen früh auf, zunächst nach der Augenklinik, wo
Effi im Vorzimmer verblieb und sich mit dem Durchblättern
eines Albums beschäftigte. Dann ging es nach dem Tiergarten
und bis in die Nähe des 'Zoologischen', um dort
herum nach einer Wohnung zu suchen. Es traf sich auch wirklich
so, dass man in der Keithstraße, worauf sich ihre Wünsche
von Anfang an gerichtet hatten, etwas durchaus Passendes ausfindig
machte, nur dass es ein Neubau war, feucht und noch unfertig.
»Es wird nicht gehen, liebe Effi«, sagte Frau von Briest,
»schon einfach Gesundheitsrücksichten werden es verbieten.
Und dann, ein Geheimrat ist kein Trockenwohner.«
Effi, so sehr ihr die Wohnung gefiel, war umso einverstandener
mit diesem Bedenken, als ihr an einer raschen Erledigung überhaupt
nicht lag, ganz im Gegenteil: »Zeit gewonnen, alles gewonnen«,
und so war ihr denn ein Hinausschieben der ganzen Angelegenheit
eigentlich das Liebste, was ihr begegnen konnte. »Wir wollen
diese Wohnung aber doch im Auge behalten, Mama, sie liegt so schön
und ist im Wesentlichen das, was ich mir gewünscht habe.«
Dann fuhren beide Damen in die Stadt zurück, aßen im
Restaurant, das man ihnen empfohlen, und waren am Abend in der
Oper, wozu der Arzt unter der Bedingung, dass Frau von Briest
mehr hören als sehen wolle, die Erlaubnis gegeben hatte.
Die nächsten Tage nahmen einen ähnlichen Verlauf; man
war aufrichtig erfreut, sich wieder zu haben und nach so langer
Zeit wieder ausgiebig miteinander plaudern zu können. Effi,
die sich nicht bloß auf Zuhören und Erzählen,
sondern, wenn ihr am wohlsten war, auch auf Medisieren ganz vorzüglich
verstand, geriet mehr als einmal in ihren alten Übermut,
und die Mama schrieb nach Hause, wie glücklich sie sei, das
»Kind« wieder so heiter und lachlustig zu finden; es
wiederhole sich ihnen allen die schöne Zeit von vor fast
zwei Jahren, wo man die Ausstattung besorgt habe. Auch Vetter
Briest sei ganz der Alte. Das war nun auch wirklich der Fall,
nur mit dem Unterschiede, dass er sich seltener sehen ließ
als vordem und auf die Frage nach dem 'Warum' anscheinend
ernsthaft versicherte: »Du bist mir zu gefährlich, Kusine.«
Das gab dann jedes Mal ein Lachen bei Mutter und Tochter, und Effi
sagte: »Dagobert, du bist freilich noch sehr jung, aber zu
solcher Form des Courmachens doch nicht mehr jung genug.«
So waren schon beinah vierzehn Tage vergangen. Innstetten schrieb
immer dringlicher und wurde ziemlich spitz, fast auch gegen die
Schwiegermama, so dass Effi einsah, ein weiteres Hinausschieben
sei nicht mehr gut möglich und es müsse nun wirklich
gemietet werden. Aber was dann? Bis zum Umzuge nach Berlin waren
immer noch drei Wochen, und Innstetten drang auf rasche Rückkehr.
Es gab also nur ein Mittel: sie musste wieder eine Komödie
spielen, musste krank werden.
»Natürlich die erste, die in der Keithstraße,
die mir von Anfang an so gut gefiel und dir auch. Sie wird wohl
noch nicht ganz ausgetrocknet sein, aber es ist ja das Sommerhalbjahr,
was einigermaßen ein Trost ist. Und wird es mit der Feuchtigkeit
zu arg und kommt ein bisschen Rheumatismus, so hab ich ja
schließlich immer noch Hohen-Cremmen.«
Diese Worte der Mama kamen Effi sehr zu pass. Sie mietete
denselben Vormittag noch und schrieb eine Karte an Innstetten,
dass sie den nächsten Tag zurückwolle. Gleich danach
wurden auch wirklich die Koffer gepackt und alle Vorbereitungen
getroffen. Als dann aber der andere Morgen da war, ließ
Effi die Mama an ihr Bett rufen und sagte: »Mama, ich kann
nicht reisen. Ich habe ein solches Reißen und Ziehen, es
schmerzt mich über den ganzen Rücken hin, und ich glaube
beinah, es ist ein Rheumatismus. Ich hätte nicht gedacht,
dass das so schmerzhaft sei.«
»Nein, nicht Schweigger. Der ist ja ein Spezialist. Das geht nicht, und er
könnt es am Ende übelnehmen, in so was anderem zu Rate
gezogen zu werden. Ich denke, das Beste ist, wir warten es ab.
Es kann ja auch vorübergehen. Ich werde den ganzen Tag über
von Tee und Sodawasser leben, und wenn ich dann transpiriere,
komm ich vielleicht drüber hin.«
Effi sog sich nicht wenig Trost aus diesen Anschauungen, schrieb
ein Telegramm an Innstetten, worin sie von dem »leidigen
Zwischenfall« und einer ärgerlichen, aber doch nur momentanen
Behinderung sprach, und sagte dann zu Roswitha: »Roswitha,
du musst mir nun auch Bücher besorgen; es wird nicht
schwer halten, ich will alte, ganz alte.«
»Ein junger Doktor ist immer genant, und wenn er es nicht
ist, desto schlimmer. Aber du kannst dich beruhigen; ich komme
mit einem ganz alten, der mich schon behandelt hat, als ich noch
in der Hecker'schen Pension war, also vor etlichen zwanzig Jahren.
Und damals war er nah an fünfzig und hatte schönes graues
Haar, ganz kraus. Er war ein Damenmann, aber in den richtigen
Grenzen. Ärzte, die das vergessen, gehen unter, und es kann
auch nicht anders sein; unsere Frauen, wenigstens die aus der
Gesellschaft, haben immer noch einen guten Fond.«
Diese wollte den Vergleich ablehnen und meinte, zwanzig Jahre
und drüber seien doch eine lange Zeit; Rummschüttel
blieb aber bei seiner Behauptung, zugleich versichernd: nicht
jeder Kopf präge sich ihm ein, aber wenn er überhaupt
erst einen Eindruck empfangen habe, so bleibe der auch für
immer. »Und nun, meine gnädigste Frau von Innstetten,
wo fehlt es, wo sollen wir helfen?«
»Ach, Herr Geheimrat, ich komme in Verlegenheit, Ihnen auszudrücken,
was es ist. Es wechselt beständig. In diesem Augenblick ist
es wie weggeflogen. Anfangs habe ich an Rheumatisches gedacht,
aber ich möchte beinah glauben, es sei eine Neuralgie, Schmerzen
den Rücken entlang, und dann kann ich mich nicht aufrichten.
Mein Papa leidet an Neuralgie, da hab ich es früher beobachten
können. Vielleicht ein Erbstück von ihm.«
»Sehr wahrscheinlich«, sagte Rummschüttel, der
den Puls gefühlt und die Patientin leicht, aber doch scharf
beobachtet hatte. »Sehr wahrscheinlich, meine gnädigste
Frau.« Was er aber still zu sich selber sagte, das lautete:
»Schulkrank und mit Virtuosität gespielt; Evastochter
comme il faut.« Er ließ jedoch nichts davon merken,
sondern sagte mit allem wünschenswerten Ernst: »Ruhe
und Wärme sind das Beste, was ich anraten kann. Eine Medizin,
übrigens nichts Schlimmes, wird das Weitere tun.«
Und er erhob sich, um das Rezept aufzuschreiben: Aqua Amygdalarum
amararum eine halbe Unze, Syrupus florum Aurantii zwei Unzen.
»Hiervon, meine gnädigste Frau, bitte ich Sie, alle
zwei Stunden einen halben Teelöffel voll nehmen zu wollen.
Es wird Ihre Nerven beruhigen. Und worauf ich noch dringen möchte:
keine geistigen Anstrengungen, keine Besuche, keine Lektüre.«
Dabei wies er auf das neben ihr liegende Buch.
Effi hatte sich wundervoll gehalten, ihre Rolle gut durchgespielt.
Als sie wieder allein war - die Mama begleitete den Geheimrat
-, schoss ihr trotzdem das Blut zu Kopf; sie hatte recht
gut bemerkt, dass er ihrer Komödie mit einer Komödie
begegnet war. Er war offenbar ein überaus lebensgewandter
Herr, der alles recht gut sah, aber nicht alles sehen wollte,
vielleicht weil er wusste, dass dergleichen auch mal
zu respektieren sein könne. Denn gab es nicht zu respektierende
Komödien, war nicht die, die sie selber spielte, eine solche?
Bald danach kam die Mama zurück, und Mutter und Tochter ergingen
sich in Lobeserhebungen über den feinen alten Herrn, der
trotz seiner beinah Siebzig noch etwas Jugendliches habe. »Schicke
nur gleich Roswitha nach der Apotheke ... du sollst aber nur alle
drei Stunden nehmen, hat er mir draußen noch eigens gesagt.
So war er schon damals, er verschrieb nicht oft und nicht viel;
aber immer Energisches, und es half auch gleich.«
Rummschüttel kam den zweiten Tag und dann jeden dritten,
weil er sah, welche Verlegenheit sein Kommen der jungen Frau bereitete.
Dies nahm ihn für sie ein, und sein Urteil stand ihm nach
dem dritten Besuche fest: »Hier liegt etwas vor, was die Frau
zwingt, so zu handeln, wie sie handelt.« Über solche
Dinge den Empfindlichen zu spielen, lag längst hinter ihm.
»Sie ist ausgegangen, Herr Geheimrat, in die Keithstraße,
wo wir gemietet haben. Ich erwarte nun innerhalb weniger Tage
meinen Mann, den ich mich, wenn in unserer Wohnung erst alles
in Ordnung sein wird, herzlich freue, Ihnen vorstellen zu können.
Denn ich darf doch wohl hoffen, dass Sie auch in Zukunft
sich meiner annehmen werden.«
»Nicht im geringsten, meine gnädigste Frau. Lassen Sie
drei, vier Tage lang tüchtig heizen und immer Türen
und Fenster auf, da können Sie's wagen, auf meine Verantwortung.
Und mit Ihrer Neuralgie, das war nicht von solcher Bedeutung.
Aber ich freue mich Ihrer Vorsicht, die mir Gelegenheit gegeben
hat, eine alte Bekanntschaft zu erneuern und eine neue zu machen.«
Kaum dass er fort war, so setzte sich Effi an den Schreibtisch
und schrieb: »Lieber Innstetten! Eben war Rummschüttel
hier und hat mich aus der Kur entlassen. Ich könnte nun reisen,
morgen etwa; aber heut ist schon der 24., und am 28.
willst du hier eintreffen. Angegriffen bin ich ohnehin noch.
Ich denke, du wirst einverstanden sein, wenn ich die Reise ganz
aufgebe. Die Sachen sind ja ohnehin schon unterwegs, und wir würden,
wenn ich käme, in Hoppensacks Hotel wie Fremde leben müssen.
Auch der Kostenpunkt ist in Betracht zu ziehen, die Ausgaben werden
sich ohnehin häufen; unter anderem ist Rummschüttel
zu honorieren, wenn er uns auch als Arzt verbleibt. Übrigens
ein sehr liebenswürdiger alter Herr. Er gilt ärztlich
nicht für ersten Ranges, 'Damendoktor', sagen seine Gegner
und Neider. Aber dies Wort umschließt doch auch ein Lob;
es kann eben nicht jeder mit uns umgehen. Dass ich von den
Kessinern nicht persönlich Abschied nehme, hat nicht viel
auf sich. Bei Gieshübler war ich. Die Frau Majorin hat sich
immer ablehnend gegen mich verhalten, ablehnend bis zur Unart;
bleibt noch der Pastor und Doktor Hannemann und Crampas. Empfiehl
mich letzterem. An die Familien auf dem Lande schicke ich Karten;
Güldenklees, wie du mir schreibst, sind in Italien (was sie
da wollen, weiß ich nicht), und so bleiben nur die drei
andern. Entschuldige mich, so gut es geht. Du bist ja der Mann
der Formen und weißt das richtige Wort zu treffen. An Frau
von Padden, die mir am Silvesterabend so außerordentlich
gut gefiel, schreibe ich vielleicht selber noch und spreche ihr
mein Bedauern aus. Lass mich in einem Telegramm wissen, ob
du mit allem einverstanden bist. Wie immer deine Effi.«
Effi brachte selber den Brief zur Post, als ob sie dadurch die
Antwort beschleunigen könne, und am nächsten Vormittag
traf denn auch das erbetene Telegramm von Innstetten ein: »Einverstanden
mit allem.« Ihr Herz jubelte, sie eilte hinunter und auf
den nächsten Droschkenstand zu: »Keithstraße Ic.«
Und erst die Linden und dann die Tiergartenstraße hinunter
flog die Droschke, und nun hielt sie vor der neuen Wohnung.
Oben standen die den Tag vorher eingetroffenen Sachen noch bunt
durcheinander, aber es störte sie nicht, und als sie auf
den breiten aufgemauerten Balkon hinaustrat, lag jenseits der
Kanalbrücke der Tiergarten vor ihr, dessen Bäume schon
überall einen grünen Schimmer zeigten. Darüber
aber ein klarer blauer Himmel und eine lachende Sonne.
Drei Tage danach, ziemlich spät, um die neunte Stunde, traf
Innstetten in Berlin ein. Alles war am Bahnhof: Effi, die Mama,
der Vetter; der Empfang war herzlich, am herzlichsten vonseiten
Effis, und man hatte bereits eine Welt von Dingen durchgesprochen,
als der Wagen, den man genommen, vor der neuen Wohnung in der
Keithstraße hielt. »Ach, da hast du gut gewählt,
Effi«, sagte Innstetten, als er in das Vestibül eintrat,
»kein Haifisch, kein Krokodil und hoffentlich auch kein Spuk.«
»Nein, Geert, damit ist es nun vorbei. Nun bricht eine andere
Zeit an, und ich fürchte mich nicht mehr und will auch besser
sein als früher und dir mehr zu Willen leben.« Alles
das flüsterte sie ihm zu, während sie die teppichbedeckte
Treppe bis in den zweiten Stock hinanstiegen. Der Vetter führte
die Mama.
Oben fehlte noch manches, aber für einen wohnlichen Eindruck
war doch gesorgt, und Innstetten sprach seine Freude darüber
aus. »Effi, du bist doch ein kleines Genie«; aber diese
lehnte das Lob ab und zeigte auf die Mama, die habe das eigentliche
Verdienst. »Hier muss es stehen«, so hab es unerbittlich
geheißen, und immer habe sie's getroffen, wodurch natürlich
viel Zeit gespart und die gute Laune nie gestört worden sei.
Zuletzt kam auch Roswitha, um den Herrn zu begrüßen,
bei welcher Gelegenheit sie sagte: »Fräulein Annie ließe
sich für heute entschuldigen« - ein kleiner Witz, auf den
sie stolz war und mit dem sie auch ihren Zweck vollkommen erreichte.
»Ach, lassen wir doch das, nicht der Rede wert; ein bisschen
schmerzhaft und eine rechte Störung, weil es einen Strich
durch unsere Pläne machte. Aber mehr war es nicht, und nun
ist es vorbei. Rummschüttel hat sich bewährt, ein feiner,
liebenswürdiger alter Herr, wie ich dir, glaub ich, schon
schrieb. In seiner Wissenschaft soll er nicht gerade glänzen,
aber Mama sagt, das sei ein Vorzug. Und sie wird wohl Recht haben
wie in allen Stücken. Unser guter Doktor Hannemann war auch
kein Licht und traf es doch immer. Und nun sage, was macht Gieshübler
und die anderen alle?«
»Und der Pastor will dir desgleichen empfohlen sein; nur
die Herrschaften auf dem Lande waren ziemlich nüchtern und
schienen auch mich für deinen Abschied ohne Abschied verantwortlich
machen zu wollen. Unsere Freundin Sidonie war sogar spitz, und
nur die gute Frau von Padden, zu der ich eigens vorgestern noch
hinüberfuhr, freute sich aufrichtig über deinen Gruß
und deine Liebeserklärung an sie. 'Du seist eine reizende
Frau', sagte sie, 'aber ich sollte dich gut hüten.' Und als
ich ihr erwiderte: 'Du fändest schon, dass ich mehr ein
»Erzieher« als ein Ehemann sei', sagte sie halblaut und beinahe wie
abwesend: 'Ein junges Lämmchen weiß wie Schnee.' Und
dann brach sie ab.«
Das Gespräch, das meist zurückliegende Verhältnisse
berührte, spann sich noch eine Weile weiter, und Effi erfuhr
zuletzt aus diesem und jenem, was Innstetten mitteilte, dass
sich von dem ganzen Kessiner Hausstande nur Johanna bereit erklärt
habe, die Übersiedlung nach Berlin mitzumachen. Sie sei natürlich
noch zurückgeblieben, werde aber in zwei, drei Tagen mit
dem Rest der Sachen eintreffen; er sei froh über ihren Entschluss,
denn sie sei immer die Brauchbarste gewesen und von einem ausgesprochenen
großstädtischen Schick. Vielleicht ein bisschen
zu sehr. Christel und Friedrich hätten sich beide für
zu alt erklärt, und mit Kruse zu verhandeln, habe sich von
vornherein verboten. »Was soll uns ein Kutscher hier?«,
schloss Innstetten. »Pferd und Wagen, das sind tempi
passati, mit diesem Luxus ist es in Berlin vorbei. Nicht einmal
das schwarze Huhn hätten wir unterbringen können. Oder
unterschätz ich die Wohnung?«
Effi schüttelte den Kopf, und als eine kleine Pause eintrat,
erhob sich die Mama; es sei bald elf und sie habe noch einen
weiten Weg, übrigens solle sie niemand begleiten, der Droschkenstand
sei ja nah - ein Ansinnen, das Vetter Briest natürlich ablehnte.
Bald darauf trennte man sich, nachdem noch Rendezvous für
den anderen Vormittag verabredet war.
Effi war ziemlich früh auf und hatte - die Luft war beinahe
sommerlich warm - den Kaffeetisch bis nahe an die geöffnete
Balkontür rücken lassen, und als Innstetten nun auch
erschien, trat sie mit ihm auf den Balkon hinaus und sagte: »Nun,
was sagst du? Du wolltest den Finkenschlag aus dem Tiergarten
hören und die Papageien aus dem Zoologischen.
Ich weiß nicht, ob beide dir den Gefallen tun werden, aber
möglich ist es. Hörst du wohl? Das kam von drüben,
drüben aus dem kleinen Park. Es ist nicht der eigentliche
Tiergarten, aber doch beinah.«
Innstetten war entzückt und von einer Dankbarkeit, als ob
Effi ihm das alles persönlich herangezaubert habe. Dann setzten
sie sich und nun kam auch Annie. Roswitha verlangte, dass
Innstetten eine große Veränderung an dem Kinde finden
solle, was er denn auch schließlich tat. Und dann plauderten
sie weiter, abwechselnd über die Kessiner und die in Berlin
zu machenden Visiten und ganz zuletzt auch über eine Sommerreise.
Mitten im Gespräch aber mussten sie abbrechen, um rechtzeitig
beim Rendezvous erscheinen zu können.
Man traf sich, wie verabredet, bei Helms gegenüber dem roten
Schloss, besuchte verschiedene Läden, aß bei Hiller
und war bei guter Zeit wieder zu Haus. Es war ein gelungenes Beisammensein
gewesen. Innstetten herzlich froh, das großstädtische
Leben wieder mitmachen und auf sich wirken lassen zu können.
Tags darauf, am 1. April, begab er sich in das Kanzlerpalais,
um sich einzuschreiben (eine persönliche Gratulation unterließ
er aus Rücksicht), und ging dann aufs Ministerium, um sich
da zu melden. Er wurde auch angenommen, trotzdem es ein geschäftlich
und gesellschaftlich sehr unruhiger Tag war, ja, sah sich seitens
seines Chefs durch besonders entgegenkommende Liebenswürdigkeit
ausgezeichnet. »Er wisse, was er an ihm habe und sei sicher, ihr
Einvernehmen nie gestört zu sehen.«
Auch im Hause gestaltete sich alles zum Guten. Ein aufrichtiges
Bedauern war es für Effi, die Mama, nachdem diese, wie gleich
anfänglich vermutet, fast sechs Wochen lang in Kur gewesen,
nach Hohen-Cremmen zurückkehren zu sehen, ein Bedauern, das
nur dadurch einigermaßen gemildert wurde, dass sich
Johanna denselben Tag noch in Berlin einstellte. Das war immerhin
was, und wenn die hübsche Blondine dem Herzen Effis auch
nicht ganz so nahe stand wie die ganz selbstsuchtslose und unendlich
gutmütige Roswitha, so war sie doch gleichmäßig
angesehen, ebenso bei Innstetten wie bei ihrer jungen Herrin,
weil sie sehr geschickt und brauchbar und der Männerwelt
gegenüber von einer ausgesprochenen und selbstbewussten
Reserviertheit war. Einem Kessiner on dit zufolge ließen
sich die Wurzeln ihrer Existenz auf eine längst pensionierte
Größe der Garnison Pasewalk zurückführen,
woraus man sich auch ihre vornehme Gesinnung, ihr schönes
blondes Haar und die besondere Plastik ihrer Gesamterscheinung
erklären wollte. Johanna selbst teilte die Freude, die man
allerseits über ihr Eintreffen empfand, und war durchaus
einverstanden damit, als Hausmädchen und Jungfer, ganz wie
früher, den Dienst bei Effi zu übernehmen, während
Roswitha, die der Christel in beinahe Jahresfrist ihre Kochkünste
so ziemlich abgelernt hatte, dem Küchendepartement vorstehen
sollte. Annies Abwartung und Pflege fiel Effi selber zu, worüber
Roswitha freilich lachte. Denn sie kannte die jungen Frauen.
Innstetten lebte ganz seinem Dienst und seinem Haus. Er war glücklicher
als vordem in Kessin, weil ihm nicht entging, dass Effi sich
unbefangener und heiterer gab. Und das konnte sie, weil sie sich
freier fühlte. Wohl blickte das Vergangene noch in ihr Leben
hinein, aber es ängstigte sie nicht mehr oder doch um vieles
seltener und vorübergehender, und alles, was davon noch in
ihr nachzitterte, gab ihrer Haltung einen eigenen Reiz. In jeglichem,
was sie tat, lag etwas Wehmütiges, wie eine Abbitte, und
es hätte sie glücklich gemacht, dies alles noch deutlicher
zeigen zu können. Aber das verbot sich freilich.
Das gesellschaftliche Leben der großen Stadt war, als sie
während der ersten Aprilwochen ihre Besuche machten, noch
nicht vorüber, wohl aber im Erlöschen, und so kam es
für sie zu keiner rechten Teilnahme mehr daran. In der zweiten
Hälfte des Mai starb es dann ganz hin, und mehr noch als
vorher war man glücklich, sich in der Mittagsstunde, wenn
Innstetten von seinem Ministerium kam, im Tiergarten treffen oder
nachmittags einen Spaziergang nach dem Charlottenburger Schlossgarten
machen zu können. Effi sah sich, wenn sie die lange Front
zwischen dem Schloss und den Orangeriebäumen auf- und
abschritt, immer wieder die massenhaft dort stehenden römischen
Kaiser an, fand eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen
Nero und Titus, sammelte Tannenäpfel, die von den Trauertannen
gefallen waren, und ging dann Arm in Arm mit ihrem Manne bis
auf das nach der Spree hin einsam gelegene »Belvedere«
zu.
Effi meinte dann schließlich, es lieber doch lassen zu wollen,
und unter allerhand kleinem Geplauder, in welchem die Reisepläne
für den Sommer mehr und mehr Platz gewannen, fuhren sie bis
an den großen Stern zurück und gingen dann
durch die Korso-Allee und die breite Friedrich-Wilhelms-Straße
auf ihre Wohnung zu.
Sie hatten vor, schon Ende Juli Urlaub zu nehmen und ins bayerische
Gebirge zu gehen, wo gerade in diesem Jahre wieder die Oberammergauer
Spiele stattfanden. Es ließ sich aber nicht tun; Geheimrat
von Wüllersdorf, den Innstetten schon von früher her
kannte und der jetzt sein Spezialkollege war, erkrankte plötzlich,
und Innstetten musste bleiben und ihn vertreten. Erst Mitte
August war alles wieder beglichen und damit die Reisemöglichkeit
gegeben; es war aber nun zu spät geworden, um noch nach Oberammergau
zu gehen, und so entschied man sich für einen Aufenthalt
auf Rügen. »Zunächst natürlich Stralsund
mit Schill, den du kennst, und mit Scheele, den du nicht kennst
und der den Sauerstoff entdeckte, was man aber nicht zu wissen
braucht. Und dann von Stralsund nach Bergen und dem Rugard, von
wo man, wie mir Wüllersdorf sagte, die ganze Insel übersehen
kann, und dann zwischen dem Großen und Kleinen Jasmunder Bodden
hin bis nach Sassnitz. Denn nach Rügen reisen heißt
nach Sassnitz reisen. Binz ginge vielleicht auch noch, aber
da sind - ich muss Wüllersdorf noch einmal zitieren
- so viele kleine Steinchen und Muschelschalen am Strande, und
wir wollen doch baden.«
Effi war einverstanden mit allem, was vonseiten Innstettens geplant
wurde, vor allem auch damit, dass der ganze Hausstand auf
vier Wochen aufgelöst werden und Roswitha mit Annie nach Hohen-Cremmen,
Johanna aber zu ihrem etwas jüngeren Halbbruder reisen sollte,
der bei Pasewalk eine Schneidemühle hatte. So war alles gut
untergebracht. Mit Beginn der nächsten Woche brach man denn
auch wirklich auf, und am selben Abende noch war man in Sassnitz.
Über dem Gasthause stand »Hotel Fahrenheit«. »Die
Preise hoffentlich nach Réaumur«, setzte Innstetten,
als er den Namen las, hinzu, und in bester Laune machten beide
noch einen Abendspaziergang an dem Klippenstrande hin und sahen
von einem Felsenvorsprung aus auf die stille, vom Mondschein überzitterte
Bucht. Effi war entzückt. »Ach, Geert, das ist ja Capri,
das ist ja Sorrent. Ja, hier bleiben wir. Aber natürlich
nicht im Hotel; die Kellner sind mir zu vornehm und man geniert
sich, um eine Flasche Sodawasser zu bitten ...«
Schön wie der Abend war der Morgen, und man nahm das Frühstück
im Freien. Innstetten empfing etliche Briefe, die schnell erledigt
werden mussten, und so beschloss Effi, die für
sie frei gewordene Stunde sofort zur Wohnungssuche zu benutzen.
Sie ging erst an einer eingepferchten Wiese, dann an Häusergruppen
und Haferfeldern vorüber und bog zuletzt in einen Weg ein,
der schluchtartig auf das Meer zulief. Da, wo dieser Schluchtenweg
den Strand traf, stand ein von hohen Buchen überschattetes
Gasthaus, nicht so vornehm wie das Fahrenheit'sche, mehr ein bloßes
Restaurant, in dem der frühen Stunde halber noch alles
leer war. Effi nahm an einem Aussichtspunkte Platz, und kaum dass
sie von dem Sherry, den sie bestellt, genippt hatte, so trat auch
schon der Wirt an sie heran, um halb aus Neugier und halb aus
Artigkeit ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen.
Effi war froh, das Gespräch allein geführt zu haben,
und als sie bald danach ihrem Manne Bericht erstattet und nur
den Namen des an Sassnitz angrenzenden Dorfes verschwiegen
hatte, sagte dieser: »Nun, wenn es hier herum nichts gibt,
so wird es das Beste sein, wir nehmen einen Wagen (wodurch man
sich beiläufig einem Hotel immer empfiehlt) und übersiedeln
ohne weiteres da höher hinauf, nach Stubbenkammer hin. Irgendwas
Idyllisches mit einer Geisblattlaube wird sich da wohl finden
lassen, und finden wir nichts, so bleibt uns immer noch das Hotel
selbst. Eins ist schließlich wie das andere.«
Effi war einverstanden, und gegen Mittag schon erreichten sie
das neben Stubbenkammer gelegene Gasthaus, von dem Innstetten
eben gesprochen, und bestellten daselbst einen Imbiss. »Aber
erst nach einer halben Stunde; wir haben vor, zunächst noch
einen Spaziergang zu machen und uns den Herthasee anzusehen. Ein
Führer ist doch wohl da?«
»Lass uns gehen«, sagte Effi, und den Arm ihres
Mannes nehmend, ging sie mit ihm wieder auf das Gasthaus zurück,
wo nun an einer Stelle mit weitem Ausblick auf das Meer das
vorher bestellte Frühstück aufgetragen wurde. Die Bucht
lag im Sonnenlichte vor ihnen, einzelne Segelboote glitten darüber
hin, und um die benachbarten Klippen haschten sich die Möwen.
Es war sehr schön, auch Effi fand es, aber wenn sie dann
über die glitzernde Fläche hinwegsah, bemerkte sie
nach Süden zu wieder die hell aufleuchtenden Dächer
des langgestreckten Dorfes, dessen Name sie heute früh so
sehr erschreckt hatte.
»Ich denke, wir bleiben noch einen Tag und warten das Dampfschiff
ab, das, wenn ich nicht irre, morgen von Stettin kommt und nach
Kopenhagen hinüberfährt. Da soll es ja so vergnüglich
sein, und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich nach
etwas Vergnüglichem sehne. Hier ist mir, als ob ich in meinem
ganzen Leben nicht mehr lachen könnte und überhaupt
nie gelacht hätte, und du weißt doch, wie gern ich
lache.«
Und so warteten sie denn das Stettiner Schiff ab und trafen am
dritten Tage in aller Frühe in Kopenhagen ein, wo sie auf
Kongens Nytorv Wohnung nahmen. Zwei Stunden später waren
sie schon im Thorwaldsen-Museum, und Effi sagte: »Ja, Geert,
das ist schön, und ich bin glücklich, dass wir
uns hierher auf den Weg gemacht haben.« Bald danach gingen
sie zu Tisch und machten an der Table d'hote die Bekanntschaft
einer ihnen gegenübersitzenden jütländischen Familie,
deren bildschöne Tochter, Thora von Penz, ebenso Innstettens
wie Effis beinah bewundernde Aufmerksamkeit sofort in Anspruch
nahm. Effi konnte sich nicht satt sehen an den großen blauen
Augen und dem flachsblonden Haar, und als man sich nach anderthalb
Stunden von Tisch erhob, wurde seitens der Penz'schen Familie -
die leider denselben Tag noch Kopenhagen wieder verlassen musste
- die Hoffnung ausgesprochen, das junge preußische Paar
mit nächstem in Schloss Aggerhuus (eine halbe Meile
vom Limfjord) begrüßen zu dürfen, eine Einladung,
die von den Innstettens auch ohne langes Zögern angenommen
wurde. So vergingen die Stunden im Hotel. Aber damit war es nicht
genug des Guten an diesem denkwürdigen Tage, von dem Effi
denn auch versicherte, dass er im Kalender rot angestrichen
werden müsse. Der Abend brachte, das Maß des Glücks
voll zu machen, eine Vorstellung im Tivoli-Theater: eine italienische Pantomime,
Arlequin und Colombine. Effi war wie berauscht von den kleinen Schelmereien,
und als sie spät am Abend nach ihrem Hotel zurückkehrten, sagte
sie: »Weißt du, Geert, nun fühl ich doch, dass
ich allmählich wieder zu mir komme. Von der schönen
Thora will ich gar nicht erst sprechen; aber wenn ich bedenke,
heute Vormittag Thorwaldsen und heute Abend diese Colombine ...
«
»Offen gestanden, ja. Ich habe nun mal den Sinn für
dergleichen. Unser gutes Kessin war ein Unglück für
mich. Alles fiel mir da auf die Nerven. Rügen beinah auch.
Ich denke, wir bleiben noch ein paar Tage hier in Kopenhagen,
natürlich mit Ausflug nach Frederiksborg und Helsingör,
und dann nach Jütland hinüber; ich freue mich aufrichtig,
die schöne Thora wiederzusehen, und wenn ich ein Mann wäre,
so verliebte ich mich in sie.«
So verlief denn auch die Reise. Drüben in Jütland fuhren
sie den Limfjord hinauf bis Schloss Aggerhuus, wo sie drei
Tage bei der Penz'schen Familie verblieben, und kehrten dann mit
vielen Stationen und kürzeren und längeren Aufenthalten
in Viborg, Flensburg, Kiel über Hamburg (das ihnen ungemein
gefiel) in die Heimat zurück - nicht direkt nach Berlin in
die Keithstraße, wohl aber vorher nach Hohen-Cremmen, wo
man sich nun einer wohlverdienten Ruhe hingeben wollte, für
Innstetten bedeutete das nur wenige Tage, da sein Urlaub abgelaufen
war, Effi blieb aber noch eine Woche länger und sprach es
aus, erst zum dritten Oktober, ihrem Hochzeitstage, wieder zu Hause
eintreffen zu wollen.
Annie war in der Landluft prächtig gediehen, und was Roswitha
geplant hatte, dass sie der Mama in Stiefelchen entgegenlaufen
sollte, das gelang auch vollkommen. Briest gab sich als zärtlicher
Großvater, warnte vor zu viel Liebe, noch mehr vor zu viel
Strenge, und war in allem der alte. Eigentlich aber galt all seine
Zärtlichkeit doch nur Effi, mit der er sich in seinem Gemüt
immer beschäftigte, zumeist auch, wenn er mit seiner Frau
allein war.
»Ja«, sagte Briest, »sie hat von dieser Tugend
mehr als mir lieb ist. Eigentlich ist es, als wäre dies
hier immer noch ihre Heimstätte. Sie hat doch den Mann und
das Kind, und der Mann ist ein Juwel und das Kind ist ein Engel,
aber dabei tut sie, als wäre Hohen-Cremmen immer noch die
Hauptsache für sie und Mann und Kind kämen gegen uns
beide nicht an. Sie ist eine prächtige Tochter, aber sie
ist es mir zu sehr. Es ängstigt mich ein bisschen. Und
ist auch ungerecht gegen Innstetten. Wie steht es denn eigentlich
damit?«
»Nun, ich meine, was ich meine, und du weißt auch was.
Ist sie glücklich? Oder ist da doch irgendwas im Wege? Von
Anfang an war mir's so, als ob sie ihn mehr schätze als liebe.
Und das ist in meinen Augen ein schlimm Ding. Liebe hält
auch nicht immer vor, aber Schätzung gewiss nicht. Eigentlich
ärgern sich die Weiber, wenn sie wen schätzen müssen;
erst ärgern sie sich, und dann langweilen sie sich, und zuletzt
lachen sie.«
»Ja, Briest, du kommst immer auf diese Dinge zurück.
Da reicht ja kein Dutzend Mal, dass wir darüber gesprochen
und unsere Meinungen ausgetauscht haben, und immer bist du wieder
da mit deinem Alles-wissen-Wollen und fragst dabei so schrecklich
naiv, als ob ich in alle Tiefen sähe. Was hast du nur für
Vorstellungen von einer jungen Frau und ganz speziell von deiner
Tochter? Glaubst du, dass das alles so plan daliegt? Oder
dass ich ein Orakel bin (ich kann mich nicht gleich auf den
Namen der Person besinnen) oder dass ich die Wahrheit sofort
klipp und klar in den Händen halte, wenn mir Effi ihr Herz
ausgeschüttet hat? Oder was man wenigstens so nennt. Denn
was heißt ausschütten? Das Eigentliche bleibt doch
zurück. Sie wird sich hüten, mich in ihre Geheimnisse
einzuweihen. Außerdem, ich weiß nicht, von wem sie's
hat, sie ist ... ja, sie ist eine sehr schlaue kleine Person,
und diese Schlauheit an ihr ist umso gefährlicher, weil
sie so sehr liebenswürdig ist.«
»Ja, das mein ich. Übrigens glaube ich, dass sich
vieles gebessert hat. Ihr Charakter ist, wie er ist, aber die
Verhältnisse liegen seit ihrer Übersiedlung um vieles
günstiger und sie leben sich mehr und mehr ineinander ein.
Sie hat mir so was gesagt, und was mir wichtiger ist, ich hab
es auch bestätigt gefunden, mit Augen gesehen.«
»Sie sagte: Mama, es geht jetzt besser. Innstetten war immer
ein vortrefflicher Mann, so einer, wie's nicht viele gibt, aber
ich konnte nicht recht an ihn heran, er hatte so was Fremdes.
Und fremd war er auch in seiner Zärtlichkeit. Ja, dann am
meisten; es hat Zeiten gegeben, wo ich mich davor fürchtete.«
»Nun also, sie gestand mir, dass dies Gefühl des
Fremden sie verlassen habe, was sie sehr glücklich mache.
Kessin sei nicht der rechte Platz für sie gewesen, das spukige
Haus und die Menschen da, die einen zu fromm, die andern zu platt;
aber seit ihrer Übersiedlung nach Berlin fühle sie sich
ganz an ihrem Platz. Er sei der beste Mensch, etwas zu alt für
sie und zu gut für sie, aber sie sei nun über den Berg.
Sie brauchte diesen Ausdruck, der mir allerdings auffiel.«
Dies Gespräch führten Briest und Frau an demselben Tage,
wo Innstetten von Hohen-Cremmen nach Berlin hin abgereist war,
Effi auf wenigstens noch eine Woche zurücklassend. Er wusste,
dass es nichts Schöneres für sie gab, als so sorglos
in einer weichen Stimmung hinträumen zu können, immer
freundliche Worte zu hören und die Versicherung, wie liebenswürdig
sie sei. Ja, das war das, was ihr vor allem wohl tat, und sie genoss
es auch diesmal wieder in vollen Zügen und aufs Dankbarste,
trotzdem jede Zerstreuung fehlte; Besuch kam selten, weil es seit
ihrer Verheiratung wenigstens für die junge Welt an dem
rechten Anziehungspunkte gebrach, und selbst die Pfarre und die
Schule waren nicht mehr das, was sie noch vor Jahr und Tag gewesen
waren. Zumal im Schulhause stand alles halb leer. Die Zwillinge
hatten sich im Frühjahr an zwei Lehrer in der Nähe von
Genthin verheiratet, große Doppelhochzeit mit Festbericht
im »Anzeiger fürs Havelland«, und Hulda war in
Friesack zur Pflege einer alten Erbtante, die sich übrigens
wie gewöhnlich in solchen Fällen um sehr viel langlebiger
erwies, als Niemeyers angenommen hatten. Hulda schrieb aber trotzdem
immer zufriedene Briefe, nicht weil sie wirklich zufrieden war
(im Gegenteil), sondern weil sie den Verdacht nicht aufkommen
lassen wollte, dass es einem so ausgezeichneten Wesen anders
als sehr gut ergehen könne. Niemeyer, ein schwacher Vater,
zeigte die Briefe mit Stolz und Freude, während der ebenfalls
ganz in seinen Töchtern lebende Jahnke sich herausgerechnet
hatte, dass beide junge Frauen am selben Tage, und zwar am
Weihnachtsheiligabend, ihre Niederkunft halten würden. Effi
lachte herzlich und drückte dem Großvater in spe zunächst
den Wunsch aus, bei beiden Enkeln zu Gevatter geladen zu werden,
ließ dann aber die Familienthemata fallen und erzählte
von »Kjöbenhavn« und Helsingör, vom Limfjord
und Schloss Aggerhuus und vor allem von Thora von Penz, die,
wie sie nur sagen könne, »typisch skandinavisch«
gewesen sei, blauäugig, flachsen und immer in einer roten
Plüschtaille, wobei sich Jahnke verklärte und einmal
über das andere sagte: »Ja, so sind sie; rein germanisch,
viel deutscher als die Deutschen.«
An ihrem Hochzeitstage, dem dritten Oktober, wollte Effi wieder
in Berlin sein. Nun war es der Abend vorher, und unter dem Vorgeben,
dass sie packen und alles zur Rückreise vorbereiten
wolle, hatte sie sich schon verhältnismäßig früh
auf ihr Zimmer zurückgezogen. Eigentlich lag ihr aber nur
daran, allein zu sein; so gern sie plauderte, so hatte sie doch
auch Stunden, wo sie sich nach Ruhe sehnte.
Die von ihr im Oberstock bewohnten Zimmer lagen nach dem Garten
hinaus; in dem kleineren schlief Roswitha und Annie, die Tür
nur angelehnt, in dem größeren, das sie selber innehatte,
ging sie auf und ab; die unteren Fensterflügel waren geöffnet,
und die kleinen weißen Gardinen bauschten sich in dem Zuge,
der ging, und fielen dann langsam über die Stuhllehne, bis
ein neuer Zugwind kam und sie wieder freimachte. Dabei war es
so hell, dass man die Unterschriften unter den über
dem Sofa hängenden und in schmale Goldleisten eingerahmten
Bildern deutlich lesen konnte: »Der Sturm auf Düppel,
Schanze V« und daneben: »König Wilhelm und Graf
Bismarck auf der Höhe von Lipa«. Effi schüttelte
den Kopf und lächelte. »Wenn ich wieder hier bin, bitt ich
mir andere Bilder aus; ich kann so was Kriegerisches nicht leiden.«
Und nun schloss sie das eine Fenster und setzte sich an das andere, dessen
Flügel sie offen ließ. Wie tat ihr das alles so wohl. Neben dem
Kirchturm stand der Mond und warf sein Licht auch auf den Rasenplatz
mit der Sonnenuhr und den Heliotropbeeten. Alles schimmerte silbern,
und neben den Schattenstreifen lagen weiße Lichtstreifen,
so weiß, als läge Leinwand auf der Bleiche. Weiterhin
aber standen die hohen Rhabarberstauden wieder, die Blätter
herbstlich gelb, und sie musste des Tages gedenken, nun erst
wenig über zwei Jahre, wo sie hier mit Hulda und den Jahnke'schen
Mädchen gespielt hatte. Und dann war sie, als der Besuch
kam, die kleine Steintreppe neben der Bank hinaufgestiegen, und
eine Stunde später war sie Braut.
Und mit einem Male, während sie das Kind so vor sich hatte,
traten ungerufen allerlei Bilder aus den Kessiner Tagen wieder
vor ihre Seele: das landrätliche Haus mit seinem Giebel und
die Veranda mit dem Blick auf die Plantage, und sie saß
im Schaukelstuhl und wiegte sich; und nun trat Crampas an sie
heran, um sie zu begrüßen, und dann kam Roswitha mit
dem Kinde, und sie nahm es und hob es hoch in die Höhe und
küsste es.
»Und habe die Schuld auf meiner Seele«, wiederholte
sie. »Ja, da hab ich sie. Aber lastet sie auch
auf meiner Seele? Nein. Und das ist es, warum ich vor mir selbst
erschrecke. Was da lastet, das ist etwas ganz anderes - Angst,
Todesangst und die ewige Furcht: es kommt doch am Ende noch an
den Tag. Und dann außer der Angst ... Scham. Ich schäme
mich. Aber wie ich nicht die rechte Reue habe, so hab ich auch
nicht die rechte Scham. Ich schäme mich bloß von wegen
dem ewigen Lug und Trug; immer war es mein Stolz, dass ich
nicht lügen könne und auch nicht zu lügen brauche,
lügen ist so gemein, und nun habe ich doch immer lügen
müssen, vor ihm und vor aller Welt, im Großen und im
Kleinen, und Rummschüttel hat es gemerkt und hat die Achseln
gezuckt, und wer weiß was er von mir denkt, jedenfalls
nicht das Beste. Ja, Angst quält mich und dazu Scham über
mein Lügenspiel. Aber Scham über meine Schuld, die hab
ich nicht oder doch nicht so recht oder doch nicht genug,
und das bringt mich um, dass ich sie nicht habe. Wenn alle
Weiber so sind, dann ist es schrecklich, und wenn sie nicht so
sind, wie ich hoffe, dann steht es schlecht um mich, dann ist
etwas nicht in Ordnung in meiner Seele, dann fehlt mir das richtige
Gefühl. Und das hat mir der alte Niemeyer in seinen guten
Tagen noch, als ich noch ein halbes Kind war, mal gesagt: auf
ein richtiges Gefühl, darauf käme es an, und wenn man
das habe, dann könne einem das Schlimmste nicht passieren,
und wenn man es nicht habe, dann sei man in einer ewigen Gefahr,
und das, was man den Teufel nenne, das habe dann eine sichere
Macht über uns. Um Gottes Barmherzigkeit willen, steht es
so mit mir?«
So verging eine Weile. Herüber von der Dorfstraße klang
ein Geplärr: der alte Nachtwächter Kulicke rief die
Stunden ab, und als er zuletzt schwieg, vernahm sie von fernher,
aber immer näher kommend, das Rasseln des Zuges, der auf
eine halbe Meile Entfernung an Hohen-Cremmen vorüberfuhr.
Dann wurde der Lärm wieder schwächer, endlich erstarb
er ganz und nur der Mondschein lag noch auf dem Grasplatz, und
nur auf die Platanen rauschte es nach wie vor wie leiser Regen
nieder.
Sie mochte nicht sagen »ich war krank«, und Innstetten
hörte drüber hin. Er hatte seinen Kopf auch voll anderer
Dinge, die sich auf sein Amt und seine gesellschaftliche Stellung
bezogen. »Eigentlich, Effi, fängt unser Berliner Leben
nun erst an. Als wir im April hier einzogen, damals ging es mit
der Saison auf die Neige, kaum noch dass wir unsere Besuche
machen konnten, und Wüllersdorf, der Einzige, dem wir näher standen
- nun, der ist leider Junggeselle. Von Juni an schläft dann
alles ein, und die heruntergelassenen Rouleaus verkünden einem
schon auf hundert Schritt 'Alles ausgeflogen'; ob wahr oder nicht,
macht keinen Unterschied ... Ja, was blieb da noch? Mal mit Vetter
Briest sprechen, mal bei Hiller essen, das ist kein richtiges
Berliner Leben. Aber nun soll es anders werden. Ich habe mir die
Namen aller Räte notiert, die noch mobil genug sind, um ein
Haus zu machen. Und wir wollen es auch, wollen auch ein Haus machen,
und wenn der Winter dann da ist, dann soll es im ganzen Ministerium
heißen: 'Ja, die liebenswürdigste Frau, die wir jetzt
haben, das ist doch die Frau von Innstetten'.«
Innstetten war ernsthaft gewillt, auf das stille Leben, das er
in seiner landrätlichen Stellung geführt, ein gesellschaftlich
angeregteres folgen zu lassen, um seinet- und noch mehr um Effis
willen; es ließ sich aber anfangs nur schwach und vereinzelt
damit an, die rechte Zeit war noch nicht gekommen, und das Beste,
was man zunächst von dem neuen Leben hatte, war genauso wie
während des zurückliegenden Halbjahres, ein Leben im
Hause. Wüllersdorf kam oft, auch Vetter Briest, und waren
die da, so schickte man zu Gizickis hinauf, einem jungen Ehepaare,
das über ihnen wohnte. Gizicki selbst war Landgerichtsrat,
seine kluge, aufgeweckte Frau ein Fräulein von Schmettau.
Mitunter wurde musiziert, kurze Zeit sogar ein Whist versucht;
man gab es aber wieder auf, weil man fand, dass eine Plauderei
gemütlicher wäre. Gizickis hatten bis vor kurzem in
einer kleinen oberschlesischen Stadt gelebt, und Wüllersdorf
war sogar, freilich vor einer Reihe von Jahren schon, in den verschiedensten
kleinen Nestern der Provinz Posen gewesen, weshalb er denn auch
den bekannten Spottvers:
|
Schrimm
Ist schlimm,
Rogasen
Zum Rasen,
Aber weh dir nach Samter
Verdammter -
|
Solche Beängstigungen blieben ihr auch. Aber sie kamen doch
seltener und schwächer, was bei der Art, wie sich ihr Leben
gestaltete, nicht wundernehmen konnte. Die Liebe, mit der ihr
nicht nur Innstetten, sondern auch ferner stehende Personen begegneten,
und nicht zum wenigsten die beinah zärtliche Freundschaft,
die die Ministerin, eine selbst noch junge Frau, für sie
an den Tag legte - all das ließ die Sorgen und Ängste
zurückliegender Tage sich wenigstens mindern, und als ein
zweites Jahr ins Land gegangen war und die Kaiserin bei Gelegenheit
einer neuen Stiftung die »Frau Geheimrätin« mit
ausgewählt und in die Zahl der Ehrendamen eingereiht, der
alte Kaiser Wilhelm aber auf dem Hofball gnädige, huldvolle
Worte an die schöne, junge Frau, »von der er schon gehört
habe«, gerichtet hatte, da fiel es allmählich von ihr ab.
Es war einmal gewesen, aber weit, weit weg, wie auf einem andern
Stern, und alles löste sich wie ein Nebelbild und wurde Traum.
Die Hohen-Cremmener kamen dann und wann auf Besuch und freuten
sich des Glücks der Kinder, Annie wuchs heran - »schön
wie die Großmutter«, sagte der alte Briest -, und wenn
es an dem klaren Himmel eine Wolke gab, so war es die, dass
es, wie man nun beinahe annehmen musste, bei Klein-Annie
sein Bewenden haben werde; Haus Innstetten (denn es gab nicht
einmal Namensvettern) stand also mutmaßlich auf dem Aussterbeetat.
Briest, der den Fortbestand anderer Familien obenhin behandelte,
weil er eigentlich nur an die Briests glaubte, scherzte mitunter
darüber und sagte: »Ja, Innstetten, wenn das so weitergeht,
so wird Annie seinerzeit wohl einen Bankier heiraten (hoffentlich
einen christlichen, wenn's deren dann noch gibt), und mit Rücksicht
auf das alte freiherrliche Geschlecht der Innstetten wird dann
Seine Majestät Annies Haute-finance-Kinder unter dem Namen
'von der Innstetten' im Gothaischen Kalender oder, was weniger
wichtig ist, in der preußischen Geschichte fortleben lassen«
- Ausführungen, die von Innstetten selbst immer mit einer
kleinen Verlegenheit, von Frau von Briest mit Achselzucken, von
Effi dagegen mit Heiterkeit aufgenommen wurden. Denn so adelsstolz
sie war, so war sie's doch nur für ihre Person, und ein eleganter
und welterfahrener und vor allem sehr, sehr reicher Bankierschwiegersohn
wäre durchaus nicht gegen ihre Wünsche gewesen.
Ja, Effi nahm die Erbfolgefrage leicht, wie junge, reizende Frauen
das tun; als aber eine lange, lange Zeit - sie waren schon im
siebenten Jahre in ihrer neuen Stellung - vergangen war, wurde
der alte Rummschüttel, der auf dem Gebiete der Gynäkologie
nicht ganz ohne Ruf war, durch Frau von Briest doch schließlich
zu Rate gezogen. Er verordnete Schwalbach. Weil aber Effi seit
letztem Winter auch an katarrhalischen Affektionen litt und ein
paar Mal sogar auf Lunge hin behorcht worden war, so hieß
es abschließend: »Also zunächst Schwalbach, meine
Gnädigste, sagen wir drei Wochen, und dann ebenso lange Ems.
Bei der Emser Kur kann aber der Geheimrat zugegen sein. Bedeutet
mithin alles in allem drei Wochen Trennung. Mehr kann ich für
Sie nicht tun, lieber Innstetten.«
Damit war man denn auch einverstanden, und zwar sollte Effi, dahin
ging ein weiterer Beschluss, die Reise mit einer Geheimrätin
Zwicker zusammen machen, wie Briest sagte, »zum Schutz dieser
letzteren«, worin er nicht ganz Unrecht hatte, da die Zwicker,
trotz guter vierzig, eines Schutzes erheblich bedürftiger
war als Effi. Innstetten, der wieder viel mit Vertretung zu tun
hatte, beklagte, dass er, von Schwalbach gar nicht zu reden,
wahrscheinlich auch auf gemeinschaftliche Tage in Ems werde verzichten
müssen. Im Übrigen wurde der 24. Juni (Johannistag)
als Abreisetag festgesetzt, und Roswitha half der gnädigen
Frau beim Packen und Aufschreiben der Wäsche. Effi hatte
noch immer die alte Liebe für sie, war doch Roswitha die
Einzige, mit der sie von all dem Zurückliegenden, von Kessin
und Crampas, von dem Chinesen und Kapitän Thomsens Nichte
frei und unbefangen reden konnte.
Effi war nun schon in die fünfte Woche fort und schrieb glückliche,
beinahe übermütige Briefe, namentlich seit ihrem Eintreffen
in Ems, wo man doch unter Menschen sei, das heißt unter
Männern, von denen sich in Schwalbach nur ausnahmsweise was
gezeigt habe. Geheimrätin Zwicker, ihre Reisegefährtin,
habe freilich die Frage nach dem Kurgemäßen dieser
Zutat aufgeworfen und sich aufs Entschiedenste dagegen ausgesprochen,
alles natürlich mit einem Gesichtsausdrucke, der so ziemlich
das Gegenteil versichert habe; die Zwicker sei reizend, etwas
frei, wahrscheinlich sogar mit einer Vergangenheit, aber höchst
amüsant, und man könne viel, sehr viel von ihr lernen;
nie habe sie sich, trotz ihrer fünfundzwanzig, so als Kind
gefühlt wie nach der Bekanntschaft mit dieser Dame. Dabei
sei sie so belesen, auch in fremder Literatur, und als sie - Effi -
beispielsweise neulich von Nana gesprochen und dabei gefragt habe,
ob es denn wirklich so schrecklich sei, habe die Zwicker geantwortet:
»Ach, meine liebe Baronin, was heißt schrecklich? Da
gibt es noch ganz anderes.« »Sie schien mich auch«,
so schloss Effi ihren Brief, »mit diesem 'anderen' bekannt
machen zu wollen. Ich habe es aber abgelehnt, weil ich weiß,
dass du die Unsitte unserer Zeit aus diesem und Ähnlichem
herleitest, und wohl mit Recht. Leicht ist es mir aber nicht geworden.
Dazu kommt noch, dass Ems in einem Kessel liegt. Wir leiden
hier außerordentlich unter der Hitze.«
Innstetten hatte diesen letzten Brief mit geteilten Empfindungen
gelesen, etwas erheitert, aber doch auch ein wenig missmutig.
Die Zwicker war keine Frau für Effi, der nun mal ein Zug
innewohnte, sich nach links hin treiben zu lassen; er gab es aber
auf, irgendwas in diesem Sinne zu schreiben, einmal weil er sie
nicht verstimmen wollte, mehr noch, weil er sich sagte, dass
es doch nichts helfen würde. Dabei sah er der Rückkehr
seiner Frau mit Sehnsucht entgegen und beklagte des Dienstes nicht
bloß »immer gleichgestellte«, sondern jetzt, wo
jeder Ministerialrat fort war oder fort wollte, leider auch auf
Doppelstunden gestellte Uhr.
Ja, Innstetten sehnte sich nach Unterbrechung von Arbeit und Einsamkeit,
und verwandte Gefühle hegte man draußen in der Küche,
wo Annie, wenn die Schulstunden hinter ihr lagen, ihre Zeit am
liebsten verbrachte, was insoweit ganz natürlich war, als
Roswitha und Johanna nicht nur das kleine Fräulein in gleichem
Maße liebten, sondern auch untereinander nach wie vor auf
dem besten Fuße standen. Diese Freundschaft der beiden Mädchen
war ein Lieblingsgespräch zwischen den verschiedenen Freunden
des Hauses, und Landgerichtsrat Gizicki sagte dann wohl zu Wüllersdorf:
»Ich sehe darin nur eine neue Bestätigung des alten
Weisheitssatzes: 'Lasst fette Leute um mich sein'; Cäsar
war eben ein Menschenkenner und wusste, dass Dinge wie
Behaglichkeit und Umgänglichkeit eigentlich nur beim Embonpoint
sind.« Von einem solchen ließ sich denn nun bei beiden
Mädchen auch wirklich sprechen, nur mit dem Unterschiede,
dass das in diesem Falle nicht gut zu umgehende Fremdwort
bei Roswitha schon stark eine Beschönigung, bei Johanna dagegen
einfach die zutreffende Bezeichnung war. Diese letztere durfte
man nämlich nicht eigentlich korpulent nennen, sie war nur
prall und drall und sah jederzeit mit einer eigenen, ihr übrigens
durchaus kleidenden Siegermiene gradlinig und blauäugig über
ihre Normalbüste fort. Von Haltung und Anstand getragen,
lebte sie ganz in dem Hochgefühl, die Dienerin eines guten
Hauses zu sein, wobei sie das Überlegenheitsbewusstsein
über die halb bäuerisch gebliebene Roswitha in einem
so hohen Maße hatte, dass sie, was gelegentlich vorkam,
die momentan bevorzugte Stellung dieser nur belächelte. Diese
Bevorzugung - nun ja, wenn's dann mal so sein sollte, war eine
kleine liebenswürdige Sonderbarkeit der gnädigen Frau,
die man der guten alten Roswitha mit ihrer ewigen Geschichte »von
dem Vater mit der glühenden Eisenstange« schon gönnen
konnte. »Wenn man sich besser hält, so kann dergleichen
nicht vorkommen.« Das alles dachte sie, sprach's aber nicht
aus. Es war eben ein freundliches Miteinanderleben. Was aber wohl
ganz besonders für Frieden und gutes Einvernehmen sorgte,
das war der Umstand, dass man sich nach einem stillen Übereinkommen
in die Behandlung und fast auch Erziehung Annies geteilt hatte.
Roswitha hatte das poetische Departement, die Märchen- und
Geschichtenerzählung, Johanna dagegen das des Anstands, eine
Teilung, die hüben und drüben so fest gewurzelt stand,
dass Kompetenzkonflikte kaum vorkamen, wobei der Charakter
Annies, die eine ganz entschiedene Neigung hatte, das vornehme
Fräulein zu betonen, allerdings mithalf, eine Rolle, bei
der sie keine bessere Lehrerin als Johanna haben konnte.
Noch einmal also: Beide Mädchen waren gleichwertig in Annies
Augen. In diesen Tagen aber, wo man sich auf die Rückkehr Effis
vorbereitete, war Roswitha der Rivalin mal wieder um einen Pas
voraus, weil ihr, und zwar als etwas ihr Zuständiges, die
ganze Begrüßungsangelegenheit zugefallen war. Diese
Begrüßung zerfiel in zwei Hauptteile: Girlande mit
Kranz und dann abschließend Gedichtvortrag. Kranz und
Girlande - nachdem man über »W.« oder »E. v.
I.« eine Zeitlang geschwankt - hatten zuletzt keine sonderlichen
Schwierigkeiten gemacht (»W.«, in Vergissmeinnicht
geflochten, war bevorzugt worden), aber desto größere
Verlegenheit schien die Gedichtfrage heraufbeschwören zu
sollen und wäre vielleicht ganz unbeglichen geblieben, wenn
Roswitha nicht den Mut gehabt hätte, den von einer Gerichtssitzung
heimkehrenden Landgerichtsrat auf der zweiten Treppe zu stellen
und ihm mit einem auf einen »Vers« gerichteten Ansinnen
mutig entgegenzutreten. Gizicki, ein sehr gütiger Herr, hatte
sofort alles versprochen, und noch am selben Spätnachmittage
war seitens seiner Köchin der gewünschte Vers und zwar
folgenden Inhalts abgegeben worden:
|
Mama, wir erwarten dich lange schon,
Durch Wochen und Tage und Stunden,
Nun grüßen wir dich von Flur und Balkon
Und haben Kränze gewunden.
Nun lacht Papa voll Freudigkeit,
Denn die gattin- und mutterlose Zeit
Ist endlich von ihm genommen,
Und Roswitha lacht und Johanna dazu,
Und Annie springt aus ihrem Schuh
Und ruft: willkommen, willkommen.
|
Es versteht sich von selbst, dass die Strophe noch an demselben
Abend auswendig gelernt, aber doch nebenher auch auf ihre Schönheit
beziehungsweise Nicht-Schönheit kritisch geprüft worden
war. Das Betonen von Gattin und Mutter, so hatte sich Johanna
geäußert, erscheine zunächst freilich in der Ordnung;
aber es läge doch auch etwas darin, was Anstoß erregen
könne, und sie persönlich würde sich als »Gattin
und Mutter« dadurch verletzt fühlen. Annie, durch diese
Bemerkung einigermaßen geängstigt, versprach das Gedicht
am andern Tage der Klassenlehrerin vorlegen zu wollen und kam
mit dem Bemerken zurück: »Das Fräulein sei mit 'Gattin
und Mutter' durchaus einverstanden, aber desto mehr gegen
'Roswitha und Johanna' gewesen«, - worauf Roswitha erklärt
hatte, das Fräulein sei eine dumme Gans; das käme davon,
wenn man zuviel gelernt habe.
Es war an einem Mittwoch, dass die Mädchen und Annie
das vorstehende Gespräch geführt und den Streit um die
bemängelte Zeile beigelegt hatten. Am andern Morgen - ein
erwarteter Brief Effis hatte noch den mutmaßlich erst in
den Schluss der nächsten Woche fallenden Ankunftstag
festzustellen - ging Innstetten auf das Ministerium. Jetzt war
Mittag heran, die Schule aus, und als Annie, ihre Mappe auf dem
Rücken, eben vom Kanal her auf die Keithstraße zuschritt,
traf sie Roswitha vor ihrer Wohnung.
»Nun lass sehen«, sagte Annie, »wer am ehesten
von uns die Treppe heraufkommt.« Roswitha wollte von diesem
Wettlauf nichts wissen, aber Annie jagte voran, geriet oben angekommen
ins Stolpern und fiel dabei so unglücklich, dass sie
mit der Stirn auf den dicht an der Treppe befindlichen Abkratzer
aufschlug und stark blutete. Roswitha, mühevoll nachkeuchend,
riss jetzt die Klingel, und als Johanna das etwas verängstigte
Kind hereingetragen hatte, beratschlagte man, was nun wohl zu
machen sei. »Wir wollen nach dem Doktor schicken ... wir
wollen nach dem gnädigen Herrn schicken ... des Portiers
Lene muss ja jetzt auch aus der Schule wieder da sein.«
Es wurde aber alles wieder verworfen, weil es zu lange dauere,
man müsse gleich was tun, und so packte man denn das Kind
aufs Sofa und begann mit kaltem Wasser zu kühlen. Alles ging
auch gut, so dass man sich zu beruhigen begann. »Und
nun wollen wir sie verbinden«, sagte schließlich Roswitha.
»Da muss ja noch die lange Binde sein, die die gnädige
Frau letzten Winter zuschnitt, als sie sich auf dem Eise den Fuß
verknickt hatte ...« »Freilich, freilich«, sagte Johanna, »bloß
wo die Binde hernehmen? ... Richtig, da fällt mir ein, die
liegt im Nähtisch. Er wird wohl zu sein, aber das Schloss
ist Spielerei; holen Sie nur das Stemmeisen, Roswitha, wir wollen
den Deckel aufbrechen.« Und nun wuchteten sie auch wirklich
den Deckel ab und begannen, in den Fächern herumzukramen,
oben und unten, die zusammengerollte Binde jedoch wollte sich
nicht finden lassen. »Ich weiß aber doch, dass
ich sie gesehen habe«, sagte Roswitha, und während sie
halb ärgerlich immer weiter suchte, flog alles, was ihr dabei
zu Händen kam, auf das breite Fensterbrett: Nähzeug,
Nadelkissen, Rollen mit Zwirn und Seide, kleine vertrocknete Veilchensträußchen,
Karten, Billetts, zuletzt ein kleines Konvolut von Briefen, das
unter dem dritten Einsatz gelegen hatte, ganz unten, mit einem
roten Seidenfaden umwickelt. Aber die Binde hatte man noch immer
nicht.
Innstetten hatte mittlerweile die vorläufig
aufgelegte Kompresse fortgenommen und sah, dass es ein tiefer
Riss, sonst aber ungefährlich war. »Es ist nicht
schlimm«, sagte er; »trotzdem, Roswitha, wir müssen
sehen, dass Rummschüttel kommt. Lene kann ja gehen,
die wird jetzt Zeit haben. Aber was in aller Welt ist denn das
da mit dem Nähtisch?«
Innstetten war einverstanden und setzte sich, als bald danach
beide Mädchen das Zimmer verlassen hatten, zu dem Kind. »Du
bist so wild, Annie, das hast du von der Mama. Immer wie ein Wirbelwind.
Aber dabei kommt nichts heraus oder höchstens so was.«
Und er wies auf die Wunde und gab ihr einen Kuss. »Du
hast aber nicht geweint, das ist brav, und darum will ich dir
die Wildheit verzeihen ... Ich denke, der Doktor wird in einer
Stunde hier sein; tu nur alles, was er sagt, und wenn er dich
verbunden hat, so zerre nicht und rücke und drücke nicht
daran, dann heilt es schnell, und wenn die Mama dann kommt, dann
ist alles wieder in Ordnung oder doch beinah. Ein Glück ist
es aber doch, dass es noch bis nächste Woche dauert,
Ende nächster Woche, so schreibt sie mir; eben habe ich einen
Brief von ihr bekommen; sie lässt dich grüßen
und freut sich, dich wiederzusehen.«
Innstetten und Annie saßen sich eine Weile stumm gegenüber;
endlich, als ihm die Stille peinlich wurde, tat er ein paar Fragen
über die Schulvorsteherin und welche Lehrerin sie eigentlich
am liebsten habe. Annie antwortete auch, aber ohne rechte Lust,
weil sie fühlte, dass Innstetten wenig bei der Sache
war. Es wurde erst besser, als Johanna nach dem zweiten Gericht
ihrem Anniechen zuflüsterte, es gäbe noch was. Und wirklich,
die gute Roswitha, die dem Liebling an diesem Unglückstag
was schuldig zu sein glaubte, hatte noch ein Übriges getan
und sich zu einer Omelette mit Apfelschnitten aufgeschwungen.
Annie wurde bei diesem Anblicke denn auch etwas redseliger, und
ebenso zeigte sich Innstettens Stimmung gebessert, als es gleich
danach klingelte und Geheimrat Rummschüttel eintrat. Ganz
zufällig. Er sprach nur vor, ohne jede Ahnung, dass
man nach ihm geschickt und um seinen Besuch gebeten habe. Mit
den aufgelegten Kompressen war er zufrieden. »Lassen Sie
noch etwas Bleiwasser holen und Annie morgen zu Hause bleiben.
Überhaupt Ruhe.« Dann frug er noch nach der gnädigen
Frau und wie die Nachrichten aus Ems seien; er werde den andern
Tag wiederkommen und nachsehen.
Als man von Tisch aufgestanden und in das nebenan gelegene Zimmer
- dasselbe, wo man mit so viel Eifer und doch vergebens nach dem
Verbandstück gesucht hatte -, eingetreten war, wurde Annie
wieder auf das Sofa gebettet. Johanna kam und setzte sich zu dem
Kinde, während Innstetten die zahllosen Dinge, die bunt durcheinander gewürfelt
noch auf dem Fensterbrett umherlagen, wieder in den Nähtisch einzuräumen
begann. Dann und wann wusste er sich nicht recht Rat und
musste fragen.
Und während so Frage und Antwort ging, betrachtete Innstetten
etwas aufmerksamer als vorher das kleine, mit einem roten Faden
zusammengebundene Paket, das mehr aus einer Anzahl zusammengelegter
Zettel als aus Briefen zu bestehen schien. Er fuhr, als wäre
es ein Spiel Karten, mit dem Daumen und Zeigefinger an der Seite
des Päckchens hin und einige Zeilen, eigentlich nur vereinzelte
Worte, flogen dabei an seinem Auge vorüber. Von deutlichem
Erkennen konnte keine Rede sein, aber es kam ihm doch so vor,
als habe er die Schriftzüge schon irgendwo gesehen. Ob er
nachsehen solle?
Als er das sagte, wand er den roten Faden ab und ließ, während
Johanna das Zimmer verließ, den ganzen Inhalt des Päckchens
rasch durch die Finger gleiten. Nur zwei, drei Briefe waren adressiert:
»An Frau Landrat von Innstetten.« Er erkannte jetzt
auch die Handschrift; es war die des Majors. Innstetten wusste
nichts von einer Korrespondenz zwischen Crampas und Effi, und
in seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Er steckte das Paket
zu sich und ging in sein Zimmer zurück. Etliche Minuten später,
und Johanna, zum Zeichen, dass der Kaffee da sei, klopfte
leis an die Tür. Innstetten antwortete auch, aber dabei
blieb es; sonst alles still. Erst nach einer Viertelstunde hört
man wieder sein Auf- und Abschreiten auf dem Teppich.
»Was nur Papa hat?«, sagte Johanna zu Annie. »Der
Doktor hat ihm doch gesagt, es sei nichts.«
Es vergingen Stunden. Die Sonne war schon unter, und nur ein roter
Widerschein lag noch über den Dächern drüben, als
Innstetten wieder zurückkam. Er gab Annie die Hand, fragte
wie's ihr gehe, und ordnete dann an, dass ihm Johanna die
Lampe in sein Zimmer bringe. Die Lampe kam auch. In dem grünen
Schirm befanden sich halb durchsichtige Ovale mit Fotografien,
allerlei Bildnisse seiner Frau, die noch in Kessin, damals als
man den Wichert'schen »Schritt vom Wege« aufgeführt
hatte, für die verschiedenen Mitspielenden angefertigt waren.
Innstetten drehte den Schirm langsam von links nach rechts und
musterte jedes einzelne Bildnis. Dann ließ er davon ab,
öffnete, weil er es schwül fand, die Balkontür
und nahm schließlich das Briefpaket wieder zur Hand.
Es schien, dass er gleich beim ersten Durchsehen ein paar
davon ausgewählt und obenauf gelegt hatte. Diese las er jetzt
noch einmal mit halblauter Stimme.
»Sei heute nachmittag wieder in den Dünen, hinter der
Mühle. Bei der alten Adermann können wir uns ruhig sprechen,
das Haus ist abgelegen genug. Du musst dich nicht um alles
so bangen. Wir haben auch ein Recht. Und wenn du dir das
eindringlich sagst, wird, denke ich, alle Furcht von dir abfallen.
Das Leben wäre nicht des Lebens wert, wenn das alles gelten
sollte, was zufällig gilt. Alles Beste liegt jenseits davon.
Lerne dich daran freuen.«
»...Fort, so schreibst du, Flucht. Unmöglich. Ich kann
meine Frau nicht im Stich lassen, zu allem andern auch noch in
Not. Es geht nicht, und wir müssen es leicht nehmen, sonst
sind wir arm und verloren. Leichtsinn ist das Beste, was wir haben.
Alles ist Schicksal. Es hat so sein sollen. Und möchtest
du, dass es anders wäre, dass wir uns nie gesehen
hätten?«
»Sie wissen, Innstetten, Sie haben über mich zu verfügen.
Aber eh ich die Sache kenne, verzeihen Sie mir die naive Vorfrage:
muss es sein? Wir sind doch über die Jahre weg, Sie,
um die Pistole in die Hand zu nehmen, und ich, um dabei
mitzumachen. Indessen missverstehen Sie mich nicht, alles
dies soll kein 'nein' sein. Wie könnte ich Ihnen etwas abschlagen.
Aber nun sagen Sie, was ist es?«
»Innstetten, Ihre Lage ist furchtbar, und Ihr Lebensglück
ist hin. Aber wenn Sie den Liebhaber totschießen, ist Ihr
Lebensglück sozusagen doppelt hin, und zu dem Schmerz über
empfangenes Leid kommt noch der Schmerz über getanes Leid.
Alles dreht sich um die Frage, müssen Sie's durchaus tun?
Fühlen Sie sich so verletzt, beleidigt, empört, dass
einer weg muss, er oder Sie? Steht es so?«
»Es steht so, dass ich unendlich unglücklich bin;
ich bin gekränkt, schändlich hintergangen, aber trotzdem,
ich bin ohne jedes Gefühl von Hass oder gar von Durst
nach Rache. Und wenn ich mich frage, warum nicht, so kann ich
zunächst nichts anderes finden als die Jahre. Man spricht
immer von unsühnbarer Schuld; vor Gott ist es gewiss
falsch, aber vor den Menschen auch. Ich hätte nie geglaubt,
dass die Zeit, rein als Zeit, so wirken könne.
Und dann als zweites: ich liebe meine Frau, ja, seltsam zu sagen,
ich liebe sie noch, und so furchtbar ich alles finde, was geschehen,
ich bin so sehr im Bann ihrer Liebenswürdigkeit, eines ihr
eignen heiteren Charmes, dass ich mich, mir selbst zum
Trotz, in meinem letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt fühle.«
Wüllersdorf nickte. »Kann ganz folgen, Innstetten, würde
mir vielleicht ebenso gehen. Aber wenn Sie so zu der Sache stehen
und mir sagen: 'Ich liebe diese Frau so sehr, dass ich ihr
alles verzeihen kann', und wenn wir dann das andere hinzunehmen,
dass alles weit, weit zurückliegt, wie ein Geschehnis
auf einem andern Stern, ja, wenn es so liegt, Innstetten, so frage
ich, wozu die ganze Geschichte?«
»Weil es trotzdem sein muss. Ich habe mir's hin und
her überlegt. Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch,
man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig
Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von
ihm. Ging es, in Einsamkeit zu leben, so könnt ich es gehen
lassen; ich trüge dann die mir aufgepackte Last, das rechte
Glück wäre hin, aber es müssen so viele leben ohne
dies 'rechte Glück', und ich würde es auch müssen
und - auch können. Man braucht nicht glücklich zu sein,
am allerwenigsten hat man einen Anspruch darauf, und den, der
einem das Glück genommen hat, den braucht man nicht notwendig
aus der Welt zu schaffen. Man kann ihn, wenn man weltabgewandt
weiter existieren will, auch laufen lassen. Aber im Zusammenleben
mit den Menschen hat sich ein Etwas gebildet, das nun mal da ist
und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben, alles
zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen
geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir
es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die
Kugel durch den Kopf. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen solche
Vorlesung halte, die schließlich doch nur sagt, was sich
jeder selber hundertmal gesagt hat. Aber freilich, wer kann was
Neues sagen! Also noch einmal, nichts von Hass oder dergleichen,
und um eines Glückes willen, das mir genommen wurde, mag
ich nicht Blut an den Händen haben; aber jenes, wenn Sie
wollen, uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht
nach Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung.
Ich habe keine Wahl. Ich muss.«
Innstetten lächelte. »Sie sollen selbst entscheiden,
Wüllersdorf. Es ist jetzt zehn Uhr. Vor sechs Stunden, diese
Konzession will ich Ihnen vorweg machen, hatt ich das Spiel noch
in der Hand, konnt ich noch das eine und noch das andere, da
war noch ein Ausweg. Jetzt nicht mehr, jetzt stecke ich in einer
Sackgasse. Wenn Sie wollen, so bin ich selber schuld daran; ich
hätte mich besser beherrschen und bewachen, alles in mir
verbergen, alles im eignen Herzen auskämpfen sollen. Aber
es kam mir zu plötzlich, zu stark, und so kann ich mir kaum
einen Vorwurf machen, meine Nerven nicht geschickter in Ordnung
gehalten zu haben. Ich ging zu Ihnen und schrieb Ihnen einen Zettel,
und damit war das Spiel aus meiner Hand. Von dem Augenblicke an
hatte mein Unglück und, was schwerer wiegt, der Fleck auf
meiner Ehre einen halben Mitwisser, und nach den ersten Worten,
die wir hier gewechselt, hat es einen ganzen. Und weil dieser
Mitwisser da ist, kann ich nicht mehr zurück.«
»Ja, Wüllersdorf, so heißt es immer. Aber es gibt
keine Verschwiegenheit. Und wenn Sie's wahr machen und gegen andere
die Verschwiegenheit selber sind, so wissen Sie es, und
es rettet mich nicht vor Ihnen, dass Sie mir eben Ihre Zustimmung
ausgedrückt und mir sogar gesagt haben: ich kann Ihnen in
allem folgen. Ich bin, und dabei bleibt es, von diesem Augenblicke
an ein Gegenstand Ihrer Teilnahme (schon nicht etwas sehr Angenehmes),
und jedes Wort, das Sie mich mit meiner Frau wechseln hören,
unterliegt Ihrer Kontrolle, Sie mögen wollen oder nicht,
und wenn meine Frau von Treue spricht oder, wie Frauen tun, über
eine andere zu Gericht sitzt, so weiß ich nicht, wo ich
mit meinen Blicken hin soll. Und ereignet sich's gar, dass
ich in irgendeiner ganz alltäglichen Beleidigungssache zum
Guten rede, 'weil ja der dolus fehle' oder so was Ähnliches,
so geht ein Lächeln über Ihr Gesicht oder es zuckt
wenigstens darin, und in Ihrer Seele klingt es: 'der gute Innstetten,
er hat doch eine wahre Passion, alle Beleidigungen auf ihren Beleidigungsgehalt
chemisch zu untersuchen, und das richtige Quantum Stickstoff findet
er nie. Er ist noch nie an einer Sache erstickt.' ... Habe
ich Recht, Wüllersdorf, oder nicht?«
Wüllersdorf war aufgestanden. »Ich finde es furchtbar,
dass Sie Recht haben, aber Sie haben Recht. Ich quäle
Sie nicht länger mit meinem 'muss es sein?'. Die Welt ist einmal,
wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht, wie wir
wollen, sondern wie die andern wollen. Das mit dem
'Gottesgericht', wie manche hochtrabend versichern, ist freilich
ein Unsinn, nichts davon, umgekehrt, unser Ehrenkultus ist ein
Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, so lange
der Götze gilt.«
Am andern Abend, wie verabredet, reiste Innstetten. Er benutzte
denselben Zug, den am Tag vorher Wüllersdorf benutzt hatte,
und war bald nach fünf Uhr früh auf der Bahnstation,
von wo der Weg nach Kessin links abzweigte. Wie immer, so lange
die Saison dauerte, ging auch heute gleich nach Eintreffen des
Zuges das mehrerwähnte Dampfschiff, dessen erstes Läuten
Innstetten schon hörte, als er die letzten Stufen der vom
Bahndamm hinabführenden Treppe erreicht hatte. Der Weg bis
zur Anlegestelle war keine drei Minuten; er schritt darauf zu
und begrüßte den Kapitän, der etwas verlegen war,
also im Laufe des gestrigen Tages von der ganzen Sache schon gehört
haben musste, und nahm dann seinen Platz in der Nähe
des Steuers. Gleich danach löste sich das Schiff vom Brückensteg
los; das Wetter war herrlich, helle Morgensonne, nur wenig Passagiere
an Bord. Innstetten gedachte des Tages, als er mit Effi, von der
Hochzeitsreise zurückkehrend, hier am Ufer der Kessine hin
in offenem Wagen gefahren war - ein grauer Novembertag damals, aber
er selber froh im Herzen; nun hatte sich's verkehrt: das Licht
lag draußen und der Novembertag war in ihm. Viele, viele
Male war er dann des Weges hier gekommen, und der Frieden, der
sich über die Felder breitete, das Zuchtvieh in den Koppeln,
das aufhorchte, wenn er vorüberfuhr, die Leute bei der Arbeit,
die Fruchtbarkeit der Äcker, das alles hatte seinem Sinne
wohlgetan, und jetzt, in hartem Gegensatz dazu, war er froh, als
etwas Gewölk heranzog und den lachenden blauen Himmel leise
zu trüben begann. So fuhren sie den Fluss hinab, und
bald, nachdem sie die prächtige Wasserfläche des »Breitling«
passiert, kam der Kessiner Kirchturm in Sicht und gleich danach
auch das Bollwerk und die lange Häuserreihe mit Schiffen
und Booten davor. Und nun waren sie heran. Innstetten verabschiedete
sich von dem Kapitän und schritt auf den Steg zu, den man,
bequemeren Aussteigens halber, herangerollt hatte. Wüllersdorf
war schon da. Beide begrüßten sich, ohne zunächst
ein Wort zu sprechen, und gingen dann quer über den Damm
auf den Hoppensack'schen Gasthof zu, wo sie unter einem Zeltdach
Platz nahmen.
»Ich habe mich gestern früh hier einquartiert«,
sagte Wüllersdorf, der nicht gleich mit den Sachlichkeiten
beginnen wollte. »Wenn man bedenkt, dass Kessin ein
Nest ist, ist es erstaunlich, ein so gutes Hotel hier zu finden.
Ich bezweifle nicht, dass mein Freund, der Oberkellner, drei
Sprachen spricht; seinem Scheitel und seiner ausgeschnittnen Weste
nach können wir dreist auf vier rechnen ... Jean, bitte,
wollen Sie uns Kaffee und Cognac bringen.«
»Nicht das eine und nicht das andere. Ich bekenne Ihnen offen,
Innstetten, dass es mich erschütterte. Als ich Ihren
Namen nannte, wurde er totenblass und rang nach Fassung,
und um seine Mundwinkel sah ich ein Zittern. Aber all das dauerte
nur einen Augenblick, dann hatte er sich wieder gefasst,
und von da ab war alles an ihm wehmütige Resignation. Es
ist mir ganz sicher, er hat das Gefühl, aus der Sache nicht
heil herauszukommen, und will auch nicht. Wenn ich ihn richtig
beurteile, er lebt gern und ist zugleich gleichgültig gegen
das Leben. Er nimmt alles mit und weiß doch, dass es
nicht viel damit ist.«
»Das war, als er sich wieder gefunden hatte, seine Hauptsorge.
Er nannte zwei, drei Adlige aus der Nähe, ließ sie
dann aber wieder fallen, sie seien zu alt und zu fromm, er werde
nach Treptow hin telegrafieren an seinen Freund Buddenbrook. Und
der ist auch gekommen, famoser Mann, schneidig und doch zugleich
wie ein Kind. Er konnte sich nicht beruhigen und ging in größter
Erregung auf und ab. Aber als ich ihm alles gesagt hatte, sagte
er geradeso wie wir: 'Sie haben Recht, es muss sein!'«
Innstetten lächelte. »Da verkennen Sie die Leute hier
an der Küste; halb sind es Philister und halb Pfiffici, nicht sehr
nach meinem Geschmack; aber eine Tugend haben sie, sie sind alle
sehr manierlich. Und nun gar mein alter Gieshübler. Natürlich
weiß jeder, um was sich's handelt; aber eben deshalb hütet
man sich, den Neugierigen zu spielen.«
Die Mole lag nach der entgegengesetzten Strandseite, rechts statt
links, und die falsche Weisung wurde nur gegeben, um etwaigen
Zwischenfällen, die doch immerhin möglich waren, vorzubeugen.
Im Übrigen, ob man sich nun weiter draußen nach rechts
oder links zu halten vorhatte, durch die Plantage musste
man jedenfalls, und so führte denn der Weg unvermeidlich
an Innstettens alter Wohnung vorüber. Das Haus lag noch stiller
da als früher; ziemlich vernachlässigt sah's in den
Parterreräumen aus; wie mocht es erst da oben sein! Und das
Gefühl des Unheimlichen, das Innstetten an Effi so oft bekämpft
oder auch wohl belächelt hatte, jetzt überkam es ihn
selbst, und er war froh, als sie dran vorüber waren.
»Ach, dummes Zeug: alter Schiffskapitän mit Enkelin
oder Nichte, die eines schönen Tages verschwand, und dann
ein Chinese, der vielleicht ein Liebhaber war, und auf dem Flur
ein kleiner Haifisch und ein Krokodil, beides an Strippen und
immer in Bewegung. Wundervoll zu erzählen, aber nicht jetzt.
Es spukt einem doch allerhand anderes im Kopf.«
Und der Kutscher bog links in eine breite Fahrstraße ein, die
hinter dem Herrenbade grade auf den Wald zulief. Als sie bis auf
dreihundert Schritt an diesen heran waren, ließ Wüllersdorf
den Wagen halten, und beide gingen nun, immer durch mahlenden
Sand hin, eine ziemlich breite Fahrstraße hinunter, die
die hier dreifache Dünenreihe senkrecht durchschnitt. Überall
zur Seite standen dichte Büschel von Strandhafer, um diesen
herum aber Immortellen und ein paar blutrote Nelken. Innstetten
bückte sich und steckte sich eine der Nelken ins Knopfloch.
»Die Immortellen nachher.«
So gingen sie fünf Minuten. Als sie bis an die ziemlich tiefe
Senkung gekommen waren, die zwischen den beiden vordersten Dünenreihen
hinlief, sahen sie nach links hin schon die Gegenpartei: Crampas
und Buddenbrook und mit ihnen den guten Doktor Hannemann, der
seinen Hut in der Hand hielt, so dass das weiße Haar
im Winde flatterte.
Innstetten und Wüllersdorf gingen die Sandschlucht hinauf,
Buddenbrook kam ihnen entgegen. Man begrüßte sich,
worauf beide Sekundanten beiseite traten, um noch ein kurzes sachliches
Gespräch zu führen. Es lief darauf hinaus, dass
man a tempo avancieren und auf zehn Schritt Distanz feuern
solle. Dann kehrte Buddenbrook an seinen Platz zurück; alles
erledigte sich rasch; und die Schüsse fielen. Crampas stürzte.
Innstetten, einige Schritte zurücktretend, wandte sich ab
von der Szene. Wüllersdorf aber war auf Buddenbrook zugeschritten,
und beide warteten jetzt auf den Ausspruch des Doktors, der die
Achseln zuckte. Zugleich deutete Crampas durch eine Handbewegung an,
dass er etwas sagen wollte. Wüllersdorf beugte sich zu ihm nieder,
nickte zustimmend zu den paar Worten, die kaum hörbar von
des Sterbenden Lippen kamen, und ging dann auf Innstetten zu.
Am Abend desselben Tages traf Innstetten wieder in Berlin ein.
Er war mit dem Wagen, den er innerhalb der Dünen an dem Querwege
zurückgelassen hatte, direkt nach der Bahnstation gefahren,
ohne Kessin noch einmal zu berühren, dabei den beiden Sekundanten
die Meldung an die Behörden überlassend. Unterwegs (er
war allein im Kupee) hing er, alles noch mal überdenkend,
dem Geschehenen nach; es waren dieselben Gedanken wie zwei Tage
zuvor, nur dass sie jetzt den umgekehrten Gang gingen und
mit der Überzeugtheit von seinem Recht und seiner Pflicht
anfingen, um mit Zweifeln daran aufzuhören. »Schuld,
wenn sie überhaupt was ist, ist nicht an Ort und Stunde gebunden
und kann nicht hinfällig werden von heute auf morgen. Schuld
verlangt Sühne; das hat einen Sinn. Aber Verjährung
ist etwas Halbes, etwas Schwächliches, zum mindesten was
Prosaisches.« Und er richtete sich an dieser Vorstellung
auf und wiederholte sich's, dass es gekommen sei, wie's habe
kommen müssen. Aber im selben Augenblicke, wo dies für
ihn feststand, warf er's auch wieder um. »Es muss
eine Verjährung geben, Verjährung ist das einzig
Vernünftige; ob es nebenher auch noch prosaisch ist, ist
gleichgültig; das Vernünftige ist meist prosaisch. Ich
bin jetzt fünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fünfundzwanzig
Jahre später gefunden hätte, so war ich siebzig.
Dann hätte Wüllersdorf gesagt: 'Innstetten, seien Sie
kein Narr.' Und wenn es Wüllersdorf nicht gesagt hätte,
so hätt es Buddenbrook gesagt, und wenn auch der nicht,
so ich selbst. Dies ist mir klar. Treibt man etwas auf die Spitze,
so übertreibt man und hat die Lächerlichkeit. Kein Zweifel.
Aber wo fängt es an? Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen
noch ein Duell und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren
oder vielleicht schon bei zehnundeinhalb heißt es Unsinn.
Die Grenze, die Grenze. Wo ist sie? War sie da? War sie schon
überschritten? Wenn ich mir seinen letzten Blick vergegenwärtige,
resigniert und in seinem Elend doch noch ein Lächeln, so
hieß der Blick: 'Innstetten, Prinzipienreiterei ... Sie
konnten es mir ersparen und sich selber auch.' Und er hatte vielleicht
Recht. Mir klingt so was in der Seele. Ja, wenn ich voll tödlichem
Hass gewesen wäre, wenn mir hier ein tiefes Rachegefühl
gesessen hätte ... Rache ist nichts Schönes, aber was
Menschliches und hat ein natürlich menschliches Recht. So
aber war alles einer Vorstellung, einem Begriff zu Liebe, war eine
gemachte Geschichte, halbe Komödie. Und diese Komödie
muss ich nun fortsetzen und muss Effi wegschicken und
sie ruinieren und mich mit ... Ich musste die Briefe verbrennen
und die Welt durfte nie davon erfahren. Und wenn sie dann kam,
ahnungslos, so musst ich ihr sagen: 'Da ist dein Platz',
und musste mich innerlich von ihr scheiden. Nicht vor der
Welt. Es gibt so viele Leben, die keine sind, und so viele Ehen,
die keine sind ... dann war das Glück hin, aber ich hätte
das Auge mit seinem Frageblick und mit seiner stummen leisen
Anklage nicht vor mir.«
Und nun war Innstetten wieder allein. Er ging auf und ab, wie
er's zu tun liebte. »Sie wissen schon alles; Roswitha ist
dumm, aber Johanna ist eine kluge Person. Und wenn sie's nicht
mit Bestimmtheit wissen, so haben sie sich's zurechtgelegt und
wissen es doch. Es ist merkwürdig, was alles zum Zeichen
wird und Geschichten ausplaudert, als wäre jeder mit dabei gewesen.«
Innstetten war zu guter Zeit auf. Er sah Annie, sprach ein paar
Worte mit ihr, lobte sie, dass sie eine gute Kranke sei,
und ging dann aufs Ministerium, um seinem Chef von allem Vorgefallenen
Meldung zu machen. Der Minister war sehr gnädig. »Ja,
Innstetten, wohl dem, der aus allem, was das Leben uns bringen
kann, heil herauskommt; Sie hat's getroffen.« Er fand alles,
was geschehen, in der Ordnung und überließ Innstetten
das Weitere.
Erst spät nachmittags war Innstetten wieder in seiner Wohnung,
in der er ein paar Zeilen von Wüllersdorf vorfand. »Heute
früh wieder eingetroffen. Eine Welt von Dingen erlebt; Schmerzliches,
Rührendes, Gieshübler an der Spitze. Der liebenswürdigste
Pucklige, den ich je gesehen. Von Ihnen sprach er nicht allzu viel,
aber die Frau, die Frau! Er konnte sich nicht beruhigen, und zuletzt
brach der kleine Mann in Tränen aus. Was alles vorkommt.
Es wäre zu wünschen, dass es mehr Gieshübler
gäbe. Es gibt aber mehr andere. Und dann die Szene im Hause
des Majors ... furchtbar. Kein Wort davon. Man hat wieder mal
gelernt: aufpassen. Ich sehe Sie morgen. Ihr W.«
»... Und dann, Johanna, noch eins: die Frau kommt nicht
wieder. Sie werden von anderen erfahren, warum nicht. Annie darf
nichts wissen, wenigstens jetzt nicht. Das arme Kind. Sie müssen
es ihr allmählich beibringen, dass sie keine Mutter
mehr hat. Ich kann es nicht. Aber machen Sie's gescheit. Und dass
Roswitha nicht alles verdirbt.«
Als sie wieder draußen in der Küche war, war sie von Stolz
und Überlegenheit ganz erfüllt, ja beinahe von Glück.
Der gnädige Herr hatte ihr nicht nur alles gesagt, sondern
am Schlusse auch noch hinzugesetzt »und dass Roswitha
nicht alles verdirbt«. Das war die Hauptsache, und ohne dass
es ihr an gutem Herzen und selbst an Teilnahme mit der Frau gefehlt
hätte, beschäftigte sie doch über jedes andere
hinaus der Triumph einer gewissen Intimitätsstellung zum
gnädigen Herrn.
Unter gewöhnlichen Umständen wäre ihr denn auch
die Herauskehrung und Geltendmachung dieses Triumphes ein Leichtes
gewesen, aber heute traf sich's so wenig günstig für
sie, dass ihre Rivalin, ohne Vertrauensperson gewesen zu
sein, sich doch als die Eingeweihtere zeigen sollte. Der Portier
unten hatte nämlich so ziemlich um dieselbe Zeit, wo dies
spielte, Roswitha in seine kleine Stube hineingerufen und ihr
gleich beim Eintreten ein Zeitungsblatt zum Lesen zugeschoben.
»Da, Roswitha, das ist was für Sie; Sie können
es mir nachher wieder runterbringen. Es ist bloß das Fremdenblatt:
aber Lene ist schon hin und holt das Kleine Journal. Da wird wohl
schon mehr drin stehen; die wissen immer alles. Hören Sie,
Roswitha, wer so was gedacht hätte.«
Johanna nahm das Blatt und las nun halblaut eine mit einem dicken
Tintenstrich markierte Stelle: »Wie wir kurz vor Redaktionsschluss
von gut unterrichteter Seite her vernehmen, hat gestern früh
in dem Badeorte Kessin in Hinterpommern ein Duell zwischen dem
Ministerialrat v. I. (Keithstraße) und dem Major von Crampas
stattgefunden. Major von Crampas fiel. Es heißt, dass
Beziehungen zwischen ihm und der Rätin, einer schönen
und noch sehr jungen Frau, bestanden haben sollen.«
»Nein, Johanna, unser gnäd'ger Herr, der soll auch leben,
alles soll leben. Ich bin nicht für totschießen und
kann nicht mal das Knallen hören. Aber bedenken Sie doch,
Johanna, das ist ja nun schon eine halbe Ewigkeit her, und die
Briefe, die mir gleich so sonderbar aussahen, weil sie die rote
Strippe hatten und drei- oder viermal umwickelt und dann eingeknotet
und keine Schleife - die sahen ja schon ganz gelb aus, so lange
ist es her. Wir sind ja nun schon über sechs Jahre hier,
und wie kann man wegen solcher alten Geschichten ...«
»Aber, Johanna, das ist doch wirklich zu schlecht von Ihnen,
mir so was auf den Kopf zuzusagen, und Sie wissen doch, dass
Sie schuld sind und dass Sie wie närrisch in die Küche
stürzten und mir sagten, der Nähtisch müsse aufgemacht
werden, da wäre die Bandage drin, und da bin ich mit dem
Stemmeisen gekommen, und nun soll ich schuld sein. Nein, ich sage ...«
»Nun, ich will es nicht gesagt haben, Roswitha. Nur Sie
sollen mir nicht kommen und sagen: der arme Major. Was heißt
der arme Major! Der ganze arme Major taugte nichts; wer solchen
rotblonden Schnurrbart hat und immer wribbelt, der taugt nie was
und richtet bloß Schaden an. Und wenn man immer in vornehmen
Häusern gedient hat ... aber das haben Sie nicht, Roswitha,
das fehlt Ihnen eben ... dann weiß man auch, was sich passt
und schickt und was Ehre ist, und weiß auch, dass,
wenn so was vorkommt, dann geht es nicht anders, und dann kommt
das, was man eine Forderung nennt, und dann wird einer totgeschossen.«
»Ja, Roswitha, mit Ihrem ewigen 'So lange her'; daran
sieht man ja eben, dass Sie nichts davon verstehen. Sie erzählen
immer die alte Geschichte von Ihrem Vater mit dem glühenden
Eisen und wie er damit auf Sie losgekommen, und jedes Mal, wenn
ich einen glühenden Bolzen eintue, muss ich auch wirklich
immer an Ihren Vater denken und sehe immer, wie er Sie wegen des
Kindes, das ja nun tot ist, tot machen will. Ja, Roswitha, davon
sprechen Sie in einem fort, und es fehlt bloß noch, dass
Sie Anniechen auch die Geschichte erzählen, und wenn Anniechen
eingesegnet wird, dann wird sie's auch gewiss erfahren und
vielleicht denselben Tag noch; und das ärgert mich, dass
Sie das alles erlebt haben, und Ihr Vater war doch bloß
ein Dorfschmied und hat Pferde beschlagen oder einen Radreifen
gelegt, und nun kommen Sie und verlangen von unserm gnäd'gen
Herrn, dass er sich das alles ruhig gefallen lässt,
bloß weil es so lange her ist. Was heißt lange her?
Sechs Jahre ist nicht lange her. Und unsre gnäd'ge Frau -
die aber nicht wiederkommt, der gnäd'ge Herr hat es mir eben
gesagt - unsre gnäd'ge Frau wird erst sechsundzwanzig, und
im August ist ihr Geburtstag, und da kommen Sie mir mit 'lange
her'. Und wenn sie sechsunddreißig wäre, ich sage Ihnen,
bis sechsunddreißig muss man erst recht aufpassen,
und wenn der gnäd'ge Herr nichts getan hätte, dann hätten
ihn die vornehmen Leute 'geschnitten'. Aber das Wort kennen Sie
gar nicht, Roswitha, davon wissen Sie nichts.«
Effi und die Geheimrätin Zwicker waren seit fast drei Wochen
in Ems und bewohnten daselbst das Erdgeschoss einer reizenden
kleinen Villa. In ihrem zwischen ihren zwei Wohnzimmern gelegenen
gemeinschaftlichen Salon mit Blick auf den Garten stand ein Polysanderflügel,
auf dem Effi dann und wann eine Sonate, die Zwicker dann und wann
einen Walzer spielte; sie war ganz unmusikalisch und beschränkte
sich im wesentlichen darauf, für Niemann als Tannhäuser
zu schwärmen.
Es war ein herrlicher Morgen; in dem kleinen Garten zwitscherten
die Vögel, und aus dem angrenzenden Hause, drin sich ein
'Lokal' befand, hörte man trotz der frühen
Stunde bereits das Zusammenschlagen der Billardbälle. Beide
Damen hatten ihr Frühstück nicht im Salon selbst, sondern
auf einem ein paar Fuß hoch aufgemauerten und mit Kies bestreuten
Vorplatz eingenommen, von dem aus drei Stufen nach dem Garten
hinunterführten; die Markise ihnen zu Häupten war
aufgezogen, um den Genuss der frischen Luft in nichts zu
beschränken, und sowohl Effi wie die Geheimrätin waren
ziemlich emsig bei ihrer Handarbeit. Nur dann und wann wurden
ein paar Worte gewechselt.
Effi fühlte sich durch den Ton, in dem dies gesagt wurde,
wenig angenehm berührt und schien antworten zu wollen, aber
in eben diesem Augenblicke trat das aus der Umgegend von Bonn stammende
Hausmädchen, das sich von Jugend an daran gewöhnt hatte,
die mannigfachsten Erscheinungen des Lebens an Bonner Studenten
und Bonner Husaren zu messen, vom Salon her auf den Vorplatz hinaus,
um hier den Frühstückstisch abzuräumen. Sie hieß
Afra.
»Eine hübsche Person«, sagte die Zwicker. »Und
so quick und kasch, und ich möchte fast sagen von einer
natürlichen Anmut. Wissen Sie, liebe Baronin, dass mich
diese Afra ... übrigens ein wundervoller Name, und es soll sogar eine heilige
Afra gegeben haben, aber ich glaube nicht, dass unsere davon
abstammt...«
»Ja, Sie haben Recht. Es ist eine Ähnlichkeit da. Nur
unser Berliner Hausmädchen ist doch erheblich hübscher
und namentlich ihr Haar viel schöner und voller. Ich habe
so schönes flachsenes Haar, wie unsere Johanna hat, überhaupt
noch nicht gesehen. Ein bisschen davon sieht man ja wohl,
aber solche Fülle ...«
Die Zwicker lächelte. »Das ist wirklich selten, dass
man eine junge Frau mit solcher Begeisterung von dem flachsenen
Haar ihres Hausmädchens sprechen hört. Und nun auch
noch von der Fülle! Wissen Sie, dass ich das rührend
finde? Denn eigentlich ist man doch bei der Wahl der Mädchen
in einer beständigen Verlegenheit. Hübsch sollen sie
sein, weil es jeden Besucher, wenigstens die Männer, stört,
eine lange Stakete mit griesem Teint und schwarzen Rändern
in der Türöffnung erscheinen zu sehen, und ein wahres
Glück, dass die Korridore meistens so dunkel sind. Aber
nimmt man wieder zuviel Rücksicht auf solche Hausrepräsentation
und den sogenannten ersten Eindruck, und schenkt man wohl gar
noch einer solchen hübschen Person eine weiße Tändelschürze
nach der andern, so hat man eigentlich keine ruhige Stunde mehr
und fragt sich, wenn man nicht zu eitel ist und nicht zu viel
Vertrauen zu sich selber hat, ob da nicht Remedur geschaffen werden
müsse. Remedur war nämlich ein Lieblingswort von Zwicker,
womit er mich oft gelangweilt hat; aber freilich, alle Geheimräte
haben solche Lieblingsworte.«
»Das ist schon recht, liebe Freundin, was Sie da von den
Geheimräten sagen. Innstetten hat sich auch dergleichen angewöhnt,
lacht aber immer, wenn ich ihn darauf hin ansehe, und entschuldigt
sich hinterher wegen der Aktenausdrücke. Ihr Herr Gemahl
war freilich schon länger im Dienst und überhaupt wohl
älter ...«
»... Und ich kann mir namentlich nicht denken, dass es gerade
Ihnen, liebe Freundin, beschieden gewesen sein solle, solche Sorgen
und Befürchtungen durchzumachen. Sie haben, Verzeihung, dass
ich diesen Punkt hier so offen berühre, gerade das, was die
Männer einen 'Charme' nennen, Sie sind heiter, fesselnd,
anregend und, wenn es nicht indiskret ist, so möcht ich angesichts
dieser Ihrer Vorzüge wohl fragen dürfen, stützt
sich das, was Sie da sagen, auf allerlei Schmerzliches, das Sie
persönlich erlebt haben?«
»Schmerzliches?«, sagte die Zwicker. »Ach, meine
liebe, gnädigste Frau, Schmerzliches, das ist ein zu großes
Wort, auch dann noch, wenn man vielleicht wirklich manches erlebt
hat. Schmerzlich ist einfach zu viel, viel zu viel. Und dann hat
man doch schließlich auch seine Hilfsmittel und Gegenkräfte.
Sie dürfen dergleichen nicht zu tragisch nehmen.«
»Ich kann mir keine rechte Vorstellung von dem machen, was
Sie anzudeuten belieben. Nicht, als ob ich nicht wüsste,
was Sünde sei, das weiß ich auch; aber es ist doch
ein Unterschied, ob man so hineingerät in allerlei schlechte
Gedanken oder ob einem derlei Dinge zur halben oder auch wohl
zur ganzen Lebensgewohnheit werden. Und nun gar im eigenen Hause ...«
»Überlegen Sie sich das, liebe Freundin. Zwicker saß
immer in Saatwinkel. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn ich das Wort
höre, gibt es mir noch jetzt einen Stich ins Herz. Überhaupt
diese Vergnügungsörter in der Umgegend unseres lieben, alten
Berlin! Denn ich liebe Berlin trotz alledem. Aber schon die bloßen
Namen der dabei in Frage kommenden Ortschaften umschließen
eine Welt von Angst und Sorge. Sie lächeln. Und doch, sagen
Sie selbst, liebe Freundin, was können Sie von einer großen
Stadt und ihren Sittlichkeitszuständen erwarten, wenn Sie
beinah unmittelbar vor den Toren derselben (denn zwischen Charlottenburg
und Berlin ist kein rechter Unterschied mehr) auf kaum tausend
Schritte zusammengedrängt einem Pichelsberg, einem Pichelsdorf
und einem Pichelswerder begegnen. Dreimal Pichel ist zuviel. Sie
können die ganze Welt absuchen, das finden Sie nicht wieder.«
»Und das alles«, fuhr die Zwicker fort, »geschieht
am grünen Holze der Havelseite. Das alles liegt nach Westen
zu, da haben Sie Kultur und höhere Gesittung. Aber nun gehen
Sie, meine Gnädigste, nach der andern Seite hin, die Spree
hinauf. Ich spreche nicht von Treptow und Stralau, das sind Bagatellen,
Harmlosigkeiten, aber wenn Sie die Spezialkarte zur Hand nehmen
wollen, da begegnen Sie neben mindestens sonderbaren Namen wie
Kiekebusch, wie Wuhlheide - Sie hätten hören sollen,
wie Zwicker das Wort aussprach - Namen von geradezu brutalem Charakter,
mit denen ich Ihr Ohr nicht verletzen will. Aber natürlich
sind das gerade die Plätze, die bevorzugt werden. Ich hasse
diese Landpartien, die sich das Volksgemüt als eine Kremserpartie
mit 'Ich bin ein Preuße' vorstellt, in Wahrheit aber schlummern
hier die Keime einer sozialen Revolution. Wenn ich sage soziale
Revolution, so meine ich natürlich moralische Revolution,
alles andere ist bereits wieder überholt, und schon Zwicker
sagte mir noch in seinen letzten Tagen: 'Glaube mir, Sophie, Saturn
frisst seine Kinder.' Und Zwicker, welche Mängel und
Gebrechen er haben mochte, das bin ich ihm schuldig, er war ein
philosophischer Kopf und hatte ein natürliches Gefühl
für historische Entwicklung ... Aber ich sehe, meine liebe
Frau von Innstetten, so artig sie sonst ist, hört nur noch
mit halbem Ohr zu; natürlich, der Postbote hat sich drüben
blicken lassen, und da fliegt denn das Herz hinüber und nimmt
die Liebesworte vorweg aus dem Brief heraus ... Nun, Böselager,
was bringen Sie?«
Effi hörte nicht hin; sie drehte den ihrerseits empfangenen
Brief zwischen den Fingern und hatte eine ihr unerklärliche
Scheu, ihn zu öffnen. Eingeschrieben und mit zwei großen
Siegeln und ein dickes Kuvert. Was bedeutete das? Poststempel:
»Hohen-Cremmen«, und die Adresse von der Handschrift
der Mutter. Von Innstetten, es war der fünfte Tag, keine
Zeile.
Sie nahm eine Stickschere mit Perlmuttergriff und schnitt die
Längsseite des Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer
eine neue Überraschung. Der Briefbogen, ja, das waren eng
beschriebene Zeilen von der Mama, darin eingelegt aber waren Geldscheine
mit einem breiten Papierstreifen drum herum, auf dem mit Rotstift,
und zwar von des Vaters Hand, der Betrag der eingelegten Summe
verzeichnet war. Sie schob das Konvolut zurück und begann
zu lesen, während sie sich in den Schaukelstuhl zurücklehnte.
Aber sie kam nicht weit, die Zeilen entfielen ihr, und aus ihrem
Gesicht war alles Blut fort. Dann bückte sie sich und nahm
den Brief wieder auf.
Und nun erhob sie sich und trat in den Salon zurück, wo sie
sichtlich froh war, einen Halt gewinnen und sich an dem Polysanderflügel
entlangfühlen zu können. So kam sie bis an ihr nach
rechts hin gelegenes Zimmer, und als sie hier tappend und suchend
die Tür geöffnet und das Bett an der Wand gegenüber
erreicht hatte, brach sie ohnmächtig zusammen.
Minuten vergingen. Als Effi sich wieder erholt hatte, setzte sie
sich auf einen am Fenster stehenden Stuhl und sah auf die stille
Straße hinaus. Wenn da doch Lärm und Streit gewesen
wäre; aber nur der Sonnenschein lag auf dem chaussierten
Wege und dazwischen die Schatten, die das Gitter und die Bäume
warfen. Das Gefühl des Alleinseins in der Welt überkam
sie mit seiner ganzen Schwere. Vor einer Stunde noch eine glückliche
Frau, Liebling aller, die sie kannten, und nun ausgestoßen.
Sie hatte nur erst den Anfang des Briefes gelesen, aber genug,
um ihre Lage klar vor Augen zu haben. Wohin? Sie hatte keine Antwort
darauf, und doch war sie voll tiefer Sehnsucht, aus dem herauszukommen,
was sie hier umgab, also fort von dieser Geheimrätin, der das
alles bloß ein »interessanter Fall« war und deren
Teilnahme, wenn etwas davon existierte, sicher an das Maß
ihrer Neugier nicht heranreichte.
Auf dem Tische vor ihr lag der Brief; aber ihr fehlte der Mut,
weiterzulesen. Endlich sagte sie: »Wovor bange ich mich noch?
Was kann noch gesagt werden, das ich mir nicht schon selber sagte?
Der, um den all dies kam, ist tot, eine Rückkehr in mein
Haus gibt es nicht, in ein paar Wochen wird die Scheidung ausgesprochen
sein, und das Kind wird man dem Vater lassen. Natürlich.
Ich bin schuldig, und eine Schuldige kann ihr Kind nicht erziehen.
Und wovon auch? Mich selbst werde ich wohl durchbringen. Ich will
sehen, was die Mama darüber schreibt, wie sie sich mein Leben
denkt.«
»... Und nun deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst dich
auf dich selbst stellen müssen und darfst dabei, so weit äußere
Mittel mitsprechen, unserer Unterstützung sicher sein. Du
wirst am besten in Berlin leben (in einer großen Stadt vertut
sich dergleichen am besten) und wirst da zu den vielen gehören,
die sich um freie Luft und lichte Sonne gebracht haben. Du wirst
einsam leben, und wenn du das nicht willst, wahrscheinlich aus
deiner Sphäre herabsteigen müssen. Die Welt, in der
du gelebt hast, wird dir verschlossen sein. Und was das Traurigste
für uns und für dich ist (auch für dich, wie wir
dich zu kennen vermeinen) - auch das elterliche Haus wird dir
verschlossen sein, wir können dir keinen stillen Platz in
Hohen-Cremmen anbieten, keine Zuflucht in unserem Hause, denn
es hieße das, dies Haus von aller Welt abschließen,
und das zu tun sind wir entschieden nicht geneigt. Nicht weil
wir zu sehr an der Welt hingen und ein Abschiednehmen von dem,
was sich 'Gesellschaft' nennt, uns als etwas unbedingt Unerträgliches
erschiene; nein, nicht deshalb, sondern einfach, weil wir
Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann dir das Wort nicht
ersparen, unsere Verurteilung deines Tuns, des Tuns unseres einzigen
und von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen ...«
Effi konnte nicht weiter lesen; ihre Augen füllten sich mit
Tränen, und nachdem sie vergeblich dagegen angekämpft
hatte, brach sie zuletzt in ein heftiges Schluchzen und Weinen
aus, darin sich ihr Herz erleichterte.
Die Geheimrätin setzte sich so, dass der Tisch mit
einer Blumenschale darauf zwischen ihr und Effi war. Effi zeigte
keine Spur von Verlegenheit und änderte nichts in ihrer Haltung,
nicht einmal die gefalteten Hände. Mit einem Male war es
ihr vollkommen gleichgültig, was die Frau dachte; nur fort
wollte sie.
Die Zwicker, die noch allerlei zu hören hoffte, hatte sich
nur mit Mühe bestimmen lassen, der »Frau Baronin«
beim Abschiede nicht das Geleit zu geben. »Auf einem Bahnhofe«, so
hatte Effi versichert, »sei man immer so zerstreut und nur mit
seinem Platz und seinem Gepäck beschäftigt; gerade Personen,
die man lieb habe, von denen nähme man gern vorher Abschied.«
Die Zwicker bestätigte das, trotzdem sie das Vorgeschützte
darin sehr wohl herausfühlte; sie hatte hinter allen Türen
gestanden und wusste gleich, was echt und unecht war.
Sie freute sich auf den Brief, der einer befreundeten, zur Zeit
in Reichenhall weilenden Berliner Dame zugute kommen sollte. Beider
Seelen hatten sich längst gefunden und gipfelten in einer
der ganzen Männerwelt geltenden starken Skepsis; sie fanden
die Männer durchweg weit zurückbleibend hinter dem,
was billigerweise gefordert werden könne, die sogenannten
»forschen« am meisten. »Die, die vor Verlegenheit
nicht wissen, wo sie hinsehen sollen, sind nach einem kurzen
Vorstudium immer noch die Besten, aber die eigentlichen Don Juans
erweisen sich jedes Mal als eine Enttäuschung. Wo soll es
am Ende auch herkommen.« Das waren so Weisheitssätze,
die zwischen den zwei Freundinnen ausgetauscht wurden.
Die Zwicker war schon auf dem zweiten Bogen und fuhr in ihrem
mehr als dankbaren Thema, das natürlich »Effi«
hieß, eben wie folgt fort: »Alles in allem war sie
sehr zu leiden, artig, anscheinend offen, ohne jeden Adelsdünkel
(oder doch groß in der Kunst, ihn zu verbergen) und immer
interessiert, wenn man ihr etwas Interessantes erzählte,
wovon ich, wie ich dir nicht zu versichern brauche, den ausgiebigsten
Gebrauch machte. Nochmals also, reizende junge Frau, fünfundzwanzig
oder nicht viel mehr. Und doch hab ich dem Frieden nie getraut
und traue ihm auch in diesem Augenblicke noch nicht, ja, jetzt
vielleicht am wenigsten. Die Geschichte heute mit dem Briefe -
da steckt eine wirkliche Geschichte dahinter. Dessen bin ich so
gut wie sicher. Es wäre das erste Mal, dass ich mich
in solcher Sache geirrt hätte. Dass sie mit Vorliebe
von den Berliner Modepredigern sprach und das Maß der Gottseligkeit
jedes Einzelnen feststellte, das, und der gelegentliche Gretchenblick,
der jedes Mal versicherte, kein Wässerchen trüben zu
können - alle diese Dinge haben mich in meinem Glauben ...
Aber da kommt eben unsere Afra, von der ich dir, glaub ich, schon
schrieb, eine hübsche Person, und packt mir ein Zeitungsblatt
auf den Tisch, das ihr, wie sie sagt, unsere Frau Wirtin für
mich gegeben habe; die blau angestrichene Stelle. Nun verzeih,
wenn ich diese Stelle erst lese ...
Nachschrift. Das Zeitungsblatt war interessant genug und kam wie
gerufen. Ich schneide die blau angestrichene Stelle heraus und
lege sie diesen Zeilen bei. Du siehst daraus, dass ich mich
nicht geirrt habe. Wer mag nur der Crampas sein?
Es ist unglaublich - erst selber Zettel und Briefe schreiben und
dann auch noch die des anderen aufbewahren! Wozu gibt es Öfen
und Kamine? So lange wenigstens, wie dieser Duellunsinn noch existiert,
darf dergleichen nicht vorkommen; einem kommenden Geschlechte kann
diese Briefschreibepassion (weil dann gefahrlos geworden) vielleicht
freigegeben werden. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Übrigens
bin ich voll Mitleid mit der jungen Baronin und finde, eitel wie
man nun mal ist, meinen einzigen Trost darin, mich in der Sache
selbst nicht getäuscht zu haben. Und der Fall lag nicht so
ganz gewöhnlich. Ein schwächerer Diagnostiker hätte
sich doch vielleicht hinters Licht führen lassen. Wie immer
Drei Jahre waren vergangen, und Effi bewohnte seit fast ebenso
langer Zeit eine kleine Wohnung in der Königgrätzer Straße
zwischen Askanischem Platz und Halleschem Tor: ein
Vorder- und Hinterzimmer und hinter diesem die Küche mit
Mädchengelass, alles so durchschnittsmäßig
und alltäglich wie nur möglich. Und doch war es eine
apart hübsche Wohnung, die jedem, der sie sah, angenehm auffiel,
am meisten vielleicht dem alten Geheimrat Rummschüttel, der,
dann und wann vorsprechend, der armen jungen Frau nicht bloß
die nun weit zurückliegende Rheumatismus- und Neuralgie-Komödie,
sondern auch alles, was seitdem sonst noch vorgekommen war, längst
verziehen hatte, wenn es für ihn der Verzeihung überhaupt
bedurfte. Denn Rummschüttel kannte noch ganz anderes.
Er war jetzt ausgangs siebzig, aber wenn Effi, die seit einiger
Zeit ziemlich viel kränkelte, ihn brieflich um seinen Besuch
bat, so war er am anderen Vormittag auch da und wollte von Entschuldigungen,
dass es so hoch sei, nichts wissen. »Nur keine Entschuldigungen,
meine liebe, gnädigste Frau; denn erstens ist es mein Metier,
und zweitens bin ich glücklich und beinahe stolz, die drei
Treppen so gut noch steigen zu können. Wenn ich nicht fürchten
müsste, Sie zu belästigen - denn ich komme doch
schließlich als Arzt und nicht als Naturfreund und Landschaftsschwärmer
-, so käme ich wohl noch öfter, bloß um Sie zu
sehen und mich hier etliche Minuten an Ihr Hinterfenster zu setzen.
Ich glaube, Sie würdigen den Ausblick nicht genug.«
»O doch, doch«, sagte Effi; Rummschüttel aber ließ
sich nicht stören und fuhr fort: »Bitte, meine gnädigste
Frau, treten Sie hier heran, nur einen Augenblick, oder erlauben
Sie mir, dass ich Sie bis an das Fenster führe. Wieder
ganz herrlich heute. Sehen Sie doch nur die verschiedenen Bahndämme,
drei, nein vier, und wie es beständig darauf hin- und hergleitet ...
und nun verschwindet der Zug da wieder hinter einer
Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne den weißen
Rauch durchleuchtet! Wäre der Matthäikirchhof nicht
unmittelbar dahinter, so wäre es ideal.«
»Ja, Sie dürfen das sagen. Aber unsereins! Unsereinem
kommt unabweislich immer die Frage, könnten hier nicht vielleicht
einige weniger liegen? Im Übrigen, meine gnädigste Frau,
bin ich mit Ihnen zufrieden und beklage nur, dass Sie von
Ems nichts wissen wollen; Ems bei Ihren katarrhalischen Affektionen
würde Wunder ...«
»Ems würde Wunder tun. Aber da Sie's nicht mögen
(und ich finde mich darin zurecht), so trinken Sie den Brunnen
hier. In drei Minuten sind Sie im Prinz Albrecht'schen Garten,
und wenn auch die Musik und die Toiletten und all die Zerstreuungen
einer regelrechten Brunnenpromenade fehlen, der Brunnen selbst
ist doch die Hauptsache.«
Effi war einverstanden, und Rummschüttel nahm Hut und Stock.
Aber er trat noch einmal an das Fenster heran. »Ich höre
von einer Terrassierung des Kreuzbergs sprechen, Gott segne die
Stadtverwaltung, und wenn dann erst die kahle Stelle da hinten
mehr in Grün stehen wird ... Eine reizende Wohnung. Ich könnte
Sie fast beneiden ... Und was ich schon längst einmal sagen
wollte, meine gnädige Frau, Sie schreiben mir immer einen
so liebenswürdigen Brief. Nun, wer freute sich dessen nicht?
Aber es ist doch jedes Mal eine Mühe ... Schicken Sie mir
doch einfach Roswitha.«
»Schicken Sie mir doch einfach Roswitha ...«, hatte
Rummschüttel gesagt. Ja, war denn Roswitha bei Effi? War
sie denn statt in der Keith- in der Königgrätzer Straße?
Gewiss war sie's und zwar sehr lange schon, gerade so lange,
wie Effi selbst in der Königgrätzer Straße wohnte.
Schon drei Tage vor diesem Einzug hatte sich Roswitha bei ihrer
lieben gnädigen Frau sehen lassen, und das war ein großer
Tag für beide gewesen, so sehr, dass dieses Tages hier
noch nachträglich gedacht werden muss.
Effi hatte damals, als der elterliche Absagebrief aus Hohen-Cremmen
kam und sie mit dem Abendzuge von Ems nach Berlin zurückreiste,
nicht gleich eine selbständige Wohnung genommen, sondern
es mit einem Unterkommen in einem Pensionate versucht. Es war ihr
damit auch leidlich geglückt. Die beiden Damen, die dem Pensionate
vorstanden, waren gebildet und voll Rücksicht und hatten
es längst verlernt, neugierig zu sein. Es kam da so vieles
zusammen, dass ein Eindringenwollen in die Geheimnisse jedes
Einzelnen viel zu umständlich gewesen wäre. Dergleichen
hinderte nur den Geschäftsgang. Effi, die die mit den Augen
angestellten Kreuzverhöre der Zwicker noch in Erinnerung
hatte, fühlte sich denn auch von dieser Zurückhaltung
der Pensionsdamen sehr angenehm berührt, als aber vierzehn
Tage vorüber waren, empfand sie doch deutlich, dass
die hier herrschende Gesamtatmosphäre, die physische wie
die moralische, nicht wohl ertragbar für sie sei. Bei Tisch
waren sie zumeist zu sieben, und zwar außer Effi und der einen
Pensionsvorsteherin (die andere leitete draußen das Wirtschaftliche)
zwei die Hochschule besuchende Engländerinnen, eine adelige
Dame aus Sachsen, eine sehr hübsche galizische Jüdin,
von der niemand wusste, was sie eigentlich vorhatte, und
eine Kantorstochter aus Polzin in Pommern, die Malerin werden
wollte. Das war eine schlimme Zusammensetzung, und die gegenseitigen
Überheblichkeiten, bei denen die Engländerinnen merkwürdigerweise
nicht absolut obenan standen, sondern mit der vom höchsten
Malergefühl erfüllten Polzinerin um die Palme rangen,
waren unerquicklich; dennoch wäre Effi, die sich passiv verhielt,
über den Druck, den diese geistige Atmosphäre übte,
hinweggekommen, wenn nicht, rein physisch und äußerlich,
die sich hinzugesellende Pensionsluft gewesen wäre. Woraus
sich diese eigentlich zusammensetzte, war vielleicht überhaupt
unerforschlich, aber dass sie der sehr empfindlichen Effi
den Atem raubte, war nur zu gewiss, und so sah sie sich
aus diesem äußerlichen Grunde sehr bald schon zur
Aus- und Umschau nach einer anderen Wohnung gezwungen, die sie
denn auch in verhältnismäßiger Nähe fand.
Es war dies die vorgeschilderte Wohnung in der Königgrätzer Straße.
Sie sollte dieselbe zu Beginn des Herbstvierteljahres
beziehen, hatte das Nötige dazu beschafft und zählte
während der letzten Septembertage die Stunden bis zur Erlösung
aus dem Pensionat.
Das eine Hausmädchen, eine kränklich aussehende Person
von Mitte dreißig, die, durch beständigen Aufenthalt
auf dem Korridor des Pensionats, den hier lagernden Dunstkreis
überallhin in ihren Falten mitschleppte, trat ein und sagte:
Die gnädige Frau möchte entschuldigen, aber es wolle
sie jemand sprechen.
»Roswitha. Du. Ist das eine Freude. Was bringst du? Natürlich
was Gutes. Ein so gutes altes Gesicht kann nur was Gutes bringen.
Ach, wie glücklich ich bin, ich könnte dir einen Kuss
geben; ich hätte nicht gedacht, dass ich noch solche
Freude haben könnte. Mein gutes altes Herz, wie geht es dir
denn? Weißt du noch, wie's damals war, als der Chinese spukte?
Das waren glückliche Zeiten. Ich habe damals gedacht, es
wären unglückliche, weil ich das Harte des Lebens noch
nicht kannte. Seitdem habe ich es kennen gelernt. Ach, Spuk ist
lange nicht das Schlimmste! Komm, meine gute Roswitha, komm, setze
dich hier zu mir und erzähle mir ... Ach, ich habe solche
Sehnsucht. Was macht Annie?«
Roswitha konnte kaum reden und sah sich in dem sonderbaren Zimmer
um, dessen grau und verstaubt aussehende Wände in schmale
Goldleisten gefasst waren. Endlich aber fand sie sich und
sagte, dass der gnädige Herr nun wieder aus Glatz zurück
sei; der alte Kaiser habe gesagt, sechs Wochen in solchem Falle
sei gerade genug, und auf den Tag, wo der gnädige Herr wieder
da sein würde, darauf habe sie bloß gewartet, wegen
Annie, die doch eine Aufsicht haben müsse. Denn Johanna sei
wohl eine sehr propre Person, aber sie sei doch noch zu hübsch
und beschäftige sich noch zuviel mit sich selbst und denke
vielleicht Gott weiß was alles. Aber nun, wo der gnädige
Herr wieder aufpassen und in allem nach dem Rechten sehen könne,
da habe sie sich's doch antun wollen und mal sehen, wie's der
gnädigen Frau gehe ...
Effi hatte sich in die Sofaecke zurückgelehnt und die Augen
geschlossen. Aber mit eins richtete sie sich auf und sagte: »Ja,
Roswitha, was du da sagst, das ist ein Gedanke; das ist was. Denn
du musst wissen, ich bleibe hier nicht in dieser Pension,
ich habe da weiterhin eine Wohnung gemietet und auch Einrichtung
besorgt und in drei Tagen will ich da einziehen. Und wenn ich
da mit dir ankäme und zu dir sagen könnte: 'Nein, Roswitha,
da nicht, der Schrank muss dahin und der Spiegel da', ja,
das wäre was, das sollte mir schon gefallen. Und wenn wir
dann müde von all der Plackerei wären, dann sagte ich:
'Nun, Roswitha, gehe da hinüber und hole uns eine Karaffe
Spatenbräu, denn wenn man gearbeitet hat, dann will man doch
auch trinken, und wenn du kannst, so bring uns auch etwas Gutes
aus dem Habsburger Hof mit, du kannst ja das Geschirr nachher
wieder herüberbringen,-' ja, Roswitha, wenn ich mir das denke,
da wird mir ordentlich leichter ums Herz. Aber ich muss dich
doch fragen, hast du dir auch alles überlegt? Von Annie will
ich nicht sprechen, an der du doch hängst, sie ist ja fast
wie dein eigen Kind, - aber trotzdem, für Annie wird schon
gesorgt werden, und die Johanna hängt ja auch an ihr. Also
davon nichts. Aber bedenke, wie sich alles verändert hat,
wenn du wieder zu mir willst. Ich bin nicht mehr wie damals; ich
habe jetzt eine ganz kleine Wohnung genommen, und der Portier
wird sich wohl nicht sehr um dich und um mich bemühen. Und
wir werden eine sehr kleine Wirtschaft haben, immer das, was wir
sonst unser Donnerstag-Essen nannten, weil da rein gemacht wurde.
Weißt du noch? Und weißt du noch, wie der gute Gieshübler
mal dazu kam und sich zu uns setzen musste, und wie er dann
sagte: 'So was Delikates habe er noch nie gegessen.' Du wirst dich
noch erinnern, er war immer so schrecklich artig, denn eigentlich
war er doch der einzige Mensch in der Stadt, der von Essen was
verstand. Die andern fanden alles schön.«
Roswitha freute sich über jedes Wort und sah schon alles
in bestem Gange, bis Effi wieder sagte: »Hast du dir das
alles überlegt? Denn du bist doch - ich muss das sagen,
wiewohl es meine eigne Wirtschaft war -, du bist doch nun durch
viele Jahre hin verwöhnt, und es kam nie darauf an, wir hatten
es nicht nötig, sparsam zu sein; aber jetzt muss ich
sparsam sein, denn ich bin arm und habe nur, was man mir gibt,
du weißt von Hohen-Cremmen her. Meine Eltern sind sehr
gut gegen mich, soweit sie's können, aber sie sind nicht
reich. Und nun sage, was meinst du?«
»Und dann, gnädige Frau, Sie brauchen sich wegen meiner
nicht zu fürchten, als ob ich mal denken könnte: 'Für
Roswitha ist das nicht gut genug.' Für Roswitha ist alles
gut, was sie mit der gnädigen Frau teilen muss, und
am liebsten, wenn es was Trauriges ist. Ja, darauf freue ich mich
schon ordentlich. Dann sollen Sie mal sehen, das verstehe ich.
Und wenn ich es nicht verstünde, dann wollte ich es schon
lernen. Denn, gnädige Frau, das hab ich nicht vergessen,
als ich da auf dem Kirchhof saß, mutterwindallein und bei
mir dachte, nun wäre es doch wohl das Beste, ich läge
da gleich mit in der Reihe. Wer kam da? Wer hat mich da bei Leben
erhalten? Ach, ich habe soviel durchzumachen gehabt. Als mein
Vater damals mit der glühenden Stange auf mich loskam ...
«
Wenige Tage danach bezog Effi, von Roswitha unterstützt,
ihre Wohnung in der Königgrätzer Straße, darin
es ihr von Anfang an gefiel. Umgang fehlte freilich, aber sie
hatte während ihrer Pensionstage von dem Verkehr mit Menschen
so wenig Erfreuliches gehabt, dass ihr das Alleinsein nicht
schwer fiel, wenigstens anfänglich nicht. Mit Roswitha ließ
sich allerdings kein ästhetisches Gespräch führen,
auch nicht mal sprechen über das, was in der Zeitung stand;
aber wenn es einfach menschliche Dinge betraf und Effi mit einem
'Ach, Roswitha, mich ängstigt es wieder ...' ihren
Satz begann, dann wusste die treue Seele jedes Mal gut zu
antworten und hatte immer Trost und meist auch Rat.
Bis Weihnachten ging es vorzüglich; aber der Heiligabend
verlief schon recht traurig, und als das neue Jahr herankam, begann
Effi ganz schwermütig zu werden. Es war nicht kalt, nur grau
und regnerisch, und wenn die Tage kurz waren, so waren die Abende
desto länger. Was tun? Sie las, sie stickte, sie legte Patience,
sie spielte Chopin, aber diese Nocturnes waren auch nicht angetan,
viel Licht in ihr Leben zu tragen, und wenn Roswitha mit dem Teebrett
kam und außer dem Teezeug auch noch zwei Tellerchen mit
einem Ei und einem in kleine Scheiben geschnittenen Wiener Schnitzel
auf den Tisch setzte, sagte Effi, während sie das Piano schloss:
»Rücke heran, Roswitha. Leiste mir Gesellschaft.«
»Ach, Roswitha, der Geheimrat hat leicht verbieten, und du
hast es auch leicht, all das nachzusprechen. Aber was soll ich
denn machen? Ich kann doch nicht den ganzen Tag am Fenster sitzen
und nach der Christuskirche hinübersehen. Sonntags beim
Abendgottesdienst, wenn die Fenster beleuchtet sind, sehe ich
ja immer hinüber; aber es hilft mir auch nichts, mir wird
dann immer noch schwerer ums Herz.«
»O schon öfters. Aber ich habe nicht viel davon gehabt.
Er predigt ganz gut und ist ein sehr kluger Mann, und ich wäre
froh, wenn ich das Hundertste davon wüsste. Aber es
ist doch alles bloß, wie wenn ich ein Buch lese; und wenn
er dann so laut spricht und herumficht und seine schwarzen Locken
schüttelt, dann bin ich aus meiner Andacht heraus.«
Effi lachte. »Du meinst, ich war noch gar nicht drin. Und
es wird wohl so sein. Aber an wem liegt das? Das liegt doch nicht
an mir. Er spricht immer soviel vom Alten Testament. Und wenn
es auch ganz gut ist, es erbaut mich nicht. Überhaupt all
das Zuhören; es ist nicht das Rechte. Sieh, ich müsste
so viel zu tun haben, dass ich nicht ein noch aus wüsste.
Das wäre was für mich. Da gibt es so Vereine, wo junge
Mädchen die Wirtschaft lernen oder Nähschulen oder
Kindergärtnerinnen. Hast du nie davon gehört?«
»Nun, siehst du, du weißt es besser als ich. Und in
solchen Verein, wo man sich nützlich machen kann, da möchte
ich eintreten. Aber daran ist gar nicht zu denken; die Damen nehmen
mich nicht an und können es auch nicht. Und das ist das Schrecklichste,
dass einem die Welt so zu ist und dass es sich einem
sogar verbietet, bei Gutem mit dabei zu sein. Ich kann nicht mal
armen Kindern eine Nachhilfestunde geben ...«
Und es fand sich auch was. Effi, trotz der Kantorstochter aus
Polzin, deren Künstlerdünkel ihr immer noch als etwas
Schreckliches vorschwebte, wollte Malerin werden, und wiewohl
sie selber darüber lachte, weil sie sich bewusst war,
über eine unterste Stufe des Dilettantismus nie hinauskommen
zu können, so griff sie doch mit Passion danach, weil sie
nun eine Beschäftigung hatte, noch dazu eine, die, weil still
und geräuschlos, ganz nach ihrem Herzen war. Sie meldete
sich denn auch bei einem ganz alten Malerprofessor, der in der
märkischen Aristokratie sehr bewandert und zugleich so fromm
war, dass ihm Effi von Anfang an ans Herz gewachsen erschien.
Hier, so gingen wohl seine Gedanken, war eine Seele zu retten,
und so kam er ihr, als ob sie seine Tochter gewesen wäre,
mit einer ganz besonderen Liebenswürdigkeit entgegen. Effi
war sehr glücklich darüber, und der Tag ihrer ersten
Malstunde bezeichnete für sie einen Wendepunkt zum Guten.
Ihr armes Leben war nun nicht so arm mehr, und Roswitha triumphierte,
dass sie Recht gehabt und sich nun doch etwas gefunden habe.
Das ging so Jahr und Tag und darüber hinaus. Aber dass
sie nun wieder eine Berührung mit den Menschen hatte, wie
sie's beglückte, so ließ es auch wieder den Wunsch
in ihr entstehen, dass diese Berührungen sich erneuern
und mehren möchten. Sehnsucht nach Hohen-Cremmen erfasste
sie mitunter mit einer wahren Leidenschaft, und noch leidenschaftlicher
sehnte sie sich danach, Annie wiederzusehen. Es war doch ihr Kind,
und wenn sie dem nachhing und sich dabei gleichzeitig der Trippelli
erinnerte, die mal gesagt hatte, die Welt sei so klein und in
Mittelafrika könne man sicher sein, plötzlich einem
alten Bekannten zu begegnen, so war sie mit Recht verwundert,
Annie noch nie getroffen zu haben. Aber auch das sollte sich eines
Tages ändern. Sie kam aus der Malstunde, dicht am Zoologischen
Garten, und stieg nahe dem Halteplatz in einen die lange Kurfürstenstraße
passierenden Pferdebahnwagen ein. Es war sehr heiß, und
die herabgelassenen Vorhänge, die bei dem starken Luftzuge,
der ging, hin- und herbauschten, taten ihr wohl. Sie lehnte sich
in die dem Vorderperron zugekehrte Ecke und musterte eben mehrere
in eine Glasscheibe eingebrannte Sofas, blau mit Quasten und Puscheln
daran, als sie - der Wagen war gerade in einem langsamen Fahren
- drei Schulkinder aufspringen sah, die Mappen auf dem Rücken,
mit kleinen spitzen Hüten, zwei blond und ausgelassen, die
dritte dunkel und ernst. Es war Annie. Effi fuhr heftig zusammen,
und eine Begegnung mit dem Kinde zu haben, wonach sie sich doch
so lange gesehnt, erfüllte sie jetzt mit einer wahren Todesangst.
Was tun? Rasch entschlossen öffnete sie die Tür zu dem
Vorderperron, auf dem niemand stand als der Kutscher, und bat
diesen, sie bei der nächsten Haltestelle vorn absteigen zu
lassen. »Is verboten, Fräulein«, sagte der Kutscher;
sie gab ihm aber ein Geldstück und sah ihn so bittend an,
dass der gutmütige Mensch anderen Sinnes wurde und vor sich
hin sagte: »Sind soll es eigentlich nich; aber es wird ja
woll mal gehn.« Und als der Wagen hielt, nahm er das Gitter
aus und Effi sprang ab.
»Denke dir, Roswitha, ich habe Annie gesehen.« Und nun
erzählte sie von der Begegnung in dem Pferdebahnwagen. Roswitha
war unzufrieden, dass Mutter und Tochter keine Wiedersehensszene
gefeiert hatten und ließ sich nur ungern überzeugen,
dass das in Gegenwart so vieler Menschen nicht wohl angegangen
sei. Dann musste Effi erzählen, wie Annie ausgesehen
habe, und als sie das mit mütterlichem Stolz getan, sagte
Roswitha: »Ja, sie ist so halb und halb. Das Hübsche
und, wenn ich es sagen darf, das Sonderbare, das hat sie von der
Mama; aber das Ernste, das ist ganz der Papa. Und wenn ich mir
so alles überlege, ist sie doch wohl mehr wie der gnädige
Herr.«
Damit brach das Gespräch ab und wurde auch nicht wieder aufgenommen.
Aber Effi, wenn sie's auch vermied, grade über Annie mit
Roswitha zu sprechen, konnte die Begegnung in ihrem Herzen doch
nicht verwinden und litt unter der Vorstellung, vor ihrem eigenen
Kinde geflohen zu sein. Es quälte sie bis zur Beschämung,
und das Verlangen nach einer Begegnung mit Annie steigerte sich
bis zum Krankhaften. An Innstetten schreiben und ihn darum bitten,
das war nicht möglich. Ihrer Schuld war sie sich wohl bewusst,
ja, sie nährte das Gefühl davon mit einer halb leidenschaftlichen
Geflissentlichkeit; aber inmitten ihres Schuldbewusstseins
fühlte sie sich andererseits auch von einer gewissen Auflehnung
gegen Innstetten erfüllt. Sie sagte sich, er hatte Recht
und noch einmal und noch einmal, und zuletzt hatte er doch Unrecht.
Alles Geschehene lag so weit zurück, ein neues Leben hatte
begonnen, - er hätte es können verbluten lassen, statt
dessen verblutete der arme Crampas.
Gleich am andern Vormittage kleidete sie sich sorgfältig in
ein dezentes Schwarz und ging auf die Linden zu, sich hier bei
der Ministerin melden zu lassen. Sie schickte ihre Karte hinein,
auf der nur stand: Effi von Innstetten, geb. von Briest. Alles
andere war fortgelassen, auch die Baronin. »Exzellenz lassen
bitten«, und Effi folgte dem Diener bis in ein Vorzimmer,
wo sie sich niederließ und trotz der Erregung, in der sie
sich befand, den Bilderschmuck an den Wänden musterte. Da
war zunächst Guido Renis Aurora, gegenüber aber hingen
englische Kupferstiche, Stiche nach Benjamin West in der bekannten
Aquatinta-Manier von viel Licht und Schatten. Eines der Bilder
war König Lear im Unwetter auf der Heide.
Effi hatte ihre Musterung kaum beendet, als die Tür des angrenzenden
Zimmers sich öffnete und eine große schlanke Dame
von einem sofort für sie einnehmenden Ausdruck auf die Bittstellerin
zutrat und ihr die Hand reichte. »Meine liebe, gnädigste
Frau«, sagte sie, »welche Freude für mich, Sie
wiederzusehen ...«
»Wenn ich sage, in drei Jahren nicht gesehen, so ist das nicht ganz
richtig. Vor drei Tagen habe ich sie wiedergesehen.« Und
nun schilderte Effi mit großer Lebendigkeit die Begegnung,
die sie mit Annie gehabt hatte. »Vor meinem eigenen Kinde
auf der Flucht. Ich weiß wohl, man liegt, wie man sich bettet,
und ich will nichts ändern in meinem Leben. Wie es ist, so
ist es recht; ich habe es nicht anders gewollt. Aber das mit dem
Kinde, das ist doch zu hart, und so habe ich denn den Wunsch,
es dann und wann sehen zu dürfen, nicht heimlich und verstohlen,
sondern mit Wissen und Zustimmung aller Beteiligten.«
»Unter Wissen und Zustimmung aller Beteiligten«, wiederholte
die Ministerin Effis Worte. »Das heißt also unter Zustimmung
Ihres Herrn Gemahls. Ich sehe, dass seine Erziehung dahin
geht, das Kind von der Mutter fernzuhalten, ein Verfahren, über
das ich mir kein Urteil erlaube. Vielleicht, dass er Recht
hat; verzeihen Sie mir diese Bemerkung, gnädige Frau.«
Effi drückte noch einmal ihre Zustimmung aus, während
die Ministerin fortfuhr: »Ich werde also tun, meine gnädigste
Frau, was ich tun kann. Aber wir werden es nicht eben leicht haben.
Ihr Herr Gemahl, verzeihen Sie, dass ich ihn nach wie vor
so nenne, ist ein Mann, der nicht nach Stimmungen und Laune, sondern
nach Grundsätzen handelt, und diese fallen zu lassen oder auch
nur momentan aufzugeben wird ihn hart ankommen. Läg es
nicht so, so wäre seine Handlungs- und Erziehungsweise längst
eine andere gewesen. Das, was hart für Ihr Herz ist, hält
er für richtig.«
»Doch nicht. Ich wollte nur das Tun Ihres Herrn Gemahls erklären,
um nicht zu sagen rechtfertigen, und wollte zugleich die Schwierigkeiten
andeuten, auf die wir aller Wahrscheinlichkeit nach stoßen
werden. Aber ich denke, wir zwingen es trotzdem. Denn wir Frauen,
wenn wir's klug einleiten und den Bogen nicht überspannen,
wissen mancherlei durchzusetzen. Zudem gehört Ihr Herr Gemahl
zu meinen besonderen Verehrern, und er wird mir eine Bitte, die
ich an ihn richte, nicht wohl abschlagen. Wir haben morgen einen
kleinen Zirkel, auf dem ich ihn sehe, und übermorgen früh
haben Sie ein paar Zeilen von mir, die Ihnen sagen werden, ob
ich's klug, das heißt glücklich eingeleitet oder nicht.
Ich denke, wir siegen in der Sache, und Sie werden Ihr Kind wiedersehen
und sich seiner freuen. Es soll ein sehr schönes Mädchen
sein. Nicht zu verwundern.«
Am zweitfolgenden Tage trafen, wie versprochen, einige Zeilen
ein, und Effi las: »Es freut mich, liebe gnädige Frau,
Ihnen gute Nachricht geben zu können. Alles ging nach Wunsch;
Ihr Herr Gemahl ist zu sehr Mann von Welt, um einer Dame eine
von ihr vorgetragene Bitte abschlagen zu können; zugleich
aber - auch das darf ich Ihnen nicht verschweigen -, ich
sah deutlich, dass sein 'Ja' nicht dem entsprach, was er
für klug und recht hält. Aber kritteln wir nicht, wo
wir uns freuen sollen. Ihre Annie, so haben wir es verabredet,
wird über Mittag kommen, und ein guter Stern stehe über
Ihrem Wiedersehen.«
Es war mit der zweiten Post, dass Effi diese Zeilen empfing,
und bis zu Annies Erscheinen waren mutmaßlich keine zwei
Stunden mehr. Eine kurze Zeit, aber immer noch zu lang, und Effi
schritt in Unruhe durch beide Zimmer und dann wieder in die Küche,
wo sie mit Roswitha von allem Möglichen sprach: von dem Efeu
drüben an der Christuskirche, nächstes Jahr würden
die Fenster wohl ganz zugewachsen sein, von dem Portier, der den
Gashahn wieder so schlecht zugeschraubt habe (sie würden
doch noch nächstens in die Luft fliegen) und dass sie
das Petroleum doch lieber wieder aus der großen Lampenhandlung
Unter den Linden als aus der Anhaltstraße holen solle, -
von allem Möglichen sprach sie, nur von Annie nicht, weil
sie die Furcht nicht aufkommen lassen wollte, die trotz der Zeilen
der Ministerin oder vielleicht auch um dieser Zeilen willen
in ihr lebte.
Nun war Mittag. Endlich wurde geklingelt, schüchtern, und
Roswitha ging, um durch das Guckloch zu sehen. Richtig, es war
Annie. Roswitha gab dem Kinde einen Kuss, sprach aber sonst
kein Wort, und ganz leise, wie wenn ein Kranker im Hause wäre,
führte sie das Kind vom Korridor her erst in die Hinterstube
und dann bis an die nach vorn führende Tür.
»Annie, mein süßes Kind, wie freue ich mich. Komm,
erzähle mir«, und dabei nahm sie Annie bei der Hand
und ging auf das Sofa zu, um sich da zu setzen. Annie stand aufrecht
und griff, während sie die Mutter immer noch scheu ansah,
mit der Linken nach dem Zipfel der herabhängenden Tischdecke.
»Weißt du wohl, Annie, dass ich dich einmal gesehen
habe?«
»Und nun erzähle mir recht viel. Wie groß du geworden
bist! Und das ist die Narbe da; Roswitha hat mir davon erzählt.
Du warst immer so wild und ausgelassen beim Spielen. Das hast
du von deiner Mama, die war auch so. Und in der Schule? Ich denke
mir, du bist immer die Erste, du siehst mir so aus, als müsstest
du eine Musterschülerin sein und immer die besten Zensuren
nach Hause bringen. Ich habe auch gehört, dass dich
das Fräulein von Wedelstädt so gelobt haben soll. Das
ist recht; ich war auch so ehrgeizig, aber ich hatte nicht solche
gute Schule. Mythologie war immer mein Bestes. Worin bist du denn
am besten?«
Und bei diesem dritten »Wenn ich darf« war das Maß
voll; Effi sprang auf, und ein Blick, in dem es wie Empörung
aufflammte, traf das Kind. »Ich glaube, es ist die höchste
Zeit, Annie; Johanna wird sonst ungeduldig.« Und sie zog
die Klingel. Roswitha, die schon im Nebenzimmer war, trat gleich
ein. »Roswitha, gib Annie das Geleit bis drüben zur
Kirche. Johanna wartet da. Hoffentlich hat sie sich nicht erkältet.
Es sollte mir Leid tun. Grüße Johanna.«
Kaum aber, dass Roswitha draußen die Tür ins Schloss
gezogen hatte, so riss Effi, weil sie zu ersticken drohte,
ihr Kleid auf und verfiel in ein krampfhaftes Lachen. »So
also sieht ein Wiedersehen aus«, und dabei stürzte sie
nach vorn, öffnete die Fensterflügel und suchte nach
etwas, das ihr beistehe. Und sie fand auch was in der Not ihres
Herzens. Da neben dem Fenster war ein Bücherbrett, ein paar
Bände von Schiller und Körner darauf, und auf den Gedichtbüchern,
die alle gleiche Höhe hatten, lag eine Bibel und ein Gesangbuch.
Sie griff danach, weil sie was haben musste, vor dem sie
knien und beten konnte, und legte Bibel und Gesangbuch auf den
Tischrand, gerade da, wo Annie gestanden hatte, und mit einem
heftigen Ruck warf sie sich davor nieder und sprach halblaut vor
sich hin: »O du Gott im Himmel, vergib mir, was ich getan;
ich war ein Kind ... Aber nein, nein, ich war kein Kind, ich war
alt genug, um zu wissen, was ich tat. Ich hab es auch gewusst,
und ich will meine Schuld nicht kleiner machen, ... aber das
ist zuviel. Denn das hier mit dem Kinde, das bist nicht du,
Gott, der mich strafen will, das ist er, bloß
er! Ich habe geglaubt, dass er ein edles Herz habe, und habe
mich immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß
ich, dass er es ist, er ist klein. Und weil er klein
ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam. Das hat
er dem Kinde beigebracht, ein Schulmeister war er immer, Crampas
hat ihn so genannt, spöttisch damals, aber er hat Recht gehabt.
'0 gewiss, wenn ich darf.' Du brauchst nicht zu dürfen;
ich will euch nicht mehr, ich hass euch, auch mein eigen Kind.
Was zuviel ist, ist zuviel. Ein Streber war er, weiter nichts.
- Ehre, Ehre, Ehre ... und dann hat er den armen Kerl totgeschossen,
den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil
ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und nun Blut und Mord.
Und ich schuld. Und nun schickt er mir das Kind, weil er einer
Ministerin nichts abschlagen kann, und ehe er das Kind schickt,
richtet er's ab wie einen Papagei und bringt ihm die Phrase bei
'Wenn ich darf'. Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch
mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch. Ich muss leben,
aber ewig wird es ja wohl nicht dauern.«
Rummschüttel, als er gerufen wurde, fand Effis Zustand nicht
unbedenklich. Das Hektische, das er seit Jahr und Tag an ihr beobachtete,
trat ihm ausgesprochener als früher entgegen, und, was schlimmer
war, auch die ersten Zeichen eines Nervenleidens waren da. Seine
ruhig freundliche Weise aber, der er einen Beisatz von Laune zu
geben wusste, tat Effi wohl, und sie war ruhig, solange Rummschüttel
um sie war. Als er schließlich ging, begleitete Roswitha
den alten Herrn bis in den Vorflur und sagte: »Gott, Herr
Geheimrat, mir ist so bange; wenn es nu mal wiederkommt, und es
kann doch; Gott, - da hab ich ja keine ruhige Stunde mehr. Es
war aber doch auch zuviel, das mit dem Kind. Die arme gnädige
Frau. Und noch so jung, wo manche erst anfangen.«
Den zweiten Tag danach traf ein Brief in Hohen-Cremmen ein, der
lautete: »Gnädigste Frau! Meine alten freundschaftlichen
Beziehungen zu den Häusern Briest und Belling, und nicht zum
wenigsten die herzliche Liebe, die ich zu Ihrer Frau Tochter hege,
werden diese Zeilen rechtfertigen. Es geht so nicht weiter. Ihre
Frau Tochter, wenn nicht etwas geschieht, das sie der Einsamkeit
und dem Schmerzlichen ihres nun seit Jahren geführten Lebens
entreißt, wird schnell hinsiechen. Eine Disposition zu Phtisis
war immer da, weshalb ich schon vor Jahren Ems verordnete; zu diesem
alten Übel hat sich nun ein neues gesellt: ihre Nerven zehren
sich auf. Dem Einhalt zu tun, ist ein Luftwechsel nötig.
Aber wohin? Es würde nicht schwer sein, in den schlesischen
Bädern eine Auswahl zu treffen, Salzbrunn gut, und Reinerz
wegen der Nervenkomplikation noch besser. Aber es darf nur Hohen-Cremmen
sein. Denn, meine gnädigste Frau, was Ihrer Frau Tochter
Genesung bringen kann, ist nicht Luft allein; sie siecht hin,
weil sie nichts hat als Roswitha. Dienertreue ist schön,
aber Elternliebe ist besser. Verzeihen Sie einem alten Manne dies
Sicheinmischen in Dinge, die jenseits seines ärztlichen Berufes
liegen. Und doch auch wieder nicht, denn es ist schließlich
auch der Arzt, der hier spricht und seiner Pflicht nach, verzeihen
Sie dies Wort, Forderungen stellt ... Ich habe so viel vom Leben
gesehen ... aber nichts mehr in diesem Sinne. Mit der Bitte, mich
Ihrem Herrn Gemahl empfehlen zu wollen, in vorzüglicher Ergebenheit
Doktor Rummschüttel.«
Frau von Briest hatte den Brief ihrem Manne vorgelesen; beide
saßen auf dem schattigen Steinfliesengange, den Gartensaal
im Rücken, das Rondell mit der Sonnenuhr vor sich.
Der um die Fenster sich rankende wilde Wein bewegte sich
leis in dem Luftzuge, der ging, und über dem Wasser standen
ein paar Libellen im hellen Sonnenschein.
»Ach, Luise, was soll ich sagen. Dass ich trommle, sagt
gerade genug. Du weißt seit Jahr und Tag, wie ich darüber
denke. Damals, als Innstettens Brief kam, ein Blitz aus heiterem
Himmel, damals war ich deiner Meinung. Aber das ist nun schon
wieder eine halbe Ewigkeit her; soll ich hier bis an mein Lebensende
den Großinquisitor spielen? Ich kann dir sagen, ich hab
es seit langem satt ...«
»Mache mir keine Vorwürfe, Briest; ich liebe sie so
wie du, vielleicht noch mehr, jeder hat seine Art. Aber man lebt
doch nicht bloß in der Welt, um schwach und zärtlich
zu sein und alles mit Nachsicht zu behandeln, was gegen Gesetz
und Gebot ist und was die Menschen verurteilen und, vorläufig
wenigstens, auch noch - mit Recht verurteilen.«
»Ich kann's aushalten. Der Raps steht gut, und im Herbst
kann ich einen Hasen hetzen. Und der Rotwein schmeckt mir noch.
Und wenn ich das Kind erst wieder im Hause habe, dann schmeckt
er mir noch besser ... Und nun will ich das Telegramm schicken.«
Effi war nun schon über ein halbes Jahr in Hohen-Cremmen;
sie bewohnte die beiden Zimmer im ersten Stock, die sie schon
früher, wenn sie zu Besuch da war, bewohnt hatte; das größere
war für sie persönlich hergerichtet, nebenan schlief
Roswitha. Was Rummschüttel von diesem Aufenthalt und all
dem andern Guten erwartet hatte, das hatte sich auch erfüllt,
soweit sich's erfüllen konnte. Das Hüsteln ließ
nach, der herbe Zug, der das so gütige Gesicht um ein gut
Teil seines Liebreizes gebracht hatte, schwand wieder hin, und
es kamen Tage, wo sie wieder lachen konnte. Von Kessin und allem,
was da zurücklag, wurde wenig gesprochen, mit alleiniger
Ausnahme von Frau von Padden und natürlich von Gieshübler,
für den der alte Briest eine lebhafte Vorliebe hatte. »Dieser
Alonzo, dieser Preziosa-Spanier, der einen Mirambo beherbergt und
eine Trippelli großzieht - ja, das muss ein Genie sein,
das lass ich mir nicht ausreden.« Und dann musste
sich Effi bequemen, ihm den ganzen Gieshübler mit dem Hut
in der Hand und seinen endlosen Artigkeitsverbeugungen vorzuspielen,
was sie, bei dem ihr eigenen Nachahmungstalent, sehr gut konnte,
trotzdem aber ungern tat, weil sie's allemal als ein Unrecht gegen
den guten und lieben Menschen empfand. - Von Innstetten und Annie
war nie die Rede, wiewohl feststand, dass Annie Erbtochter
sei und Hohen-Cremmen ihr zufallen würde.
»Solchen Winter haben wir lange nicht gehabt«, sagte
Briest. Und dann erhob sich Effi von ihrem Platz und streichelte
ihm das spärliche Haar aus der Stirn. Aber so schön
das alles war, auf Effis Gesundheit hin angesehen, war es doch
alles nur Schein, in Wahrheit ging die Krankheit weiter und zehrte
still das Leben auf. Wenn Effi - die wieder wie damals an ihrem
Verlobungstage mit Innstetten ein blau und weiß gestreiftes
Kittelkleid mit einem losen Gürtel trug - rasch und elastisch
auf die Eltern zutrat, um ihnen einen guten Morgen zu bieten,
so sahen sich diese freudig verwundert an, freudig verwundert,
aber doch auch wehmütig, weil ihnen nicht entgehen konnte,
dass es nicht die helle Jugend, sondern eine Verklärtheit
war, was der schlanken Erscheinung und den leuchtenden Augen diesen
eigentümlichen Ausdruck gab. Alle, die schärfer zusahen,
sahen dies, nur Effi selbst sah es nicht und lebte ganz dem Glücksgefühle,
wieder an dieser für sie so freundlich friedreichen Stelle
zu sein, in Versöhnung mit denen, die sie immer geliebt hatte
und von denen sie immer geliebt worden war, auch in den Jahren
ihres Elends und ihrer Verbannung.
Sie beschäftigte sich mit allerlei Wirtschaftlichem und sorgte
für Ausschmückung und kleine Verbesserungen im Haushalt.
Ihr Sinn für das Schöne ließ sie darin immer das
Richtige treffen. Lesen aber und vor allem die Beschäftigung
mit den Künsten hatte sie ganz aufgegeben. »Ich habe
davon so viel gehabt, dass ich froh bin, die Hände in
den Schoß legen zu können.« Es erinnerte sie auch
wohl zu sehr an ihre traurigen Tage. Sie bildete stattdessen
die Kunst aus, still und entzückt auf die Natur zu blicken,
und wenn das Laub von den Platanen fiel, wenn die Sonnenstrahlen
auf dem Eis des kleinen Teiches blitzten oder die ersten Krokus
aus dem noch halb winterlichen Rondell aufblühten - das tat
ihr wohl, und auf all das konnte sie stundenlang blicken und dabei
vergessen, was ihr das Leben versagt oder richtiger wohl, um
was sie sich selbst gebracht hatte.
Dass im Schulhaus die Töchter ausgeflogen waren, schadete
nicht viel, es würde nicht mehr so recht gegangen sein; aber
zu Jahnke selbst - der nicht bloß ganz Schwedisch-Pommern,
sondern auch die Kessiner Gegend als skandinavisches Vorland ansah
und beständig darauf bezügliche Fragen stellte -, zu
diesem alten Freunde stand sie besser denn je. »Ja, Jahnke,
wir hatten ein Dampfschiff, und wie ich Ihnen, glaub ich, schon
einmal schrieb oder vielleicht auch schon mal erzählt habe,
beinahe wär ich wirklich rüber nach Wisby gekommen.
Denken Sie sich, beinahe nach Wisby. Es ist komisch, aber ich
kann eigentlich von vielem in meinem Leben sagen 'beinah'.«
»Ja, freilich schade. Aber auf Rügen bin ich wirklich
umhergefahren. Und das wäre so was für Sie gewesen,
Jahnke. Denken Sie sich, Arkona mit einem großen Wenden-Lagerplatz,
der noch sichtbar sein soll; denn ich bin nicht hingekommen; aber
nicht allzuweit davon ist der Herthasee mit weißen und gelben
Mummeln. Ich habe da viel an Ihre Hertha denken müssen ...«
Ja, Effi stand gut zu Jahnke. Aber trotz seiner intimen Stellung zu
Herthasee, Skandinavien und Wisby war er doch nur ein einfacher Mann,
und so konnte es nicht wohl ausbleiben,
dass der vereinsamten jungen Frau die Plaudereien mit Niemeyer
um vieles lieber waren. Im Herbst, so lange sich im Parke promenieren
ließ, hatte sie denn auch die Hülle und Fülle
davon; mit dem Eintreten des Winters aber kam eine mehrmonatige
Unterbrechung, weil sie das Predigerhaus selbst nicht gern betrat;
Frau Pastor Niemeyer war immer eine sehr unangenehme Frau gewesen
und schlug jetzt vollends hohe Töne an, trotzdem sie nach
Ansicht der Gemeinde selber nicht ganz einwandsfrei war.
»Das ist recht, Freund, das gefällt mir; mehr brauch
ich nicht zu wissen.« Und als sie das so sagte, waren sie
bis an die Schaukel gekommen. Sie sprang hinauf mit einer Behendigkeit
wie in ihren jüngsten Mädchentagen, und ehe sich noch
der Alte, der ihr zusah, von seinem halben Schreck erholen konnte,
huckte sie schon zwischen den zwei Stricken nieder und setzte
das Schaukelbrett durch ein geschicktes Auf- und Niederschnellen
ihres Körpers in Bewegung. Ein paar Sekunden noch, und sie
flog durch die Luft und, bloß mit einer Hand sich haltend,
riss sie mit der andern ein kleines Seidentuch von Brust
und Hals und schwenkte es wie in Glück und Übermut.
Dann ließ sie die Schaukel wieder langsam gehen und sprang
herab und nahm wieder Niemeyers Arm.
Effi war den ganzen Tag draußen im Park, weil sie das Luftbedürfnis
hatte; der alte Friesacker Doktor Wiesike war auch einverstanden
damit, gab ihr aber in diesem Stücke doch zu viel Freiheit
zu tun, was sie wolle, so dass sie sich während der
kalten Tage im Mai heftig erkältete. Sie wurde fiebrig, hustete
viel, und der Doktor, der sonst jeden dritten Tag herüberkam,
kam jetzt täglich und war in Verlegenheit, wie er der Sache
beikommen solle, denn die Schlaf- und Hustenmittel, nach denen
Effi verlangte, konnten ihr des Fiebers halber nicht gegeben werden.
»Doktor«, sagte der alte Briest, »was wird aus
der Geschichte? Sie kennen sie ja von klein auf, haben sie geholt.
Mir gefällt das alles nicht; sie nimmt sichtlich ab, und
die roten Flecke und der Glanz in den Augen, wenn sie mich mit
einem Male so fragend ansieht. Was meinen Sie? Was wird? Muss
sie sterben?«
»Oder wenigstens das Rezept dazu; Wässer werden ja jetzt
nachgemacht. Alle Wetter, Wiesike, das wär ein Geschäft,
wenn wir hier so ein Sanatorium anlegen könnten: Friesack
als Vergessenheitsquelle. Nun, vorläufig wollen wir's mit
der Riviera versuchen. Mentone ist ja wohl Riviera? Die Kornpreise
sind zwar in diesem Augenblicke wieder schlecht, aber was sein
muss, muss sein. Ich werde mit meiner Frau darüber
sprechen.«
Das tat er denn auch und fand sofort seiner Frau Zustimmung, deren
in letzter Zeit - wohl unter dem Eindruck zurückgezogenen
Lebens - stark erwachte Lust, auch mal den Süden zu sehen,
seinem Vorschlage zu Hilfe kam. Aber Effi selbst wollte nichts
davon wissen. »Wie gut ihr gegen mich seid. Und ich bin egoistisch
genug, ich würde das Opfer auch annehmen, wenn ich mir etwas
davon verspräche. Mir steht es aber fest, dass es mir
bloß schaden würde.«
»Nein. Ich bin so reizbar geworden; alles ärgert mich.
Nicht hier bei euch. Ihr verwöhnt mich und räumt mir
alles aus dem Wege. Aber auf einer Reise, da geht das nicht, da
lässt sich das Unangenehme nicht so beiseite tun; mit
dem Schaffner fängt es an, und mit dem Kellner hört
es auf. Wenn ich mir die suffisanten Gesichter bloß
vorstelle, so wird mir schon ganz heiß. Nein, nein, lasst
mich hier. Ich mag nicht mehr weg von Hohen-Cremmen, hier ist
meine Stelle. Der Heliotrop unten auf dem Rondell um die Sonnenuhr
herum ist mir lieber als Mentone.«
Nach diesem Gespräch ließ man den Plan wieder fallen,
und Wiesike, soviel er sich von Italien versprochen hatte, sagte:
»Das müssen wir respektieren, denn das sind keine Launen;
solche Kranken haben ein sehr feines Gefühl und wissen mit
merkwürdiger Sicherheit, was ihnen hilft und was nicht. Und
was Frau Effi da gesagt hat von Schaffner und Kellner, das ist
doch auch eigentlich ganz richtig, und es gibt keine Luft, die
so viel Heilkraft hätte, den Hotelärger (wenn man sich
überhaupt darüber ärgert) zu balancieren. Also
lassen wir sie hier; wenn es nicht das Beste ist, so ist es gewiss
nicht das Schlechteste.«
Das bestätigte sich denn auch. Effi erholte sich, nahm um
ein Geringes wieder zu (der alte Briest gehörte zu den Wiegefanatikern)
und verlor ein gut Teil ihrer Reizbarkeit. Dabei war aber ihr
Luftbedürfnis in einem beständigen Wachsen, und zumal
wenn Westwind ging und graues Gewölk am Himmel zog, verbrachte
sie viele Stunden im Freien. An solchen Tagen ging sie wohl auch
auf die Felder hinaus und ins Luch, oft eine halbe Meile weit,
und setzte sich, wenn sie müde geworden, auf einen Hürdenzaun
und sah in Träume verloren auf die Ranunkeln und roten
Ampferstauden, die sich im Winde bewegten.
»Natürlich«, lachte Effi. »Das kann man immer
noch. Aber weißt du, Roswitha, wenn ich einen Hund hätte,
der mich begleitete. Papas Jagdhund hat gar kein Attachement für
mich, Jagdhunde sind so dumm, und er rührt sich immer erst,
wenn der Jäger oder der Gärtner die Flinte vom Riegel
nimmt. Ich muss jetzt oft an Rollo denken.«
»Ja«, sagte Roswitha, »so was wie Rollo haben sie
hier gar nicht. Aber damit will ich nichts gegen 'hier' gesagt
haben. Hohen-Cremmen ist sehr gut.«
Es war drei, vier Tage nach diesem Gespräche zwischen Effi
und Roswitha, dass Innstetten um eine Stunde früher
in sein Arbeitszimmer trat als gewöhnlich. Die Morgensonne,
die sehr hell schien, hatte ihn geweckt, und weil er fühlen
mochte, dass er nicht wieder einschlafen würde, war
er aufgestanden, um sich an eine Arbeit zu machen, die schon seit
geraumer Zeit der Erledigung harrte.
Nun war es eine Viertelstunde nach acht, und er klingelte. Johanna
brachte das Frühstückstablett, auf dem neben der Kreuzzeitung
und der Norddeutschen Allgemeinen auch noch zwei Briefe lagen.
Er überflog die Adressen und erkannte an der Handschrift,
dass der eine vom Minister war. Aber der andere? Der Poststempel
war nicht deutlich zu lesen, und das »Sr. Wohlgeboren Herrn
Baron von Innstetten« bezeugte eine glückliche Unvertrautheit
mit den landesüblichen Titulaturen. Dem entsprachen auch
die Schriftzüge von sehr primitivem Charakter. Aber die Wohnungsangabe
war wieder merkwürdig genau: W. Keithstraße IC, zwei
Treppen hoch.
Innstetten war Beamter genug, um den Brief von 'Exzellenz'
zuerst zu erbrechen. »Mein lieber Innstetten! Ich freue mich,
Ihnen mitteilen zu können, dass Seine Majestät
Ihre Ernennung zu unterzeichnen geruht haben und gratuliere Ihnen
aufrichtig dazu.« Innstetten war erfreut über die liebenswürdigen
Zeilen des Ministers, fast mehr als über die Ernennung selbst.
Denn was das Höherhinaufklimmen auf der Leiter anging, so
war er seit dem Morgen in Kessin, wo Crampas mit einem Blick,
den er immer vor Augen hatte, Abschied von ihm genommen, etwas
kritisch gegen derlei Dinge geworden. Er maß seitdem mit
anderem Maße, sah alles anders an. Auszeichnung, was war
es am Ende? Mehr als einmal hatte er während der ihm immer
freudloser dahin fließenden Tage einer halb vergessenen Ministerialanekdote
aus den Zeiten des älteren Ladenberg her gedenken müssen,
der, als er nach langem Warten den roten Adlerorden empfing, ihn
wütend und mit dem Ausrufe beiseite warf: »Da liege,
bis du schwarz wirst.« Wahrscheinlich war er dann
hinterher auch »schwarz« geworden, aber um viele Tage
zu spät und sicherlich ohne rechte Befriedigung für
den Empfänger. Alles, was uns Freude machen soll, ist an Zeit und Umstände
gebunden, und was uns heute noch beglückt, ist morgen wertlos.
Innstetten empfand das tief, und so gewiss ihm an Ehren und
Gunstbezeugungen von oberster Stelle her lag, wenigstens gelegen
hatte, so gewiss stand ihm jetzt fest, es käme
bei dem glänzenden Schein der Dinge nicht viel heraus, und
das, was man 'das Glück' nenne, wenn's überhaupt
existiere, sei was anderes als dieser Schein. »Das Glück,
wenn mir recht ist, liegt in zweierlei: darin, dass man ganz
da steht, wo man hingehört (aber welcher Beamte kann das
von sich sagen), und zum Zweiten und Besten in einem behaglichen
Abwickeln des ganz Alltäglichen, also darin, dass man
ausgeschlafen hat und dass einen die neuen Stiefel nicht drücken.
Wenn einem die 720 Minuten eines zwölfstündigen Tages
ohne besonderen Ärger vergehen, so lässt sich von
einem glücklichen Tage sprechen.« In einer Stimmung,
die derlei schmerzlichen Betrachtungen nachhing, war Innstetten
auch heute wieder. Er nahm nun den zweiten Brief. Als er ihn gelesen,
fuhr er über seine Stirn und empfand schmerzlich, dass
es ein Glück gebe, dass er es gehabt, aber dass
er es nicht mehr habe und nicht mehr haben könne.
»Aber ich habe mich zu freuen verlernt. Wenn ich es einem
anderen als Ihnen sagte, so würde solche Rede für redensartlich
gelten. Sie aber, Sie finden sich darin zurecht. Sehen Sie sich
hier um; wie leer und öde ist das alles. Wenn die Johanna
eintritt, ein sogenanntes Juwel, so wird mir angst und bange.
Dieses Sich-in-Szene-Setzen (und Innstetten ahmte Johannas Haltung
nach), diese halb komische Büstenplastik, die wie mit einem
Spezialanspruch auftritt, ich weiß nicht, ob an die Menschheit
oder an mich - ich finde das alles so trist und elend, und es
wäre zum Totschießen, wenn es nicht so lächerlich
wäre.«
»Gnäd'ger Herr! Sie werden sich wohl am Ende wundern,
dass ich Ihnen schreibe, aber es ist wegen Rollo. Anniechen
hat uns schon voriges Jahr gesagt, Rollo wäre jetzt so faul;
aber das tut hier nichts, er kann hier so faul sein, wie er will,
je fauler je besser. Und die gnäd'ge Frau möchte es
doch so gern. Sie sagt immer, wenn sie ins Luch oder über
Feld geht: 'Ich fürchte mich eigentlich, Roswitha, weil ich
da so allein bin; aber wer soll mich begleiten? Rollo, ja, das
ginge; der ist mir auch nicht gram. Das ist der Vorteil, dass
sich die Tiere nicht so drum kümmern.' Das sind die Worte
der gnäd'gen Frau, und weiter will ich nichts sagen und den
gnäd'gen Herrn bloß noch bitten, mein Anniechen zu
grüßen. Und auch die Johanna. Von Ihrer treu ergebenen
Dienerin Roswitha Gellenhagen.«
»Sie treffen's. Es geht mir schon lange durch den Kopf, und
diese schlichten Worte mit ihrer gewollten oder vielleicht auch
nicht gewollten Anklage haben mich wieder vollends aus dem Häuschen
gebracht. Es quält mich seit Jahr und Tag schon und ich
möchte aus dieser ganzen Geschichte heraus; nichts gefällt
mir mehr; je mehr man mich auszeichnet, je mehr fühle ich,
dass dies alles nichts ist. Mein Leben ist verpfuscht, und
so hab ich mir im Stillen ausgedacht, ich müsste mit
all den Strebungen und Eitelkeiten überhaupt nichts mehr
zu tun haben und mein Schulmeistertum, was ja wohl mein Eigentlichstes
ist, als ein höherer Sittendirektor verwenden können.
Es hat ja dergleichen gegeben. Ich müsste also, wenn's
ginge, solche schrecklich berühmte Figur werden, wie beispielsweise
der Doktor Wichern im Rauhen Hause zu Hamburg gewesen ist, dieser
Mirakelmensch, der alle Verbrecher mit seinem Blick und seiner
Frömmigkeit bändigte ...«
»Nein, es geht auch nicht. Auch das nicht mal. Mir
ist eben alles verschlossen. Wie soll ich einen Totschläger
an seiner Seele packen? Dazu muss man selber intakt sein.
Und wenn man's nicht mehr ist und selber so was an den Fingerspitzen
hat, dann muss man wenigstens vor seinen zu bekehrenden Konfratres
den wahnsinnigen Büßer spielen und eine Riesenzerknirschung
zum Besten geben können.«
»... Nun sehen Sie, Sie nicken. Aber das alles kann ich nicht mehr.
Den Mann im Büßerhemd bring ich nicht mehr heraus, und
den Derwisch oder Fakir, der unter Selbstanklagen sich zu Tode
tanzt, erst recht nicht. Und da hab ich mir denn, weil das alles
nicht geht, als ein Bestes herausgeklügelt: weg von hier,
weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und
Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen! Denn gerade das, dieser
ganze Krimskrams ist doch an allem schuld. Aus Passion, was am
Ende gehen möchte, tut man dergleichen nicht. Also bloßen
Vorstellungen zuliebe ... Vorstellungen! ... Und da klappt denn
einer zusammen, und man klappt selber nach. Bloß noch schlimmer.«
»Ach was, Innstetten, das sind Launen, Einfälle. Quer
durch Afrika, was soll das heißen? Das ist für 'nen
Leutnant, der Schulden hat. Aber ein Mann wie Sie! Wollen Sie
mit einem roten Fez einem Palawer präsidieren oder mit einem
Schwiegersohn von König Mtesa Blutfreundschaft schließen?
Oder wollen Sie sich in einem Tropenhelm mit sechs Löchern
oben am Kongo entlangtasten, bis Sie bei Kamerun oder da herum
wieder herauskommen? Unmöglich!«
»Einfach hier bleiben und Resignation üben.
Wer ist denn unbedrückt? Wer sagte nicht jeden Tag: 'Eigentlich
eine sehr fragwürdige Geschichte.' Sie wissen, ich habe auch
mein Päckchen zu tragen, nicht gerade das Ihrige, aber nicht
viel leichter. Es ist Torheit mit dem Im-Urwald-Umherkriechen
oder in einem Termitenhügel nächtigen; wer's mag, der
mag es, aber für unserein ist es nichts. In der Bresche stehen
und aushalten, bis man fällt, das ist das Beste. Vorher aber
im Kleinen und Kleinsten soviel herausschlagen wie möglich,
und ein Auge dafür haben, wenn die Veilchen blühen oder
das Luisendenkmal in Blumen steht oder die kleinen Mädchen
mit hohen Schnürstiefeln über die Korde springen. Oder
auch wohl nach Potsdam fahren und in die Friedenskirche gehen,
wo Kaiser Friedrich liegt und wo sie jetzt eben anfangen, ihm
ein Grabhaus zu bauen. Und wenn Sie da stehen, dann überlegen
Sie sich das Leben von dem, und wenn Sie dann nicht beruhigt
sind, dann ist Ihnen freilich nicht zu helfen.«
»Mit dem ist immer noch am ehesten fertig zu werden. Da haben
wir 'Sardanapal' oder 'Coppelia' mit der del Era, und wenn es
damit aus ist, dann haben wir Siechen. Nicht zu verachten. Drei
Seidel beruhigen jedes Mal. Es gibt immer noch viele, sehr viele,
die zu der ganzen Sache nicht anders stehen wie wir, und einer,
dem auch viel verquer gegangen war, sagte mir mal: 'Glauben Sie
mir, Wüllersdorf, es geht überhaupt nicht ohne "Hilfskonstruktionen".'
Der das sagte, war ein Baumeister und musst es also wissen.
Und er hatte Recht mit seinem Satz. Es vergeht kein Tag, der mich
nicht an die 'Hilfskonstruktionen' gemahnte.«
»Das will ich nicht gerade sagen. Aber es hilft ein bisschen.
Ich finde da verschiedene Stammgäste, Frühschoppler,
deren Namen ich klüglich verschweige. Der eine erzählt
dann vom Herzog von Ratibor, der andere vom Fürstbischof
Kopp und der dritte wohl gar von Bismarck. Ein bisschen fällt
immer ab. Dreiviertel stimmt nicht, aber wenn es nur witzig ist,
krittelt man nicht lange dran herum und hört dankbar zu.«
Der Mai war schön, der Juni noch schöner, und Effi,
nachdem ein erstes schmerzliches Gefühl, das Rollo's Eintreffen
in ihr geweckt hatte, glücklich überwunden war, war
voll Freude, das treue Tier wieder um sich zu haben. Roswitha
wurde belobt, und der alte Briest erging sich seiner Frau gegenüber
in Worten der Anerkennung für Innstetten, der ein Kavalier
sei, nicht kleinlich, und immer das Herz auf dem rechten Fleck
gehabt habe. »Schade, dass die dumme Geschichte dazwischen fahren
musste. Eigentlich war es doch ein Musterpaar.« Der
Einzige, der bei dem Wiedersehen ruhig blieb, war Rollo selbst,
weil er entweder kein Organ für Zeitmaß hatte oder
die Trennung als eine Unordnung ansah, die nun einfach wieder
behoben sei. Dass er alt geworden, wirkte wohl auch mit dabei.
Mit seinen Zärtlichkeiten blieb er sparsam, wie er beim Wiedersehen
sparsam mit seinen Freudenbezeugungen gewesen war, aber in seiner
Treue war er womöglich noch gewachsen. Er wich seiner Herrin
nicht von der Seite. Den Jagdhund behandelte er wohlwollend, aber
doch als ein Wesen auf niederer Stufe. Nachts lag er vor Effis
Tür auf der Binsenmatte, morgens, wenn das Frühstück
im Freien genommen wurde, neben der Sonnenuhr, immer ruhig, immer
schläfrig, und nur wenn sich Effi vom Frühstückstisch
erhob und auf den Flur zuschritt und hier erst den Strohhut und
dann den Sonnenschirm vom Ständer nahm, kam ihm seine Jugend
wieder, und ohne sich darum zu kümmern, ob seine Kraft auf
eine große oder kleine Probe gestellt werden würde,
jagte er die Dorfstraße hinauf und wieder herunter und beruhigte
sich erst, wenn sie zwischen den ersten Feldern waren. Effi, der
freie Luft noch mehr galt als landschaftliche Schönheit,
vermied die kleinen Waldpartien und hielt meist die große,
zunächst von uralten Rüstern und dann, wo die Chaussee
begann, von Pappeln besetzte große Straße, die nach
der Bahnhofsstation führte, wohl eine Stunde Wegs. An allem
freute sie sich, atmete beglückt den Duft ein, der von den
Raps- und Kleefeldern herüberkam, oder folgte dem Aufsteigen
der Lerchen und zählte die Ziehbrunnen und Tröge, daran
das Vieh zur Tränke ging. Dabei klang ein leises Läuten
zu ihr herüber. Und dann war ihr zu Sinn, als müsse
sie die Augen schließen und in einem süßen Vergessen
hinübergehen. In Nähe der Station, hart an der Chaussee,
lag eine Chausseewalze. Das war ihr täglicher Rastplatz,
von dem aus sie das Treiben auf dem Bahndamm verfolgen konnte;
Züge kamen und gingen, und mitunter sah sie zwei Rauchfahnen,
die sich einen Augenblick wie deckten und dann nach links und
rechts hin wieder auseinandergingen, bis sie hinter Dorf und Wäldchen
verschwanden. Rollo saß dann neben ihr, an ihrem Frühstück
teilnehmend, und wenn er den letzten Bissen aufgefangen hatte,
fuhr er, wohl um sich dankbar zu bezeigen, irgendeine Ackerfurche
wie ein Rasender hinauf und hielt nur inne, wenn ein paar beim
Brüten gestörte Rebhühner dicht neben ihm aus einer
Nachbarfurche aufflogen.
»Wie schön dieser Sommer! Dass ich noch so glücklich
sein könnte, liebe Mama, vor einem Jahr hätte ich's
nicht gedacht« - das sagte Effi jeden Tag, wenn sie mit der
Mama um den Teich schritt oder einen Frühapfel vom Zweig
brach und tapfer einbiss. Denn sie hatte die schönsten
Zähne. Frau von Briest streichelte ihr dann die Hand und
sagte: »Werde nur erst wieder gesund, Effi, ganz gesund;
das Glück findet sich dann; nicht das alte, aber ein neues.
Es gibt Gott sei Dank viele Arten von Glück. Und du sollst
sehen, wir werden schon etwas finden für dich.«
»Ach, meine liebe Effi, davon sprich nicht. Als es kam, da
dacht ich ebenso. Jetzt weiß ich, dass unsere Stille
besser ist als der Lärm und das laute Getriebe von vordem.
Und wenn du so fortfährst, können wir noch reisen. Als
Wiesike Mentone vorschlug, da warst du krank und reizbar und hattest,
weil du krank warst, ganz Recht mit dem, was du von den Schaffnern
und Kellnern sagtest; aber wenn du wieder festere Nerven hast,
dann geht es, dann ärgert man sich nicht mehr, dann lacht
man über die großen Allüren und das gekräuselte
Haar. Und dann das blaue Meer und weiße Segel und die Felsen
ganz mit rotem Kaktus überwachsen, - ich habe es noch nicht
gesehen, aber ich denke es mir so. Und ich möchte es wohl
kennen lernen.«
So verging der Sommer, und die Sternschnuppennächte lagen
schon zurück. Effi hatte während dieser Nächte
bis über Mitternacht hinaus am Fenster gesessen und sich
nicht müde sehen können. »Ich war immer eine schwache
Christin; aber ob wir doch vielleicht von da oben stammen und,
wenn es hier vorbei ist, in unsere himmlische Heimat zurückkehren,
zu den Sternen oben oder noch drüber hinaus! Ich weiß
es nicht, ich will es auch nicht wissen, ich habe nur die Sehnsucht.«
Arme Effi, du hattest zu den Himmelswundern zu lange hinaufgesehen
und darüber nachgedacht, und das Ende war, dass die
Nachtluft und die Nebel, die vom Teich her aufstiegen, sie wieder
aufs Krankenbett warfen, und als Wiesike gerufen wurde und sie
gesehen hatte, nahm er Briest beiseite und sagte: »Wird nichts
mehr; machen Sie sich auf ein baldiges Ende gefasst.«
Er hatte nur zu wahr gesprochen, und wenige Tage danach, es war
noch nicht spät und die zehnte Stunde noch nicht heran, da
kam Roswitha nach unten und sagte zu Frau von Briest: »Gnädigste
Frau, mit der gnädigen Frau oben ist es schlimm; sie spricht
immer so still vor sich hin, und mitunter ist es, als ob sie bete,
sie will es aber nicht wahrhaben, und ich weiß nicht, mir
ist, als ob es jede Stunde vorbei sein könnte.«
»Ja, das wollte ich, weil du davon sprachst, ich sei noch
so jung. Freilich bin ich noch jung. Aber das schadet nichts.
Es war noch in glücklichen Tagen, da las mir Innstetten abends
vor; er hatte sehr gute Bücher, und in einem hieß
es: es sei wer von einer fröhlichen Tafel abgerufen worden,
und am anderen Tage habe der Abgerufene gefragt, wie's denn nachher
gewesen sei. Da habe man ihm geantwortet: 'Ach, es war noch allerlei;
aber eigentlich haben Sie nichts versäumt.' Sieh, Mama, diese
Worte haben sich mir eingeprägt - es hat nicht viel zu bedeuten,
wenn man von der Tafel etwas früher abgerufen wird.«
Effi nickte. »Ja, Mama. Und traurig, dass es so ist.
Aber als dann all das Schreckliche kam und zuletzt das mit Annie,
du weißt schon, da hab ich doch, wenn ich das lächerliche
Wort gebrauchen darf, den Spieß umgekehrt und habe mich
ganz ernsthaft in den Gedanken hineingelebt, er sei schuld, weil
er nüchtern und berechnend gewesen sei und zuletzt auch noch
grausam. Und da sind Verwünschungen gegen ihn über meine
Lippen gekommen.«
»Ja. Und es liegt mir daran, dass er erfährt, wie
mir hier in meinen Krankheitstagen, die doch fast meine schönsten
gewesen sind, wie mir hier klar geworden, dass er in allem
recht gehandelt. In der Geschichte mit dem armen Crampas - ja,
was sollt er am Ende anders tun? Und dann, womit er mich am tiefsten
verletzte, dass er mein eigen Kind in einer Art Abwehr gegen
mich erzogen hat, so hart es mir ankommt und so weh es mir tut,
er hat auch darin Recht gehabt. Lass ihn das wissen, dass
ich in dieser Überzeugung gestorben bin. Es wird ihn trösten,
aufrichten, vielleicht versöhnen. Denn er hatte viel Gutes
in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne
rechte Liebe ist.«
Frau von Briest sah, dass Effi erschöpft war und zu
schlafen schien oder schlafen wollte. Sie erhob sich leise von
ihrem Platz und ging. Indessen kaum, dass sie fort war, erhob
sich auch Effi und setzte sich an das offene Fenster, um noch
einmal die kühle Nachtluft einzusaugen. Die Sterne flimmerten,
und im Park regte sich kein Blatt. Aber je länger sie hinaushorchte,
je deutlicher hörte sie wieder, dass es wie ein feines
Rieseln auf die Platanen niederfiel. Ein Gefühl der Befreiung
überkam sie. »Ruhe, Ruhe.«
Es war einen Monat später, und der September ging auf die
Neige. Das Wetter war schön, aber das Laub im Parke zeigte
schon viel Rot und Gelb, und seit den Äquinoktien, die drei Sturmtage
gebracht hatten, lagen die Blätter überall hin
ausgestreut. Auf dem Rondell hatte sich eine kleine Veränderung vollzogen,
die Sonnenuhr war fort, und an der Stelle, wo sie gestanden hatte,
lag seit gestern eine weiße Marmorplatte, darauf stand nichts
als »Effi Briest« und darunter ein Kreuz. Das war Effis
letzte Bitte gewesen: »Ich möchte auf meinem Stein meinen
alten Namen wieder haben; ich habe dem andern keine Ehre gemacht.«
Und es war ihr versprochen worden.
»Ob wir sie nicht anders in Zucht hätten nehmen müssen.
Gerade wir. Denn Niemeyer ist doch eigentlich eine Null, weil
er alles in Zweifel lässt. Und dann, Briest, so Leid
es mir tut ... deine beständigen Zweideutigkeiten ... und
zuletzt, womit ich mich selbst anklage, denn ich will nicht schuldlos
ausgehen in dieser Sache, ob sie nicht doch vielleicht zu jung
war?«
