Theodor Fontane: "Effi Briest"alte /neue Rechtschreibung Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Zehntes Kapitel
Sprung zu Absatz01n Innstetten war erst sechs Uhr früh von Varzin zurückgekommen und hatte sich, Rollos Liebkosungen abwehrend, so leise wie möglich in sein Zimmer zurückgezogen. Er machte sich's hier bequem und duldete nur, dass ihn Friedrich mit einer Reisedecke zudeckte. »Wecke mich um neun.« Und um diese Stunde war er denn auch geweckt worden. Er stand rasch auf und sagte: »Bringe das Frühstück.«
Sprung zu Absatz02n »Die gnädige Frau schläft noch.«
Sprung zu Absatz03n »Aber es ist ja schon spät. Ist etwas passiert?«
Sprung zu Absatz04n »Ich weiß es nicht; ich weiß nur, Johanna hat die Nacht über im Zimmer der gnädigen Frau schlafen müssen.«
Sprung zu Absatz05n »Nun, dann schicke Johanna.«
Sprung zu Absatz06n Diese kam denn auch. Sie hatte denselben rosigen Teint wie immer, schien sich also die Vorgänge der Nacht nicht sonderlich zu Gemüte genommen zu haben.
Sprung zu Absatz07n »Was ist das mit der gnäd'gen Frau? Friedrich sagt mir, es sei was passiert und Sie hätten drüben geschlafen.«
Sprung zu Absatz08n »Ja, Herr Baron. Gnäd'ge Frau klingelte dreimal ganz rasch hintereinander, dass ich gleich dachte, es bedeutet was. Und so war es auch. Sie hat wohl geträumt oder vielleicht war es auch das andere.«
Sprung zu Absatz09n »Welches andere?«
Sprung zu Absatz10n »Ach, der gnäd'ge Herr wissen ja.«
Sprung zu Absatz11n »Ich weiß nichts. Jedenfalls muss ein Ende damit gemacht werden. Und wie fanden Sie die Frau?«
Sprung zu Absatz12n »Sie war wie außer sich und hielt das Halsband von Rollo, der neben dem Bett der gnäd'gen Frau stand, fest umklammert. Und das Tier ängstigte sich auch.«
Sprung zu Absatz13n »Und was hatte sie geträumt oder meinetwegen auch, was hatte sie gehört oder gesehen? Was sagte sie?«
Sprung zu Absatz14n »Es sei so hingeschlichen, dicht an ihr vorbei.«
Sprung zu Absatz15n »Was? Wer?«
Sprung zu Absatz16n »Der von oben. Der aus dem Saal oder aus der kleinen Kammer.«
Sprung zu Absatz17n »Unsinn, sag ich. Immer wieder das alberne Zeug; ich mag davon nicht mehr hören. Und dann blieben Sie bei der Frau?«
Sprung zu Absatz18n »Ja, gnäd'ger Herr. Ich machte mir ein Lager an der Erde dicht neben ihr. Und ich musste ihre Hand halten, und dann schlief sie ein.«
Sprung zu Absatz19n »Und sie schläft noch?«
Sprung zu Absatz20n »Ganz fest.«
Sprung zu Absatz21n »Das ist mir ängstlich, Johanna. Man kann sich gesund schlafen, aber auch krank. Wir müssen sie wecken, natürlich vorsichtig, dass sie nicht wieder erschrickt. Und Friedrich soll das Frühstück nicht bringen; ich will warten, bis die gnäd'ge Frau da ist. Und machen Sie's geschickt.«
____________
Sprung zu Absatz
Sprung zu Absatz22n Eine halbe Stunde später kam Effi. Sie sah reizend aus, ganz blass, und stützte sich auf Johanna. Als sie aber Innstettens ansichtig wurde, stürzte sie auf ihn zu und umarmte und küsste ihn. Und dabei liefen ihr die Tränen übers Gesicht. »Ach, Geert, Gott sei Dank, dass du da bist. Nun ist alles wieder gut. Du darfst nicht wieder fort, du darfst mich nicht wieder allein lassen.«
Sprung zu Absatz23n »Meine liebe Effi ... stellen Sie hin, Friedrich, ich werde schon alles zurechtmachen ... meine liebe Effi, ich lasse dich ja nicht allein aus Rücksichtslosigkeit oder Laune, sondern weil es so sein muss; ich habe keine Wahl, ich bin ein Mann im Dienst, ich kann zum Fürsten oder auch zur Fürstin nicht sagen: Durchlaucht, ich kann nicht kommen, meine Frau ist so allein, oder meine Frau fürchtet sich. Wenn ich das sagte, würden wir in einem ziemlich komischen Lichte dastehen, ich gewiss, und du auch. Aber nimm erst eine Tasse Kaffee.«
Sprung zu Absatz24n Effi trank, was sie sichtlich belebte. Dann ergriff sie wieder ihres Mannes Hand und sagte: »Du sollst Recht haben; ich sehe ein, das geht nicht. Und dann wollen wir ja auch höher hinauf. Ich sage wir, denn ich bin eigentlich begieriger danach als du ...«
Sprung zu Absatz25n »So sind alle Frauen«, lachte Innstetten.
Sprung zu Absatz26n »Also abgemacht; du nimmst die Einladungen an nach wie vor, und ich bleibe hier und warte auf meinen 'hohen Herrn', wobei mir Hulda unterm Holunderbaum einfällt. Wie's ihr wohl gehen mag?«
Sprung zu Absatz27n »Damen wie Hulda geht es immer gut. Aber was wolltest du noch sagen?«
Sprung zu Absatz28n »Ich wollte sagen, ich bleibe hier und auch allein, wenn es sein muss. Aber nicht in diesem Hause. Lass uns die Wohnung wechseln. Es gibt so hübsche Häuser am Bollwerk, eins zwischen Konsul Martens und Konsul Grützmacher und eins am Markt, gerade gegenüber von Gieshübler; warum können wir da nicht wohnen? Warum gerade hier? Ich habe, wenn wir Freunde und Verwandte zum Besuch hatten, oft gehört, dass in Berlin Familien ausziehen wegen Klavierspiel oder wegen Schwaben oder wegen einer unfreundlichen Portiersfrau; wenn das um solcher Kleinigkeiten willen geschieht ...«
Sprung zu Absatz29n »Kleinigkeiten? Portiersfrau? Das sage nicht ...«
Sprung zu Absatz30n »Wenn das um solcher Dinge willen möglich ist, so muss es doch auch hier möglich sein, wo du Landrat bist und die Leute dir zu Willen sind und viele selbst zu Dank verpflichtet. Gieshübler würde uns gewiss dabei behilflich sein, wenn auch nur um meinetwegen, denn er wird Mitleid mit mir haben. Und nun sage, Geert, wollen wir dies verwunschene Haus aufgeben, dies Haus mit dem ...«
Sprung zu Absatz31n »... Chinesen, willst du sagen. Du siehst, Effi, man kann das furchtbare Wort aussprechen, ohne dass er erscheint. Was du da gesehen hast oder was da, wie du meinst, an deinem Bette vorüberschlich, das war der kleine Chinese, den die Mädchen oben an die Stuhllehne geklebt haben; ich wette, dass er einen blauen Rock an hatte und einen ganz flachen Deckelhut mit einem blanken Knopf oben.«
Sprung zu Absatz32n Sie nickte.
Sprung zu Absatz33n »Nun siehst du, Traum, Sinnestäuschung. Und dann wird dir Johanna wohl gestern Abend was erzählt haben, von der Hochzeit hier oben ...«
Sprung zu Absatz34n »Nein.«
Sprung zu Absatz35n »Desto besser.«
Sprung zu Absatz36n »Kein Wort hat sie mir erzählt. Aber ich sehe doch aus dem allen, dass es hier etwas Sonderbares gibt. Und dann das Krokodil; es ist alles so unheimlich hier.«
Sprung zu Absatz37n »Den ersten Abend, als du das Krokodil sahst, fandest du's märchenhaft ...«
Sprung zu Absatz38n »Ja, damals ...«
Sprung zu Absatz39n »... Und dann, Effi, kann ich hier nicht gut fort, auch wenn es möglich wäre, das Haus zu verkaufen oder einen Tausch zu machen. Es ist damit ganz wie mit einer Absage nach Varzin hin. Ich kann hier in der Stadt die Leute nicht sagen lassen, Landrat Innstetten verkauft sein Haus, weil seine Frau den aufgeklebten kleinen Chinesen als Spuk an ihrem Bette gesehen hat. Dann bin ich verloren, Effi. Von solcher Lächerlichkeit kann man sich nie wieder erholen.«
Sprung zu Absatz40n »Ja, Geert, bist du denn so sicher, dass es so was nicht gibt?«
Sprung zu Absatz41n »Will ich nicht behaupten. Es ist eine Sache, die man glauben und noch besser nicht glauben kann. Aber angenommen, es gäbe dergleichen, was schadet es? Dass in der Luft Bazillen herumfliegen, von denen du gehört haben wirst, ist viel schlimmer und gefährlicher als diese ganze Geistertummelage. Vorausgesetzt, dass sie sich tummeln, dass so was wirklich existiert. Und dann bin ich überrascht, solcher Furcht und Abneigung gerade bei dir zu begegnen, bei einer Briest. Das ist ja, wie wenn du aus einem kleinen Bürgerhause stammtest. Spuk ist ein Vorzug, wie Stammbaum und dergleichen, und ich kenne Familien, die sich ebenso gern ihr Wappen nehmen ließen als ihre 'weiße Frau', die natürlich auch eine schwarze sein kann.«
Sprung zu Absatz42n Effi schwieg.
Sprung zu Absatz43n »Nun, Effi. Keine Antwort?«
Sprung zu Absatz44n »Was soll ich antworten? Ich habe dir nachgegeben und mich willig gezeigt, aber ich finde doch, dass du deinerseits teilnahmsvoller sein könntest. Wenn du wüsstest, wie mir gerade danach verlangt. Ich habe sehr gelitten, wirklich sehr, und als ich dich sah, da dacht ich, nun würd ich frei werden von meiner Angst. Aber du sagst mir bloß, dass du nicht Lust hättest, dich lächerlich zu machen, nicht vor dem Fürsten und auch nicht vor der Stadt. Das ist ein geringer Trost. Ich finde es wenig und umso weniger, als du dir schließlich auch noch widersprichst und nicht bloß persönlich an diese Dinge zu glauben scheinst, sondern auch noch einen adligen Spukstolz von mir forderst. Nun, den hab ich nicht. Und wenn du von Familien sprichst, denen ihr Spuk so viel wert sei wie ihr Wappen, so ist das Geschmackssache; mir gilt mein Wappen mehr. Gott sei Dank haben wir Briests keinen Spuk. Die Briests waren immer sehr gute Leute, und damit hängt es wohl zusammen.«
____________
Sprung zu Absatz
Sprung zu Absatz45n Der Streit hätte wohl noch angedauert und vielleicht zu einer ersten ernstlichen Verstimmung geführt, wenn Friedrich nicht eingetreten wäre, um der gnädigen Frau einen Brief zu übergeben. »Von Herrn Gieshübler. Der Bote wartet auf Antwort.«
Sprung zu Absatz46n Aller Unmut auf Effis Antlitz war sofort verschwunden; schon bloß Gieshüblers Namen zu hören tat Effi wohl, und ihr Wohlgefühl steigerte sich, als sie jetzt den Brief musterte. Zunächst war es gar kein Brief, sondern ein Billett, die Adresse »Frau Baronin von Innstetten, geb. von Briest« in wundervoller Kanzleihandschrift und statt des Siegels ein aufgeklebtes rundes Bildchen, eine Lyra, darin ein Stab steckte. Dieser Stab konnte aber auch ein Pfeil sein. Sie reichte das Billett ihrem Manne, der es ebenfalls bewunderte.
Sprung zu Absatz47n »Nun lies aber.«
Sprung zu Absatz48n Und nun löste Effi die Oblate und las: »Hochverehrteste Frau, gnädigste Frau Baronin! Gestatten Sie mir, meinem respektvollsten Vormittagsgruß eine ganz gehorsamste Bitte hinzufügen zu dürfen. Mit dem Mittagszuge wird eine vieljährige liebe Freundin von mir, eine Tochter unserer Guten Stadt Kessin, Fräulein Marietta Trippelli, hier eintreffen und bis morgen früh unter uns weilen. Am 17. will sie in Petersburg sein, um daselbst bis Mitte Januar zu konzertieren. Fürst Kotschukoff öffnet ihr auch diesmal wieder sein gastliches Haus. In ihrer immer gleichen Güte gegen mich hat die Trippelli mir zugesagt, den heutigen Abend bei mir zubringen und einige Lieder ganz nach meiner Wahl (denn sie kennt keine Schwierigkeiten) vortragen zu wollen. Könnten sich Frau Baronin dazu verstehen, diesem Musikabende beizuwohnen? Sieben Uhr. Ihr Herr Gemahl, auf dessen Erscheinen ich mit Sicherheit rechne, wird meine gehorsamste Bitte unterstützen. Anwesend nur Pastor Lindequist (der begleitet) und natürlich die verwitwete Frau Pastorin Trippel. In vorzüglicher Ergebenheit A. Gieshübler.«
Sprung zu Absatz49n »Nun -«, sagte Innstetten, »ja oder nein?«
Sprung zu Absatz50n »Natürlich ja. Das wird mich herausreißen. Und dann kann ich doch meinem lieben Gieshübler nicht gleich bei seiner ersten Einladung einen Korb geben.«
Sprung zu Absatz51n »Einverstanden. Also Friedrich, sagen Sie Mirambo, der doch wohl das Billett gebracht haben wird, wir würden die Ehre haben.«
Sprung zu Absatz52n Friedrich ging. Als er fort war, fragte Effi: »Wer ist Mirambo?«
Sprung zu Absatz53n »Der echte Mirambo ist Räuberhauptmann in Afrika ... Tanganika-See, wenn deine Geographie so weit reicht ... unserer aber ist bloß Gieshüblers Kohlenprovisor und Faktotum und wird heute abend in Frack und baumwollenen Handschuhen sehr wahrscheinlich aufwarten.«
Sprung zu Absatz54n Es war ganz ersichtlich, dass der kleine Zwischenfall auf Effi günstig eingewirkt und ihr ein gut Teil ihrer Leichtlebigkeit zurückgegeben hatte, Innstetten aber wollte das Seine tun, diese Rekonvaleszens zu steigern. »Ich freue mich, dass du ja gesagt hast und so rasch und ohne Besinnen, und nun möcht ich dir noch einen Vorschlag machen, um dich ganz wieder in Ordnung zu bringen. Ich sehe wohl, es schleicht dir noch von der Nacht her etwas nach, das zu meiner Effi nicht passt, das durchaus wieder fort muss, und dazu gibt es nichts Besseres als frische Luft. Das Wetter ist prachtvoll, frisch und milde zugleich, kaum dass ein Lüftchen geht; was meinst du, wenn wir eine Spazierfahrt machten, aber eine lange, nicht bloß so durch die Plantage hin, und natürlich im Schlitten und das Geläut auf und die weißen Schneedecken, und wenn wir dann um vier zurück sind, dann ruhst du dich aus, und um sieben sind wir bei Gieshübler und hören die Trippelli.«
Sprung zu Absatz55n Effi nahm seine Hand. »Wie gut du bist, Geert, und wie nachsichtig. Denn ich muss dir ja kindisch oder doch wenigstens sehr kindlich vorgekommen sein; erst das mit meiner Angst und dann hinterher, dass ich dir einen Hausverkauf, und was noch schlimmer ist, das mit dem Fürsten ansinne. Du sollst ihm den Stuhl vor die Tür setzen - es ist zum Lachen. Denn schließlich ist er doch der Mann, der über uns entscheidet. Auch über mich. Du glaubst gar nicht, wie ehrgeizig ich bin. Ich habe dich eigentlich bloß aus Ehrgeiz geheiratet. Aber du musst nicht solch ernstes Gesicht dabei machen. Ich liebe dich ja ... wie heißt es doch, wenn man einen Zweig abbricht und die Blätter abreißt? Von Herzen mit Schmerzen, über alle Maßen.«
Sprung zu Absatz56n Und sie lachte hell auf. »Und nun sage mir«, fuhr sie fort, als Innstetten noch immer schwieg, »wo soll es hingehen?«
Sprung zu Absatz57n »Ich habe mir gedacht, nach der Bahnstation, aber auf einem Umwege und dann auf der Chaussee zurück. Und auf der Station essen wir oder noch besser bei Golchowski, in dem Gasthofe 'Zum Fürsten Bismarck', dran wir, wenn du dich vielleicht erinnerst, am Tage unserer Ankunft vorüberkamen. Solch Vorsprechen wirkt immer gut, und ich habe dann mit dem Starosten von Effis Gnaden ein Wahlgespräch, und wenn er auch persönlich nicht viel taugt, seine Wirtschaft hält er in Ordnung und seine Küche noch besser. Auf Essen und Trinken verstehen sich die Leute hier.«
Sprung zu Absatz58n Es war gegen elf, dass sie dies Gespräch führten. Um zwölf hielt Kruse mit dem Schlitten vor der Tür, und Effi stieg ein. Johanna wollte Fußsack und Pelze bringen, aber Effi hatte nach allem, was noch auf ihr lag, so sehr das Bedürfnis nach frischer Luft, dass sie alles zurückwies und nur eine doppelte Decke nahm. Innstetten aber sagte zu Kruse: »Kruse, wir wollen nun also nach dem Bahnhof, wo wir zwei beide heute früh schon mal waren. Die Leute werden sich wundern, aber es schadet nichts. Ich denke, wir fahren hier an der Plantage lang und dann links auf den Kroschentiner Kirchturm zu. Lassen Sie die Pferde laufen. Um eins müssen wir am Bahnhof sein.«
Sprung zu Absatz59n Und so ging die Fahrt. Über den weißen Dächern der Stadt stand der Rauch, denn die Luftbewegung war gering. Auch Utpatels Mühle drehte sich nur langsam, und im Fluge fuhren sie daran vorüber, dicht am Kirchhofe hin, dessen Berberitzensträucher über das Gitter hinauswuchsen und mit ihren Spitzen Effi streiften, so dass der Schnee auf ihre Reisedecke fiel. Auf der anderen Seite des Wegs war ein eingefriedeter Platz, nicht viel größer als ein Gartenbeet und innerhalb nichts sichtbar als eine junge Kiefer, die mitten daraus hervorragte.
Sprung zu Absatz60n »Liegt da auch wer begraben?« fragte Effi.
Sprung zu Absatz61n »Ja. Der Chinese.«
Sprung zu Absatz62n Effi fuhr zusammen; es war ihr wie ein Stich. Aber sie hatte doch Kraft genug, sich zu beherrschen, und fragte mit anscheinender Ruhe: »Unserer?«
Sprung zu Absatz63n »Ja, unserer. Auf dem Gemeindekirchhof war er natürlich nicht unterzubringen, und da hat denn Kapitän Thomsen, der so was wie sein Freund war, diese Stelle gekauft und ihn hier begraben lassen. Es ist auch ein Stein da mit Inschrift. Alles natürlich vor meiner Zeit. Aber es wird noch immer davon gesprochen.«
Sprung zu Absatz64n »Also ist es doch was damit. Eine Geschichte. Du sagtest schon heute früh so was. Und es wird am Ende das Beste sein, ich höre, was es ist. So lang ich es nicht weiß, bin ich trotz aller guten Vorsätze doch immer ein Opfer meiner Vorstellungen. Erzähle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit kann mich nicht so quälen wie meine Phantasie.«
Sprung zu Absatz65n »Bravo, Effi. Ich wollte nicht davon sprechen. Aber nun macht es sich so von selbst, und das ist gut. Übrigens ist es eigentlich gar nichts.«
Sprung zu Absatz66n »Mir gleich; gar nichts oder viel oder wenig. Fange nur an.«
Sprung zu Absatz67n »Ja, das ist leicht gesagt. Der Anfang ist immer das Schwerste, auch bei Geschichten. Nun, ich denke, ich beginne mit Kapitän Thomsen.«
Sprung zu Absatz68n »Gut, gut.«
Sprung zu Absatz69n »Also Thomsen, den ich dir schon genannt habe, war viele Jahre lang ein sogenannter Chinafahrer, immer mit Reisfracht zwischen Shanghai und Singapure und mochte wohl schon sechzig sein, als er hier ankam. Ich weiß nicht, ob er hier geboren war oder ob er andere Beziehungen hier hatte. Kurz und gut, er war nun da und verkaufte sein Schiff, einen alten Kasten, draus er nicht viel heraus schlug, und kaufte sich ein Haus, dasselbe, drin wir jetzt wohnen. Denn er war draußen in der Welt ein vermögender Mann geworden. Und von daher schreibt sich auch das Krokodil und der Haifisch und natürlich auch das Schiff ... Also Thomsen war nun da, ein sehr adretter Mann (so wenigstens hat man mir gesagt) und wohl gelitten. Auch beim Bürgermeister Kirstein, vor allem bei dem damaligen Pastor in Kessin, einem Berliner, der kurz vor Thomsen auch hierher gekommen war und viel Anfeindung hatte.«
Sprung zu Absatz70n »Glaub ich. Ich merke das auch; sie sind hier so streng und selbstgerecht. Ich glaube, das ist pommersch.«
Sprung zu Absatz71n »Ja und nein, je nachdem. Es gibt auch Gegenden, wo sie gar nicht streng sind und wo's drunter und drüber geht... Aber sieh nur, Effi, da haben wir gerade den Kroschentiner Kirchturm dicht vor uns. Wollen wir nicht den Bahnhof aufgeben und lieber bei der alten Frau von Grasenabb vorfahren? Sidonie, wenn ich recht berichtet bin, ist nicht zu Hause. Wir könnten es also wagen ...«
Sprung zu Absatz72n »Ich bitte dich, Geert, wo denkst du hin? Es ist ja himmlisch, so hinzufliegen, und ich fühle ordentlich, wie mir so frei wird und wie alle Angst von mir abfällt. Und nun soll ich das alles aufgeben, bloß um den alten Leuten eine Stippvisite zu machen und ihnen sehr wahrscheinlich eine Verlegenheit zu schaffen. Um Gottes willen nicht. Und dann will ich vor allem auch die Geschichte hören. Also wir waren bei Kapitän Thomsen, den ich mir als einen Dänen oder Engländer denke, sehr sauber, mit weißen Vatermördern und ganz weißer Wäsche ...«
Sprung zu Absatz73n »Ganz richtig. So soll er gewesen sein. Und mit ihm war eine junge Person von etwa zwanzig, von der einige sagen, sie sei seine Nichte gewesen, aber die meisten sagen, seine Enkelin, was übrigens den Jahren nach kaum möglich. Und außer der Enkelin oder der Nichte war da auch noch ein Chinese, derselbe, der da zwischen den Dünen liegt und an dessen Grab wir eben vorübergekommen sind.«
Sprung zu Absatz74n »Gut, gut.«
Sprung zu Absatz75n »Also dieser Chinese war Diener bei Thomsen, und Thomsen hielt so große Stücke auf ihn, dass er eigentlich mehr Freund als Diener war. Und das ging so Jahr und Tag. Da mit einem Male hieß es, Thomsens Enkelin, die, glaub ich, Nina hieß, solle sich nach des Alten Wunsche verheiraten, auch mit einem Kapitän. Und richtig, so war es auch. Es gab eine große Hochzeit im Hause, der Berliner Pastor tat sie zusammen, und Müller Utpatel, der ein Konventikler war, und Gieshübler, dem man in der Stadt in kirchlichen Dingen auch nicht recht traute, waren geladen und vor allem viele Kapitäne mit ihren Frauen und Töchtern. Und wie man sich denken kann, es ging hoch her. Am Abend aber war Tanz, und die Braut tanzte mit jedem und zuletzt auch mit dem Chinesen. Da mit einem Mal hieß es, sie sei fort, die Braut nämlich. Und sie war auch wirklich fort, irgendwohin, und niemand weiß, was da vorgefallen. Und nach vierzehn Tagen starb der Chinese; Thomsen kaufte die Stelle, die ich dir gezeigt habe, und da wurd er begraben. Der Berliner Pastor aber soll gesagt haben: Man hätte ihn auch ruhig auf dem christlichen Kirchhof begraben können, denn der Chinese sei ein sehr guter Mensch gewesen und gerade so gut wie die anderen. Wen er mit den 'anderen' eigentlich gemeint hat, sagte mir Gieshübler, das wisse man nicht recht.«
Sprung zu Absatz76n »Aber ich bin in dieser Sache doch ganz und gar gegen den Pastor; so was darf man nicht aussprechen, weil es gewagt und unpassend ist. Das würde selbst Niemeyer nicht gesagt haben.«
Sprung zu Absatz77n »Und das ist auch dem armen Pastor, der übrigens Trippel hieß, sehr verdacht worden, so dass es eigentlich ein Glück war, dass er drüber hin starb, sonst hätte er seine Stelle verloren. Denn die Stadt, trotzdem sie ihn gewählt, war doch auch gegen ihn, geradeso wie du, und das Konsistorium natürlich erst recht.«
Sprung zu Absatz78n »Trippel, sagst du? Dann hängt er am Ende mit der Frau Pastor Trippel zusammen, die wir heute Abend sehen sollen?«
Sprung zu Absatz79n »Natürlich hängt er mit der zusammen. Er war ihr Mann und ist der Vater von der Trippelli.«
Sprung zu Absatz80n Effi lachte. »Von der Trippelli! Nun sehe ich erst klar in allem. Dass sie in Kessin geboren, schrieb ja schon Gieshübler; aber ich dachte, sie sei die Tochter von einem italienischen Konsul. Wir haben ja so viele fremdländische Namen hier. Und nun ist sie gut deutsch und stammt von Trippel. Ist sie denn so vorzüglich, dass sie wagen konnte, sich so zu italienisieren?«
Sprung zu Absatz81n »Dem Mutigen gehört die Welt. Übrigens ist sie ganz tüchtig. Sie war ein paar Jahre lang in Paris bei der berühmten Viardot, wo sie auch den russischen Fürsten kennen lernte, denn die russischen Fürsten sind sehr aufgeklärt, über kleine Standesvorurteile weg, und Kotschukoff und Gieshübler - den sie übrigens 'Onkel' nennt, und man kann fast von ihm sagen, er sei der geborene Onkel - diese beiden sind es recht eigentlich, die die kleine Marie Trippel zu dem gemacht haben, was sie jetzt ist. Gieshübler war es, durch den sie nach Paris kam, und Kotschukoff hat sie dann in die Trippelli transponiert. «
Sprung zu Absatz82n »Ach, Geert, wie reizend ist das alles, und welch Alltagsleben habe ich doch in Hohen-Cremmen geführt! Nie was Apartes.«
Sprung zu Absatz83n Innstetten nahm ihre Hand und sagte: »So darfst du nicht sprechen, Effi. Spuk, dazu kann man sich stellen wie man will. Aber hüte dich vor dem Aparten oder was man so das Aparte nennt. Was dir so verlockend erscheint - und ich rechne auch ein Leben dahin, wie's die Trippelli führt - das bezahlt man in der Regel mit seinem Glück. Ich weiß wohl, wie sehr du dein Hohen-Cremmen liebst und daran hängst, aber du spottest doch auch oft darüber und hast keine Ahnung davon, was stille Tage, wie die Hohen-Cremmner, bedeuten.«
Sprung zu Absatz84n »Doch, doch«, sagte sie. »Ich weiß es wohl. Ich höre nur gern einmal von etwas anderem, und dann wandelt mich die Lust an, mit dabei zu sein. Aber du hast ganz Recht. Und eigentlich hab ich doch eine Sehnsucht nach Ruh und Frieden.«
Sprung zu Absatz85n Innstetten drohte ihr mit dem Finger. »Meine einzig liebe Effi, das denkst du dir nun auch wieder so aus. Immer Phantasien, mal so, mal so.«