Theodor Fontane: "Effi Briest"alte /neue Rechtschreibung Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Zwanzigstes Kapitel
Sprung zu Absatz01 Innstetten, der Effi, als er sie aus dem Schlitten hob, scharf beobachtete, aber doch ein Sprechen über die sonderbare Fahrt zu zweien vermieden hatte, war am anderen Morgen früh auf und suchte seiner Verstimmung, die noch nachwirkte, so gut es ging Herr zu werden.
Sprung zu Absatz02 »Du hast gut geschlafen?« sagte er, als Effi zum Frühstück kam.
Sprung zu Absatz03 »Ja.«
Sprung zu Absatz04 »Wohl Dir. Ich kann dasselbe von mir nicht sagen. Ich träumte, daß Du mit dem Schlitten im Schloon verunglückt seist, und Crampas mühte sich, Dich zu retten; ich muß es so nennen, aber er versank mit Dir.«
Sprung zu Absatz05 »Du sprichst das alles so sonderbar, Geert. Es verbirgt sich ein Vorwurf dahinter, und ich ahne weshalb.«
Sprung zu Absatz06 »Sehr merkwürdig.«
Sprung zu Absatz07 »Du bist nicht einverstanden damit, daß Crampas kam und uns seine Hülfe anbot.«
Sprung zu Absatz08 »Uns?«
Sprung zu Absatz09 »Ja, uns. Sidonien und mir. Du mußt durchaus vergessen haben, daß der Major in deinem Auftrage kam. Und als er mir erst gegenüber saß, beiläufig jämmerlich genug auf der elenden schmalen Leiste, sollte ich ihn da ausweisen, als die Grasenabb's kamen und mit einemmale die Fahrt weiterging? Ich hätte mich lächerlich gemacht, und dagegen bist Du doch so empfindlich. Erinnere Dich, daß wir unter Deiner Zustimmung viele Male gemeinschaftlich spazieren geritten sind, und nun sollte ich nicht gemeinschaftlich mit ihm fahren? Es ist falsch, so hieß es bei uns zu Haus, einem Edelmanne Mißtrauen zu zeigen.«
Sprung zu Absatz10 »Einem Edelmanne,« sagte Innstetten mit Betonung.
Sprung zu Absatz11 »Ist er keiner? Du hast ihn selbst einen Kavalier genannt, sogar einen perfekten Kavalier.«
Sprung zu Absatz12 »Ja,« fuhr Innstetten fort, und seine Stimme wurde freundlicher, trotzdem ein leiser Spott noch darin nachklang. »Kavalier, das ist er, und ein perfekter Kavalier, das ist er nun schon ganz gewiß. Aber Edelmann! Meine liebe Effi, ein Edelmann sieht anders aus. Hast Du schon etwas Edles an ihm bemerkt? Ich nicht.«
Sprung zu Absatz13 Effi sah vor sich hin und schwieg.
Sprung zu Absatz14 »Es scheint, wir sind gleicher Meinung. Im übrigen, wie Du schon sagtest, ich bin selber schuld; von einem faux pas mag ich nicht sprechen, das ist in diesem Zusammenhange kein gutes Wort. Also selber schuld, und es soll nicht wieder vorkommen, soweit ich's hindern kann. Aber auch Du, wenn ich Dir raten darf, sei auf Deiner Hut. Er ist ein Mann der Rücksichtslosigkeiten und hat so seine Ansichten über junge Frauen. Ich kenne ihn von früher.«
Sprung zu Absatz15 »Ich werde mir Deine Worte gesagt sein lassen. Nur so viel, ich glaube, Du verkennst ihn.«
Sprung zu Absatz16 »Ich verkenne ihn nicht.«
Sprung zu Absatz17 »Oder mich,« sagte sie mit einer Kraftanstrengung und versuchte seinem Blicke zu begegnen.
Sprung zu Absatz18 »Auch Dich nicht, meine liebe Effi. Du bist eine reizende kleine Frau, aber Festigkeit ist nicht eben Deine Spezialität.«
Sprung zu Absatz19 Er erhob sich, um zu gehen. Als er bis an die Thür gegangen war, trat Friedrich ein, um ein Gieshübler'sches Billett abzugeben, das natürlich an die gnädige Frau gerichtet war.
Sprung zu Absatz20 Effi nahm es. »Eine Geheimkorrespondenz mit Gieshübler,« sagte sie; »Stoff zu neuer Eifersucht für meinen gestrengen Herrn. Oder nicht?«
Sprung zu Absatz21 »Nein, nicht ganz, meine liebe Effi. Ich begehe die Thorheit, zwischen Crampas und Gieshübler einen Unterschied zu machen. Sie sind sozusagen nicht von gleichem Karat; nach Karat berechnet man nämlich den reinen Goldeswert, unter Umständen auch der Menschen. Mir persönlich, um auch das noch zu sagen, ist Gieshübler's weißes Jabot, trotzdem kein Mensch mehr Jabots trägt, erheblich lieber als Crampas' rotblonder Sappeurbart. Aber ich bezweifle, daß dies weiblicher Geschmack ist.«
Sprung zu Absatz22 »Du hältst uns für schwächer, als wir sind.«
Sprung zu Absatz23 »Eine Tröstung von praktisch außerordentlicher Geringfügigkeit. Aber lassen wir das. Lies lieber.«
Sprung zu Absatz24 Und Effi las: »Darf ich mich nach der gnäd'gen Frau Befinden erkundigen? Ich weiß nur, daß Sie dem Schloon glücklich entronnen sind; aber es blieb auch durch den Wald immer noch Fährlichkeit genug. Eben kommt Dr. Hannemann von Uvagla zurück und beruhigt mich über Mirambo; gestern habe er die Sache für bedenklicher angesehen, als er uns habe sagen wollen, heute nicht mehr. Es war eine reizende Fahrt. - In drei Tagen feiern wir Sylvester. Auf eine Festlichkeit, wie die vorjährige, müssen wir verzichten; aber einen Ball haben wir natürlich, und Sie erscheinen zu sehen, würde die Tanzwelt beglücken und nicht am wenigsten Ihren respektvollst ergebenen Alonzo G.«
Sprung zu Absatz25 Effi lachte. »Nun, was sagst Du?«
Sprung zu Absatz26 »Nach wie vor nur das eine, daß ich Dich lieber mit Gieshübler als mit Crampas sehe.«
Sprung zu Absatz27 »Weil Du den Crampas zu schwer und den Gieshübler zu leicht nimmst.«
Sprung zu Absatz28 Innstetten drohte ihr scherzhaft mit dem Finger.
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Sprung zu Absatz29 Drei Tage später war Sylvester. Effi erschien in einer reizenden Balltoilette, einem Geschenk, das ihr der Weihnachtstisch gebracht hatte; sie tanzte aber nicht, sondern nahm ihren Platz bei den alten Damen, für die, ganz in der Nähe der Musikempore, die Fauteuils gestellt waren. Von den adligen Familien, mit denen Innstetten's vorzugsweise verkehrten, war niemand da, weil kurz vorher ein kleines Zerwürfnis mit dem städtischen Ressourcenvorstand, der, namentlich seitens des alten Güldenklee, 'mal wieder »destruktiver Tendenzen« beschuldigt worden war, stattgefunden hatte; drei, vier andere adlige Familien aber, die nicht Mitglieder der Ressource, sondern immer nur geladene Gäste waren und deren Güter an der anderen Seite der Kessine lagen, waren aus zum Teil weiter Entfernung über das Flußeis gekommen und freuten sich, an dem Fest teilnehmen zu können. Effi saß zwischen der alten Ritterschaftsrätin von Padden und einer etwas jüngeren Frau von Titzewitz. Die Ritterschaftsrätin, eine vorzügliche alte Dame, war in allen Stücken ein Original und suchte das, was die Natur, besonders durch starke Backenknochenbildung, nach der wendisch-heidnischen Seite hin für sie gethan hatte, durch christlich-germanische Glaubensstrenge wieder in Ausgleich zu bringen. In dieser Strenge ging sie so weit, daß selbst Sidonie von Grasenabb eine Art esprit fort neben ihr war, wogegen sie freilich - vielleicht weil sich die Radegaster und die Swantowiter Linie des Hauses in ihr vereinigten - über jenen alten Paddenhumor verfügte, der, von langer Zeit her, wie ein Segen auf der Familie ruhte, und jeden, der mit derselben in Berührung kam, auch wenn es Gegner in Politik und Kirche waren, herzlich erfreute.
Sprung zu Absatz30 »Nun, Kind,« sagte die Ritterschaftsrätin, »wie geht es Ihnen denn eigentlich?«
Sprung zu Absatz31 »Gut, gnädigste Frau; ich habe einen sehr ausgezeichneten Mann.«
Sprung zu Absatz32 »Weiß ich. Aber das hilft nicht immer. Ich hatte auch einen ausgezeichneten Mann. Wie steht es hier? Keine Anfechtungen?«
Sprung zu Absatz33 Effi erschrak und war zugleich wie gerührt. Es lag etwas ungemein Erquickliches in dem freien und natürlichen Ton, in dem die alte Dame sprach, und daß es eine so fromme Frau war, das machte die Sache nur noch erquicklicher.
Sprung zu Absatz35 »Ach, gnädigste Frau ...«
Sprung zu Absatz36 »Da kommt es schon. Ich kenne das. Immer dasselbe. Darin ändern die Zeiten nichts. Und vielleicht ist es auch recht gut so. Denn worauf es ankommt, meine liebe junge Frau, das ist das Kämpfen. Man muß immer ringen mit dem natürlichen Menschen. Und wenn man sich dann so unter hat und beinah' schreien möchte, weil's weh thut, dann jubeln die lieben Engel!«
Sprung zu Absatz37 »Ach, gnädigste Frau. Es ist oft recht schwer.«
Sprung zu Absatz38 »Freilich ist es schwer. Aber je schwerer, desto besser. Darüber müssen Sie sich freuen. Das mit dem Fleisch, das bleibt, und ich habe Enkel und Enkelinnen, da seh' ich es jeden Tag. Aber im Glauben sich unterkriegen, meine liebe Frau, darauf kommt es an, das ist das Wahre. Das hat uns unser alter Martin Luther zur Erkenntnis gebracht, der Gottesmann. Kennen Sie seine Tischreden?«
Sprung zu Absatz39 »Nein, gnädigste Frau.«
Sprung zu Absatz40 »Die werde ich Ihnen schicken.«
Sprung zu Absatz41 In diesem Augenblicke trat Major Crampas an Effi heran und bat, sich nach ihrem Befinden erkundigen zu dürfen. Effi war wie mit Blut übergossen; aber ehe sie noch antworten konnte, sagte Crampas: »Darf ich Sie bitten, gnädigste Frau, mich den Damen vorstellen zu wollen?«
Sprung zu Absatz42 Effi nannte nun Crampas' Namen, der seinerseits schon vorher vollkommen orientiert war und in leichtem Geplauder alle Paddens und Titzewitze, von denen er je gehört hatte, Revue passieren ließ. Zugleich entschuldigte er sich, den Herrschaften jenseits der Kessine noch immer nicht seinen Besuch gemacht und seine Frau vorgestellt zu haben; »aber es sei sonderbar, welche trennende Macht das Wasser habe. Es sei dasselbe wie mit dem Canal La Manche ...«
Sprung zu Absatz43 »Wie?« fragte die alte Titzewitz.
Sprung zu Absatz44 Crampas seinerseits hielt es für unangebracht, Aufklärungen zu geben, die doch zu nichts geführt haben würden, und fuhr fort: »Auf zwanzig Deutsche, die nach Frankreich gehen, kommt noch nicht einer, der nach England geht. Das macht das Wasser; ich wiederhole, das Wasser hat eine scheidende Kraft.«
Sprung zu Absatz45 Frau von Padden, die darin mit feinem Instinkt etwas Anzügliches witterte, wollte für das Wasser eintreten, Crampas aber sprach mit immer wachsendem Redefluß weiter und lenkte die Aufmerksamkeit der Damen auf ein schönes Fräulein von Stojentin, »das ohne Zweifel die Ballkönigin« sei, wobei sein Blick übrigens Effi bewundernd streifte. Dann empfahl er sich rasch unter Verbeugung gegen alle drei.
Sprung zu Absatz46 »Schöner Mann,« sagte die Padden. »Verkehrt er in Ihrem Hause?«
Sprung zu Absatz47 »Flüchtig.«
Sprung zu Absatz48 »Wirklich,« wiederholte die Padden, »ein schöner Mann. Ein bißchen zu sicher. Und Hochmut kommt vor dem Fall ... Aber sehen Sie nur, da tritt er wirklich mit der Grete Stojentin an. Eigentlich ist er doch zu alt; wenigstens Mitte Vierzig.«
Sprung zu Absatz49 »Er wird vierundvierzig.«
Sprung zu Absatz50 »Ei, ei, Sie scheinen ihn ja gut zu kennen.«
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Sprung zu Absatz51 Es kam Effi sehr zu paß, daß das neue Jahr, gleich in seinem Anfang, allerlei Aufregungen brachte. Seit Sylvesternacht ging ein scharfer Nordost, der sich in den nächsten Tagen fast bis zum Sturm steigerte, und am dritten Januar nachmittags hieß es, daß ein Schiff draußen mit der Einfahrt nicht zustande gekommen und hundert Schritt vor der Mole gescheitert sei; es sei ein englisches, von Sunderland her, und so weit sich erkennen lasse, sieben Mann an Bord; die Lotsen könnten beim Ausfahren, trotz aller Anstrengung, nicht um die Mole herum, und vom Strand aus ein Boot abzulassen, daran sei nun vollends nicht zu denken, die Brandung sei viel zu stark. Das klang traurig genug. Aber Johanna, die die Nachricht brachte, hatte doch auch Trost bei der Hand: Konsul Eschrich, mit dem Rettungsapparat und der Raketenbatterie, sei schon unterwegs, und es würde gewiß glücken; die Entfernung sei nicht voll so weit wie Anno 75, wo's doch auch gegangen, und sie hätten damals sogar den Pudel mit gerettet, und es wäre ordentlich rührend gewesen, wie sich das Tier gefreut und die Kapitänsfrau und das liebe, kleine Kind, nicht viel größer als Anniechen, immer wieder mit seiner roten Zunge geleckt habe.
Sprung zu Absatz52 »Geert, da muß ich mit hinaus, das muß ich sehen,« hatte Effi sofort erklärt, und beide waren aufgebrochen, um nicht zu spät zu kommen, und hatten denn auch den rechten Moment abgepaßt; denn im Augenblick, als sie, von der Plantage her, den Strand erreichten, fiel der erste Schuß, und sie sahen ganz deutlich, wie die Rakete mit dem Fangseil unter dem Sturmgewölk hinflog und über das Schiff weg jenseits niederfiel. Alle Hände regten sich sofort an Bord, und nun holten sie, mit Hülfe der kleinen Leine, das dickere Tau samt dem Korb heran, und nicht lange, so kam der Korb in einer Art Kreislauf wieder zurück, und einer der Matrosen, ein schlanker, bildhübscher Mensch mit einer wachsleinenen Kappe, war geborgen an Land und wurde neugierig ausgefragt, während der Korb aufs neue seinen Weg machte, zunächst den zweiten und dann den dritten heranzuholen und so fort. Alle wurden gerettet, und Effi hätte sich, als sie nach einer halben Stunde mit ihrem Manne wieder heim ging, in die Dünen werfen und sich ausweinen mögen. Ein schönes Gefühl hatte wieder Platz in ihrem Herzen gefunden, und es beglückte sie unendlich, daß es so war.
Sprung zu Absatz53 Das war am dritten gewesen. Schon am fünften kam ihr eine neue Aufregung, freilich ganz anderer Art. Innstetten hatte Gieshübler, der natürlich auch Stadtrat und Magistratsmitglied war, beim Herauskommen aus dem Rathause getroffen und im Gespräche mit ihm erfahren, daß seitens des Kriegsministeriums angefragt worden sei, wie sich die Stadtbehörden eventuell zur Garnisonsfrage zu stellen gedächten? Bei nötigem Entgegenkommen, also bei Bereitwilligkeit zu Stall- und Kasernenbauten, könnten ihnen zwei Schwadronen Husaren zugesagt werden. »Nun, Effi, was sagst Du dazu?« - Effi war wie benommen. All' das unschuldige Glück ihrer Kinderjahre stand mit einemmal wieder vor ihrer Seele, und im Augenblick war es ihr, als ob rote Husaren - denn es waren auch rote wie daheim in Hohen-Cremmen - so recht eigentlich die Hüter von Paradies und Unschuld seien. Und dabei schwieg sie noch immer.
Sprung zu Absatz54 »Du sagst ja nichts, Effi.«
Sprung zu Absatz55 »Ja, sonderbar, Geert. Aber es beglückt mich so, daß ich vor Freude nichts sagen kann. Wird es denn auch sein? Werden sie denn auch kommen?«
Sprung zu Absatz56 »Damit hat's freilich noch gute Wege, ja, Gieshübler meinte sogar, die Väter der Stadt, seine Kollegen, verdienten es gar nicht. Statt einfach über die Ehre, und wenn nicht über die Ehre, so doch wenigstens über den Vorteil einig und glücklich zu sein, wären sie mit allerlei 'Wenns' und 'Abers' gekommen und hätten geknausert wegen der neuen Bauten: ja, Pefferküchler Michelsen habe sogar gesagt, es verderbe die Sitten der Stadt, und wer eine Tochter habe, der möge sich vorsehen und Gitterfenster anschaffen.
Sprung zu Absatz57 »Es ist nicht zu glauben. Ich habe nie manierlichere Leute gesehen als unsere Husaren; wirklich, Geert. Nun, Du weißt es ja selbst. Und nun will dieser Michelsen alles vergittern. Hat er denn Töchter?«
Sprung zu Absatz58 »Gewiß; sogar drei. Aber sie sind sämtlich hors concours.«
Sprung zu Absatz59 Effi lachte so herzlich, wie sie seit lange nicht mehr gelacht hatte. Doch es war von keiner Dauer, und als Innstetten ging und sie allein ließ, setzte sie sich an die Wiege des Kindes, und ihre Thränen fielen auf die Kissen. Es brach wieder über sie herein, und sie fühlte, daß sie wie eine Gefangene sei und nicht mehr heraus könne.
Sprung zu Absatz60 Sie litt schwer darunter und wollte sich befreien. Aber wiewohl sie starker Empfindungen fähig war, so war sie doch keine starke Natur; ihr fehlte die Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen gingen wieder vorüber. So trieb sie denn weiter, heute, weil sie's nicht ändern konnte, morgen, weil sie's nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine Macht über sie.
Sprung zu Absatz61 So kam es, daß sie sich, von Natur frei und offen, in ein verstecktes Komödienspiel mehr und mehr hinein lebte. Mitunter erschrak sie, wie leicht es ihr wurde. Nur in einem blieb sie sich gleich: sie sah alles klar und beschönigte nichts. Einmal trat sie spät abends vor den Spiegel in ihrer Schlafstube; die Lichter und Schatten flogen hin und her, und Rollo schlug draußen an, und im selben Augenblicke war es ihr, als sähe ihr wer über die Schulter. Aber sie besann sich rasch. »Ich weiß schon, was es ist; es war nicht der,« und sie wies mit dem Finger nach dem Spukzimmer oben. »Es war 'was anderes ... mein Gewissen ... Effi, Du bist verloren.«
Sprung zu Absatz62 Es ging aber doch weiter so, die Kugel war im Rollen, und was an einem Tage geschah, machte das Thun des andern zur Notwendigkeit.
Sprung zu Absatz63 Um die Mitte des Monats kamen Einladungen aufs Land. Über die dabei inne zu haltende Reihenfolge hatten sich die vier Familien, mit denen Innstettens vorzugsweise verkehrten, geeinigt: die Borcke's sollten beginnen, die Flemming's und Grasenabb's folgten, die Güldenklee's schlossen ab. Immer eine Woche dazwischen. Alle vier Einladungen kamen am selben Tage; sie sollten ersichtlich den Eindruck des Ordentlichen und Wohlerwogenen machen, auch wohl den einer besonderen freundschaftlichen Zusammengehörigkeit.
Sprung zu Absatz64 »Ich werde nicht dabei sein, Geert, und Du mußt mich der Kur halber, in der ich nun seit Wochen stehe, von vornherein entschuldigen.«
Sprung zu Absatz65 Innstetten lachte. »Kur. Ich soll es auf die Kur schieben. Das ist das Vorgebliche; das Eigentliche heißt: Du willst nicht.«
Sprung zu Absatz66 »Nein, es ist doch mehr Ehrlichkeit dabei als Du zugeben willst. Du hast selbst gewollt, daß ich den Doktor zu Rate ziehe. Das hab' ich gethan, und nun muß ich doch seinem Rate folgen. Der gute Doktor, er hält mich für bleichsüchtig, sonderbar genug, und Du weißt, daß ich jeden Tag von dem Eisenwasser trinke. Wenn Du Dir ein Borcke'sches Diner dazu vorstellst, vielleicht mit Preßkopf und Aal in Aspik, so mußt Du den Eindruck haben, es wäre mein Tod. Und so wirst Du Dich doch zu Deiner Effi nicht stellen wollen. Freilich mitunter ist es mir ...«
Sprung zu Absatz67 »Ich bitte Dich, Effi ...«
Sprung zu Absatz68 »... Übrigens freu' ich mich, und das ist das einzige Gute dabei, Dich jedesmal, wenn Du fährst, eine Strecke Wegs begleiten zu können, bis an die Mühle gewiß oder bis an den Kirchhof oder auch bis an die Waldecke, da, wo der Morgnitzer Querweg einmündet. Und dann steig' ich ab und schlendere wieder zurück. In den Dünen ist es immer am schönsten. «
Sprung zu Absatz69 Innstetten war einverstanden, und als drei Tage später der Wagen vorfuhr, stieg Effi mit auf und gab ihrem Manne das Geleit bis an die Waldecke. »Hier laß halten, Geert. Du fährst nun links weiter, ich gehe rechts bis an den Strand und durch die Plantage zurück. Es ist etwas weit, aber doch nicht zu weit. Doktor Hannemann sagt mir jeden Tag, Bewegung sei alles, Bewegung und frische Luft. Und ich glaube beinah', daß er recht hat. Empfiehl mich all' den Herrschaften; nur bei Sidonie kannst Du schweigen.«
Sprung zu Absatz70 Die Fahrten, auf denen Effi ihren Gatten bis an die Waldecke begleitete, wiederholten sich allwöchentlich; aber auch in der zwischenliegenden Zeit hielt Effi darauf, daß sie der ärztlichen Verordnung streng nachkam. Es verging kein Tag, wo sie nicht ihren vorgeschriebenen Spaziergang gemacht hätte, meist nachmittags, wenn sich Innstetten in seine Zeitungen zu vertiefen begann. Das Wetter war schön, eine milde, frische Luft, der Himmel bedeckt. Sie ging in der Regel allein und sagte zu Roswitha: »Roswitha, ich gehe nun also die Chaussee hinunter und dann rechts an den Platz mit dem Karussell; da will ich auf Dich warten, da hole mich ab. Und dann gehen wir durch die Birkenallee oder durch die Reeperbahn wieder zurück. Aber komme nur, wenn Annie schläft. Und wenn sie nicht schläft, so schicke Johanna. Oder laß es lieber ganz; es ist nicht nötig, ich finde mich schon zurecht.«
Sprung zu Absatz71 Den ersten Tag, als es so verabredet war, trafen sie sich auch wirklich. Effi saß auf einer an einem langen Holzschuppen sich hinziehenden Bank und sah nach einem niedrigen Fachwerkhaus hinüber, gelb mit schwarz gestrichenen Balken, einer Wirtschaft für kleine Bürger, die hier ihr Glas Bier tranken oder Solo spielten. Es dunkelte noch kaum, die Fenster aber waren schon hell, und ihr Lichtschimmer fiel auf die Schneemassen und etliche zur Seite stehende Bäume. »Sieh', Roswitha, wie schön das aussieht.«
Sprung zu Absatz72 Ein paar Tage wiederholte sich das. Meist aber, wenn Roswitha bei dem Karussell und dem Holzschuppen ankam, war niemand da, und wenn sie dann zurückkam und in den Hausflur eintrat, kam ihr Effi schon entgegen und sagte: »Wo Du nur bleibst, Roswitha, ich bin schon lange wieder hier.«
Sprung zu Absatz73 In dieser Art ging es durch Wochen hin. Das mit den Husaren hatte sich wegen der Schwierigkeiten, die die Bürgerschaft machte, so gut wie zerschlagen; aber da die Verhandlungen noch nicht geradezu abgeschlossen waren und neuerdings durch eine andere Behörde, das Generalkommando, gingen, so war Crampas nach Stettin berufen worden, wo man seine Meinung in dieser Angelegenheit hören wollte. Von dort schrieb er den zweiten Tag an Innstetten: »Pardon, Innstetten, daß ich mich auf französisch empfohlen. Es kam alles so schnell. Ich werde übrigens die Sache hinauszuspinnen suchen, denn man ist froh, einmal draußen zu sein. Empfehlen Sie mich der gnädigen Frau, meiner liebenswürdigen Gönnerin.«
Sprung zu Absatz74 Er las es Effi vor. Diese blieb ruhig. Endlich sagte sie: »Es ist recht gut so.«
Sprung zu Absatz75 »Wie meinst Du das?«
Sprung zu Absatz76 »Daß er fort ist. Er sagt eigentlich immer dasselbe. Wenn er wieder da ist, wird er wenigstens vorübergehend 'was Neues zu sagen haben.«
Sprung zu Absatz77 Innstetten's Blick flog scharf über sie hin. Aber er sah nichts, und sein Verdacht beruhigte sich wieder. »Ich will auch fort,« sagte er nach einer Weile, »sogar nach Berlin; vielleicht kann ich dann, wie Crampas, auch 'mal 'was Neues mitbringen. Meine liebe Effi will immer gern 'was Neues hören; sie langweilt sich in unserm guten Kessin. Ich werde gegen acht Tage fort sein, vielleicht noch einen Tag länger. Und ängstige Dich nicht ... es wird ja wohl nicht wiederkommen ... Du weißt schon, das da oben ... Und wenn doch, Du hast ja Rollo und Roswitha.«
Sprung zu Absatz78 Effi lächelte vor sich hin, und es mischte sich etwas von Wehmut mit ein. Sie mußte des Tages gedenken, wo Crampas ihr zum erstenmal gesagt hatte, daß er mit dem Spuk und ihrer Furcht eine Komödie spiele. Der große Erzieher! Aber hatte er nicht recht? War die Komödie nicht am Platz? Und allerhand Widerstreitendes, Gutes und Böses, ging ihr durch den Kopf.
Sprung zu Absatz79 Den dritten Tag reiste Innstetten ab.
Sprung zu Absatz80 Über das, was er in Berlin vorhabe, hatte er nichts gesagt.