Der Silvesterball hatte bis an den frühen Morgen gedauert,
und Effi war ausgiebig bewundert worden, freilich nicht ganz so
anstandslos wie das Kamelienbukett, von dem man wusste, dass
es aus dem Gieshübler'schen Treibhause kam. Im Übrigen
blieb auch nach dem Silvesterball alles beim Alten, kaum dass
Versuche gesellschaftlicher Annäherung gemacht worden wären,
und so kam es denn, dass der Winter als recht lange dauernd
empfunden wurde. Besuche seitens der benachbarten Adelsfamilien
fanden nur selten statt, und dem pflichtschuldigen Gegenbesuche
ging in einem halben Trauerton jedes Mal die Bemerkung voraus:
»Ja, Geert, wenn es durchaus sein muss, aber ich vergehe
vor Langeweile.« Worte, denen Innstetten nur immer zustimmte.
Was an solchen Besuchsnachmittagen über Familie, Kinder,
auch Landwirtschaft gesagt wurde, mochte gehen; wenn dann aber
die kirchlichen Fragen an die Reihe kamen und die mitanwesenden
Pastoren wie kleine Päpste behandelt wurden oder sich auch
wohl selbst als solche ansahen, dann riss Effi der Faden
der Geduld, und sie dachte mit Wehmut an Niemeyer, der immer zurückhaltend
und anspruchslos war, trotzdem es bei jeder größeren
Feierlichkeit hieß, er habe das Zeug, an den »Dom«
berufen zu werden. Mit den Borckes, den Flemmings, den Grasenabbs,
so freundlich die Familien, von Sidonie Grasenabb abgesehen, gesinnt
waren - es wollte mit allen nicht so recht gehen, und es hätte
mit Freude, Zerstreuung und auch nur leidlichem Sich-behaglich-Fühlen
manchmal recht schlimm gestanden, wenn Gieshübler nicht gewesen
wäre. Der sorgte für Effi wie eine kleine Vorsehung,
und sie wusste es ihm auch Dank. Natürlich war er neben
allem anderen auch ein eifriger und aufmerksamer Zeitungsleser,
ganz zu geschweigen, dass er an der Spitze des Journalzirkels
stand, und so verging denn fast kein Tag, wo nicht Mirambo ein
großes, weißes Kuvert gebracht hätte mit allerhand
Blättern und Zeitungen, in denen die betreffenden Stellen
angestrichen waren, meist eine kleine, feine Bleistiftlinie, mitunter
aber auch dick mit Blaustift und ein Ausrufungs- oder Fragezeichen
daneben. Und dabei ließ er es nicht bewenden; er schickte
auch Feigen und Datteln, Schokoladentafeln in Satineepapier und
ein rotes Bändchen drum, und wenn etwas besonders Schönes
in seinem Treibhaus blühte, so brachte er es selbst und hatte
dann eine glückliche Plauderstunde mit der ihm so sympathischen
jungen Frau, für die er alle schönen Liebesgefühle
durch- und nebeneinander hatte, die des Vaters und Onkels, des
Lehrers und Verehrers. Effi war gerührt von dem allen und
schrieb öfters darüber nach Hohen-Cremmen, so dass
die Mama sie mit ihrer »Liebe zum Alchymisten« zu necken
begann; aber diese wohlgemeinten Neckereien verfehlten ihren Zweck,
ja berührten sie beinahe schmerzlich, weil ihr, wenn auch
unklar, dabei zum Bewusstsein kam, was ihr in ihrer Ehe eigentlich
fehlte: Huldigungen, Anregungen, kleine Aufmerksamkeiten. Innstetten
war lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht. Er hatte das
Gefühl Effi zu lieben, und das gute Gewissen, dass
es so sei, ließ ihn von besonderen Anstrengungen absehen.
Es war fast zur Regel geworden, dass er sich, wenn Friedrich
die Lampe brachte, aus seiner Frau Zimmer in sein eigenes zurückzog.
»Ich habe da noch eine verzwickte Geschichte zu erledigen.«
Und damit ging er. Die Portiere blieb freilich zurückgeschlagen,
so dass Effi das Blättern in dem Aktenstück oder
das Kritzeln seiner Feder hören konnte, aber das war auch
alles. Rollo kam dann wohl und legte sich vor sie hin auf den
Kaminteppich, als ob er sagen wolle: »Muss nur mal wieder
nach dir sehen; ein anderer tut's doch nicht.« Und dann beugte
sie sich nieder und sagte leise: »Ja, Rollo, wir sind allein.«
Um neun erschien dann Innstetten wieder zum Tee, meist die Zeitung
in der Hand, sprach vom Fürsten, der wieder viel Ärger
habe, zumal über diesen Eugen Richter, dessen Haltung und
Sprache ganz unqualifizierbar seien, und ging dann die Ernennungen
und Ordensverleihungen durch, von denen er die meisten beanstandete.
Zuletzt sprach er von den Wahlen, und dass es ein Glück
sei, einem Kreis vorzustehen, in dem es noch Respekt gäbe.
War er damit durch, so bat er Effi, dass sie was spiele,
aus Lohengrin oder aus der Walküre, denn er war ein Wagner-Schwärmer.
Was ihn zu diesem hinübergeführt hatte, war ungewiss;
einige sagten seine Nerven, denn so nüchtern er schien,
eigentlich war er nervös; andere schoben es auf Wagners Stellung
zur Judenfrage. Wahrscheinlich hatten beide Recht. Um zehn war
Innstetten dann abgespannt und erging sich in ein paar wohlgemeinten,
aber etwas müden Zärtlichkeiten, die sich Effi gefallen
ließ, ohne sie recht zu erwidern.
So verging der Winter, der April kam, und in dem Garten hinter
dem Hofe begann es zu grünen, worüber sich Effi freute;
sie konnte gar nicht abwarten, dass der Sommer komme mit
seinen Spaziergängen am Strand und seinen Badegästen.
Wenn sie so zurückblickte, der Trippelli-Abend bei Gieshübler
und dann der Silvesterball, ja, das ging, das war etwas Hübsches
gewesen; aber die Monate, die dann gefolgt waren, die hatten doch
viel zu wünschen übrig gelassen, und vor allem waren
sie so monoton gewesen, dass sie sogar mal an die Mama geschrieben
hatte: »Kannst du dir denken, Mama, dass ich mich mit
unsrem Spuk beinah ausgesöhnt habe? Natürlich die schreckliche
Nacht, wo Geert drüben beim Fürsten war, die möcht
ich nicht noch einmal durchmachen, nein, gewiss nicht; aber
immer das Alleinsein und so gar nichts erleben, das hat doch auch
sein Schweres, und wenn ich dann in der Nacht aufwache, dann horche
ich mitunter hinauf, ob ich nicht die Schuhe schleifen höre,
und wenn alles still bleibt, so bin ich fast wie enttäuscht
und sage mir: Wenn es doch nur wiederkäme, nur nicht zu arg
und nicht zu nah.«
Das war im Februar, dass Effi so schrieb, und nun war beinahe
Mai. Drüben in der Plantage belebte sich's schon wieder,
und man hörte die Finken schlagen. Und in derselben Woche
war es auch, dass die Störche kamen, und einer schwebte
langsam über ihr Haus hin und ließ sich dann auf einer
Scheune nieder, die neben Utpatels Mühle stand. Das war seine
alte Raststätte. Auch über dies Ereignis berichtete
Effi, die jetzt überhaupt häufiger nach Hohen-Cremmen
schrieb, und es war in demselben Briefe, dass es am Schlusse
hieß: »Etwas, meine liebe Mama, hätte ich beinah
vergessen: den neuen Landwehrbezirkskommandeur, den wir nun schon
beinah vier Wochen hier haben. Ja, haben wir ihn wirklich? Das
ist die Frage, und eine Frage von Wichtigkeit dazu, so sehr du
darüber lachen wirst und auch lachen musst, weil du
den gesellschaftlichen Notstand nicht kennst, in dem wir uns nach
wie vor befinden. Oder wenigstens ich, die ich mich mit dem Adel
hier nicht gut zurechtfinden kann. Vielleicht meine Schuld. Aber
das ist gleich. Tatsache bleibt: Notstand, und deshalb sah ich
durch all diese Winterwochen hin dem neuen Bezirkskommandeur
wie einem Trost- und Rettungsbringer entgegen. Sein Vorgänger
war ein Greuel, von schlechten Manieren und noch schlechteren
Sitten und zum Überfluss auch noch immer schlecht bei
Kasse. Wir haben all die Zeit über unter ihm gelitten, Innstetten
noch mehr als ich, und als wir Anfang April hörten, Major
von Crampas sei da, das ist nämlich der Name des neuen, da
fielen wir uns in die Arme, als könne uns nun nichts Schlimmes
mehr in diesem lieben Kessin passieren. Aber, wie schon kurz erwähnt,
es scheint, trotzdem er da ist, wieder nichts werden zu wollen.
Crampas ist verheiratet, zwei Kinder von zehn und acht Jahren,
die Frau ein Jahr älter als er, also sagen wir fünfundvierzig.
Das würde nun an und für sich nicht viel schaden, warum
soll ich mich nicht mit einer mütterlichen Freundin wundervoll
unterhalten können? Die Trippelli war auch nahe an dreißig,
und es ging ganz gut. Aber mit der Frau von Crampas, übrigens
keine Geborene, kann es nichts werden. Sie ist immer verstimmt,
beinahe melancholisch (ähnlich wie unsere Frau Kruse, an
die sie mich überhaupt erinnert) und das alles aus Eifersucht.
Er, Crampas, soll nämlich ein Mann vieler Verhältnisse
sein, ein Damenmann, etwas, was mir immer lächerlich ist
und mir auch in diesem Falle lächerlich sein würde,
wenn er nicht um eben solcher Dinge willen ein Duell mit einem
Kameraden gehabt hätte. Der linke Arm wurde ihm dicht unter
der Schulter zerschmettert, und man sieht es sofort, trotzdem
die Operation, wie mir Innstetten erzählt (ich glaube, sie
nennen es Resektion, damals noch von Wilms ausgeführt), als
ein Meisterstück der Kunst gerühmt wurde. Beide, Herr
und Frau von Crampas, waren vor vierzehn Tagen bei uns, um uns
ihren Besuch zu machen; es war eine sehr peinliche Situation,
denn Frau von Crampas beobachtete ihren Mann so, dass er
in eine halbe und ich in eine ganze Verlegenheit kam. Dass
er selbst sehr anders sein kann, ausgelassen und übermütig,
davon überzeugte ich mich, als er vor drei Tagen mit Innstetten
allein war und ich von meinem Zimmer her dem Gang ihrer Unterhaltung
folgen konnte. Nachher sprach auch ich ihn. Vollkommener Kavalier,
ungewöhnlich gewandt. Innstetten war während des Krieges
in derselben Brigade mit ihm, und sie haben sich im Norden von
Paris bei Graf Gröben öfter gesehen. Ja, meine liebe
Mama, das wäre nun also etwas gewesen, um in Kessin ein neues
Leben beginnen zu können; er, der Major, hat auch nicht die
pommerschen Vorurteile, trotzdem er in Schwedisch-Pommern zu Hause
sein soll. Aber die Frau! Ohne sie geht es natürlich nicht
und mit ihr erst recht nicht.«
Effi hatte ganz Recht gehabt, und es kam wirklich zu keiner weiteren
Annäherung mit dem Crampas'schen Paare. Man sah sich mal bei
der Borcke'schen Familie draußen, ein andermal ganz flüchtig
auf dem Bahnhof und wenige Tage später auf einer Boot- und
Vergnügungsfahrt, die nach einem am Breitling gelegenen großen
Buchen- und Eichenwalde, der »der Schnatermann« hieß, gemacht wurde; es kam
aber über kurze Begrüßungen nicht hinaus, und
Effi war froh, als Anfang Juni die Saison sich ankündigte.
Freilich fehlte es noch an Badegästen, die vor Johanni überhaupt
nur in Einzelexemplaren einzutreffen pflegten, aber schon die
Vorbereitungen waren eine Zerstreuung. In der Plantage wurden
Karussell und Scheibenstände hergerichtet, die Schiffersleute
kalfaterten und strichen ihre Boote, jede kleine Wohnung erhielt
neue Gardinen, die Zimmer, die feucht lagen, also den Schwamm
unter der Diele hatten, wurden ausgeschwefelt und dann gelüftet.
Auch in Effis eigener Wohnung, freilich um eines anderen Ankömmlings
als der Badegäste willen, war alles in einer gewissen Erregung;
selbst Frau Kruse wollte mittun, so gut es ging. Aber davor erschrak
Effi lebhaft und sagte: »Geert, dass nur die Frau Kruse
nichts anfasst; da kann nichts werden, und ich ängstige
mich schon gerade genug.« Innstetten versprach auch alles, Christel und
Johanna hätten ja Zeit genug, und um seiner jungen Frau Gedanken
überhaupt in eine andere Richtung zu bringen, ließ er das Thema der
Vorbereitungen ganz fallen und fragte stattdessen, ob sie denn schon
bemerkt habe, dass drüben ein Badegast eingezogen sei,
nicht gerade der erste, aber doch einer der ersten.
»Ja«, lachte Innstetten, »das ist die Regel. Aber
hier hast du eine Ausnahme. Jedenfalls hat sie mehr als ihre Witwenpension.
Sie kommt immer mit viel Gepäck, unendlich viel mehr als
sie gebraucht, und scheint überhaupt eine ganz eigene Frau,
wunderlich, kränklich und namentlich schwach auf den Füßen.
Sie misstraut sich deshalb auch und hat immer eine ältliche
Dienerin um sich, die kräftig genug ist, sie zu schützen
oder sie zu tragen, wenn ihr was passiert. Diesmal hat sie eine
neue. Aber doch wieder eine ganz ramassierte Person, ähnlich
wie die Trippelli, nur noch stärker.«
Das war Mitte Juni, dass Innstetten und Effi dies Gespräch
hatten. Von da ab brachte jeder Tag Zuzug, und nach dem Bollwerk
hin spazieren gehen, um daselbst die Ankunft des Dampfschiffes
abzuwarten, wurde wie immer um diese Zeit eine Art Tagesbeschäftigung
für die Kessiner. Effi freilich, weil Innstetten sie nicht
begleiten konnte, musste darauf verzichten, aber sie hatte
doch wenigstens die Freude, die nach dem Strand und dem Strandhotel
hinausführende, sonst so menschenleere Straße sich
beleben zu sehen, und war denn auch, um immer wieder Zeuge davon
zu sein, viel mehr als sonst in ihrem Schlafzimmer, von dessen
Fenstern aus sich alles am besten beobachten ließ. Johanna
stand dann neben ihr und gab Antwort auf ziemlich alles, was sie
wissen wollte; denn da die meisten alljährlich wiederkehrende
Gäste waren, so konnte das Mädchen nicht bloß
die Namen nennen, sondern mitunter auch eine Geschichte dazugeben.
Das alles war unterhaltlich und erheiternd für Effi. Gerade
am Johannistag aber traf es sich, dass kurz vor elf Uhr vormittags,
wo sonst der Verkehr vom Dampfschiff her am buntesten vorüberflutete,
statt der mit Ehepaaren, Kindern und Reisekoffern besetzten Droschken
aus der Mitte der Stadt her ein schwarz verhangener Wagen (dem
sich zwei Trauerkutschen anschlossen) die zur Plantage führende
Straße herunterkam und vor dem der landrätlichen Wohnung
gegenübergelegenen Hause hielt. Die verwitwete Frau Registrator
Rode war nämlich drei Tage vorher gestorben, und nach Eintreffen
der in aller Kürze benachrichtigten Berliner Verwandten war
seitens ebendieser beschlossen worden, die Tote nicht nach Berlin
hin überführen, sondern auf dem Kessiner Dünenkirchhof
begraben zu wollen. Effi stand am Fenster und sah neugierig auf
die sonderbar feierliche Szene, die sich drüben abspielte.
Die zum Begräbnis von Berlin her Eingetroffenen waren zwei
Neffen mit ihren Frauen, alle gegen vierzig, etwas mehr oder weniger,
und von beneidenswert gesunder Gesichtsfarbe. Die Neffen, in gut sitzenden
Fracks, konnten passieren, und die nüchterne Geschäftsmäßigkeit,
die sich in ihrem gesamten Tun ausdrückte, war im Grunde
mehr kleidsam als störend. Aber die beiden Frauen! Sie waren
ganz ersichtlich bemüht, den Kessinern zu zeigen, was eigentlich
Trauer sei, und trugen denn auch lange, bis an die Erde reichende
schwarze Kreppschleier, die zugleich ihr Gesicht verhüllten.
Und nun wurde der Sarg, auf dem einige Kränze und sogar ein
Palmwedel lagen, auf den Wagen gestellt, und die beiden Ehepaare
setzten sich in die Kutschen. In die erste - gemeinschaftlich
mit dem einen der beiden leidtragenden Paare - stieg auch Lindequist,
hinter der zweiten Kutsche aber ging die Hauswirtin und neben
dieser die stattliche Person, die die Verstorbene zur Aushilfe
mit nach Kessin gebracht hatte. Letztere war sehr aufgeregt und
schien durchaus ehrlich darin, wenn dies Aufgeregtsein auch vielleicht
nicht gerade Trauer war; der sehr heftig schluchzenden Hauswirtin
aber, einer Witwe, sah man dagegen fast allzu deutlich an, dass
sie sich beständig die Möglichkeit eines Extrageschenkes
berechnete, trotzdem sie in der bevorzugten und von anderen Wirtinnen
auch sehr beneideten Lage war, die für den ganzen Sommer
vermietete Wohnung noch einmal vermieten zu können.
Effi, als der Zug sich in Bewegung setzte, ging in ihren hinter
dem Hofe gelegenen Garten, um hier zwischen den Buchsbaumbeeten
den Eindruck des Lieb- und Leblosen, den die ganze Szene drüben
auf sie gemacht hatte, wieder loszuwerden. Als dies aber nicht
glücken wollte, kam ihr die Lust, statt ihrer eintönigen
Gartenpromenade lieber einen weiteren Spaziergang zu machen, und
zwar umso mehr, als ihr der Arzt gesagt hatte, viel Bewegung
im Freien sei das Beste, was sie bei dem, was ihr bevorstände,
tun könne. Johanna, die mit im Garten war, brachte ihr denn
auch Umhang, Hut und Entoutcas, und mit einem freundlichen »Guten
Tag« trat Effi aus dem Hause heraus und ging auf das Wäldchen
zu, neben dessen breitem chaussierten Mittelweg ein schmalerer
Fußsteig auf die Dünen und das am Strand gelegene Hotel
zulief. Unterwegs standen Bänke, von denen sie jede benutzte,
denn das Gehen griff sie an, und umso mehr, als inzwischen die
heiße Mittagsstunde herangekommen war. Aber wenn sie saß
und von ihrem bequemen Platz aus die Wagen und die Damen in Toilette
beobachtete, die da hinausfuhren, so belebte sie sich wieder.
Denn Heiteres sehen war ihr wie Lebensluft. Als das Wäldchen
aufhörte, kam freilich noch eine allerschlimmste Wegstelle,
Sand und wieder Sand und nirgends eine Spur von Schatten; aber
glücklicherweise waren hier Bohlen und Bretter gelegt, und
so kam sie, wenn auch erhitzt und müde, doch in guter Laune
bei dem Strandhotel an. Drinnen im Saal wurde schon gegessen,
aber hier draußen um sie her war alles still und leer, was
ihr in diesem Augenblicke denn auch das Liebste war. Sie ließ
sich ein Glas Sherry und eine Flasche Biliner Wasser bringen und
sah auf das Meer hinaus, das im hellen Sonnenlichte schimmerte,
während es am Ufer in kleinen Wellen brandete. »Da drüben
liegt Bornholm und dahinter Wisby, wovon mir Jahnke vor Zeiten
immer Wunderdinge vorschwärmte. Wisby ging ihm fast noch
über Lübeck und Wullenweber. Und hinter Wisby kommt Stockholm,
wo das Stockholmer Blutbad war, und dann kommen die großen
Ströme und dann das Nordkap und dann die Mitternachtssonne.«
Und im Augenblick erfasste sie eine Sehnsucht, das alles
zu sehen. Aber dann gedachte sie wieder dessen, was ihr so nahe
bevorstand, und sie erschrak fast. »Es ist eine Sünde,
dass ich so leichtsinnig bin und solche Gedanken habe und
mich wegträume, während ich doch an das Nächste
denken müsste. Vielleicht bestraft es sich auch noch
und alles stirbt hin, das Kind und ich. Und der Wagen und die
zwei Kutschen, die halten dann nicht drüben vor dem Hause,
die halten dann bei uns ... Nein, nein, ich mag hier nicht sterben,
ich will hier nicht begraben sein, ich will nach Hohen-Cremmen.
Und Lindequist, so gut er ist - aber Niemeyer ist mir lieber;
er hat mich getauft und eingesegnet und getraut, und Niemeyer
soll mich auch begraben.« Und dabei fiel eine Träne
auf ihre Hand. Dann aber lachte sie wieder. »Ich lebe ja
noch und bin erst siebzehn, und Niemeyer ist siebenundfünfzig.«
In dem Ess-Saal hörte sie das Geklapper des Geschirrs.
Aber mit einem Male war es ihr, als ob die Stühle geschoben
würden; vielleicht stand man schon auf, und sie wollte jede
Begegnung vermeiden. So erhob sie sich auch ihrerseits rasch wieder
von ihrem Platz, um auf einem Umweg nach der Stadt zurückzukehren.
Dieser Umweg führte sie dicht an dem Dünenkirchhof vorüber,
und weil der Torweg des Kirchhofs gerade offen stand, trat sie
ein. Alles blühte hier, Schmetterlinge flogen über die
Gräber hin, und hoch in den Lüften standen ein paar
Möwen. Es war so still und schön, und sie hätte
hier gleich bei den ersten Gräbern verweilen mögen;
aber weil die Sonne mit jedem Augenblick heißer niederbrannte,
ging sie höher hinauf auf einen schattigen Gang zu, den
Hängeweiden und etliche an den Gräbern stehende Trauereschen
bildeten. Als sie bis an das Ende dieses Ganges gekommen, sah
sie zur Rechten einen frisch aufgeworfenen Sandhügel mit
vier, fünf Kränzen darauf und dicht daneben eine schon
außerhalb der Baumreihe stehende Bank, darauf die gute,
robuste Person saß, die an der Seite der Hauswirtin dem
Sarge der verwitweten Registratorin als letzte Leidtragende gefolgt
war. Effi erkannte sie sofort wieder und war in ihrem Herzen bewegt,
die gute, treue Person, denn dafür musste sie sie halten,
in sengender Sonnenhitze hier vorzufinden. Seit dem Begräbnis
waren wohl an zwei Stunden vergangen.
»Ja. Sie sind die Frau Landrätin von drüben. Und ich habe mit der Alten
immer von Ihnen gesprochen. Zuletzt konnte sie nicht mehr, weil
sie keine rechte Luft mehr hatte, denn es saß ihr hier und
wird wohl Wasser gewesen sein; aber solange sie noch reden konnte,
redete sie immerzu. Es war 'ne richtige Berlin'sche ...«
»Nein; wenn ich das sagen wollte,
müsst ich lügen. Da liegt sie nun und man soll
von einem Toten nichts Schlimmes sagen, und erst recht nicht,
wenn er so kaum seine Ruhe hat. Na, die wird sie ja wohl haben!
Aber sie taugte nichts und war zänkisch und geizig, und für
mich hat sie auch nicht gesorgt. Und die Verwandtschaft, die da
gestern von Berlin gekommen ... gezankt haben sie sich bis in
die sinkende Nacht ... na, die taugt auch nichts, die taugt erst
recht nichts. Lauter schlechtes Volk, happig und gierig und hartherzig,
und haben mir barsch und unfreundlich und mit allerlei Redensarten
meinen Lohn ausgezahlt, bloß weil sie mussten und weil
es bloß noch sechs Tage sind bis zum Vierteljahrsersten.
Sonst hätte ich nichts gekriegt oder bloß halb oder
bloß ein Viertel. Nichts aus freien Stücken. Und einen
eingerissenen Fünfmarkschein haben sie mir gegeben, dass
ich nach Berlin zurückreisen kann; na, es reicht so gerade
für die vierte Klasse, und ich werde wohl auf meinem Koffer
sitzen müssen. Aber ich will auch gar nicht; ich will hier
sitzen bleiben und warten, bis ich sterbe ... Gott, ich dachte
nun mal Ruhe zu haben und hätte auch ausgehalten bei der
Alten. Und nun ist es wieder nichts und soll mich wieder 'rumstoßen
lassen. Und kattolsch bin ich auch noch. Ach, ich hab es satt
und läg am liebsten, wo die Alte liegt, und sie könnte
meinetwegen weiterleben ... Sie hätte gerne noch weitergelebt;
solche Menschenschikanierer, die nich mal Luft haben, die leben
immer am liebsten.«
Mit einem Male war die Person wie verwandelt. »Gott, das
bedeutet mir was. Das is ja 'ne Kreatur, die mich leiden kann,
die mich freundlich ansieht und ihren Kopf auf meine Knie legt.
Gott, das ist lange her, dass ich so was gehabt habe. Nu,
mein Alterchen, wie heißt du denn? Du bist ja ein Prachtkerl.«
»Ja, ganz recht, gnädige Frau, das ist ein kattolscher
Name. Und das kommt auch noch dazu, dass ich eine Kattolsche
bin. Aus'm Eichsfeld. Und das Kattolsche, das macht es einem immer
noch schwerer und saurer. Viele wollen keine Kattolsche, weil
sie so viel in die Kirche rennen. 'Immer in die Beichte; und die
Hauptsache sagen sie doch nich' - Gott, wie oft hab ich das hören
müssen, erst als ich in Giebichenstein im Dienst war und
dann in Berlin. Ich bin aber eine schlechte Katholikin und bin
ganz davon abgekommen, und vielleicht geht es mir deshalb so schlecht;
ja, man darf nich von seinem Glauben lassen und muss alles
ordentlich mitmachen.«
»Ach, gnäd'ge Frau, was soll ich vorhaben. Ich habe
gar nichts vor. Wahr und wahrhaftig, ich möchte hier sitzen
bleiben und warten, bis ich tot umfalle. Das wär mir das
Liebste. Und dann würden die Leute noch denken, ich hätte
die Alte so geliebt wie ein treuer Hund und hätte von ihrem
Grabe nicht weg gewollt und wäre da gestorben. Aber das ist
falsch, für solche Alte stirbt man nicht; ich will bloß
sterben, weil ich nicht leben kann.«
»Gewiss war ich. Das ist ja mein Bestes und Schönstes.
Solche alte Berlin'sche - Gott verzeih mir die Sünde, denn
sie ist nun tot und steht vor Gottes Thron und kann mich da verklagen
- solche Alte, wie die da, ja, das ist schrecklich, was man da
alles tun muss, und steht einem hier vor Brust und Magen,
aber solch kleines, liebes Ding, solch Dingelchen wie 'ne Puppe,
das einen mit seinen Guckäugelchen ansieht, ja, das ist was,
da geht einem das Herz auf. Als ich in Halle war, da war ich Amme
bei der Frau Salzdirektorin, und in Giebichenstein, wo ich nachher
hinkam, da hab ich Zwillinge mit der Flasche groß gezogen;
ja, gnäd'ge Frau, das versteh ich, da drin bin ich wie zu
Hause.«
»Nun, wissen Sie was, Roswitha, Sie sind eine gute, treue
Person, das seh ich Ihnen an, ein bisschen gradezu, aber
das schadet nichts, das sind mitunter die Besten, und ich habe
gleich ein Zutrauen zu Ihnen gefasst. Wollen Sie mit zu mir
kommen? Mir ist, als hätte Gott Sie mir geschickt. Ich erwarte
nun bald ein Kleines, Gott gebe mir seine Hilfe dazu, und wenn
das Kind da ist, dann muss es gepflegt und abgewartet werden
und vielleicht auch gepäppelt. Man kann das ja nicht wissen,
wiewohl ich es anders wünsche. Was meinen Sie, wollen Sie
mit zu mir kommen? Ich kann mir nicht denken, dass ich mich
in Ihnen irre.«
Roswitha war aufgesprungen und hatte die Hand der jungen Frau
ergriffen und küsste sie mit Ungestüm. »Ach,
es ist doch ein Gott im Himmel, und wenn die Not am größten
ist, ist die Hilfe am nächsten. Sie sollen sehn, gnäd'ge
Frau, es geht; ich bin eine ordentliche Person und habe gute Zeugnisse.
Das können Sie sehn, wenn ich Ihnen mein Buch bringe. Gleich
den ersten Tag, als ich die gnäd'ge Frau sah, da dacht ich:
'Ja, wenn du mal solchen Dienst hättest.' Und nun soll ich
ihn haben. O du lieber Gott, o du heilge Jungfrau Maria, wer
mir das gesagt hätte, wie wir die Alte hier unter der Erde
hatten und die Verwandten machten, dass sie wieder fortkamen
und mich hier sitzen ließen.«
Drüben lag die eingegitterte Stelle, deren weißer Stein
in der Nachmittagssonne blinkte und blitzte. Effi konnte jetzt
ruhiger hinsehen. Eine Weile noch führte der Weg zwischen
Dünen hin, bis sie dicht vor Utpatels Mühle den Außenrand
des Wäldchens erreichte. Da bog sie links ein, und unter
Benutzung einer schräg laufenden Allee, die die »Reeperbahn«
hieß, ging sie mit Roswitha auf die landrätliche Wohnung
zu.
