Keine Viertelstunde, so war die Wohnung erreicht. Als beide hier
in den kühlen Flur traten, war Roswitha beim Anblick all
des Sonderbaren, das da umher hing, wie befangen; Effi aber ließ
sie nicht zu weiteren Betrachtungen kommen und sagte: »Roswitha,
nun gehen Sie da hinein. Das ist das Zimmer, wo wir schlafen.
Ich will erst zu meinem Manne nach dem Landratsamt hinüber
- das große Haus da neben dem kleinen, in dem Sie gewohnt
haben - und will ihm sagen, daß ich Sie zur Pflege haben
möchte bei dem Kinde. Er wird wohl mit allem einverstanden
sein, aber ich muß doch erst seine Zustimmung haben. Und
wenn ich die habe, dann müssen wir ihn ausquartieren, und
Sie schlafen mit mir in dem Alkoven. Ich denke, wir werden uns
schon vertragen.«
Roswitha lachte, was auf ihre junge Herrin einen besonders guten
Eindruck machte. Effi war fest protestantisch erzogen und würde
sehr erschrocken gewesen sein, wenn man an und in ihr 'was Katholisches
entdeckt hätte; trotzdem glaubte sie, daß der Katholizismus
uns gegen solche Dinge »wie da oben« besser schütze;
ja, diese Betrachtung hatte bei dem Plan, Roswitha ins Haus zu
nehmen, ganz erheblich mitgewirkt.
Man lebte sich schnell ein, denn Effi hatte ganz den liebenswürdigen
Zug der meisten märkischen Landfräulein, sich gern allerlei
kleine Geschichten erzählen zu lassen, und die verstorbene
Frau Registratorin und ihr Geiz und ihre Neffen und ihre Frauen
boten einen unerschöpflichen Stoff. Auch Johanna hörte
dabei gerne zu.
Diese, wenn Effi bei den drastischen Stellen oft laut lachte,
lächelte freilich und verwunderte sich im stillen, daß
die gnädige Frau an all dem dummen Zeug so viel Gefallen finde;
diese Verwunderung aber, die mit einem starken Überlegenheitsgefühle
Hand in Hand ging, war doch auch wieder ein Glück und sorgte
dafür, daß keine Rangstreitigkeiten aufkommen konnten.
Roswitha war einfach die komische Figur, und Neid gegen sie zu
hegen, wäre für Johanna nichts anderes gewesen, wie wenn
sie Rollo um seine Freundschaftsstellung beneidet hätte.
So verging eine Woche, plauderhaft und beinahe gemütlich,
weil Effi dem, was ihr persönlich bevorstand, ungeängstigter
als früher entgegen sah. Auch glaubte sie nicht, daß
es so nahe sei. Den neunten Tag aber war es mit dem Plaudern und
den Gemütlichkeiten vorbei; da gab es ein Laufen und Rennen,
Innstetten selbst kam ganz aus seiner gewohnten Reserve heraus,
und am Morgen des 3. Juli stand neben Effi's Bett eine Wiege. Doktor
Hannemann patschelte der jungen Frau die Hand und sagte: »Wir
haben heute den Tag von Königgrätz; schade, daß
es ein Mädchen ist. Aber das andere kann ja nachkommen, und
die Preußen haben viele Siegestage.« Roswitha mochte
wohl Ähnliches denken, freute sich indessen vorläufig
ganz uneingeschränkt über das, was da war, und nannte
das Kind ohne weiteres »Lütt-Annie«, was der jungen
Mutter als ein Zeichen galt. »Es müsse doch wohl eine Eingebung
gewesen sein, daß Roswitha gerade auf diesen Namen gekommen
sei.« Selbst Innstetten wußte nichts dagegen zu sagen, und
so wurde schon von Klein-Annie gesprochen, lange bevor der Tauftag da
war. Effi, die von Mitte August an bei den Eltern in Hohen-Cremmen
sein wollte, hätte die Taufe gern bis dahin verschoben. Aber
es ließ sich nichts thun; Innstetten konnte nicht Urlaub
nehmen, und so wurde denn der 15. August, trotzdem es der Napoleonstag
war (was denn auch von seiten einiger Familien beanstandet wurde),
für diesen Taufakt festgesetzt, natürlich in der Kirche.
Das sich anschließende Festmahl, weil das landrätliche
Haus keinen Saal hatte, fand in dem großen Ressourcen-Hotel
am Bollwerk statt, und der gesamte Nachbaradel war geladen und
auch erschienen. Pastor Lindequist ließ Mutter und Kind
in einem liebenswürdigen und allseitig bewunderten Toaste
leben, bei welcher Gelegenheit Sidonie v. Grasenabb zu ihrem
Nachbar, einem adligen Assessor von der strengen Richtung, bemerkte:
»Ja, seine Kasualreden, das geht. Aber seine Predigten kann
er vor Gott und Menschen nicht verantworten; er ist ein Halber,
einer von denen, die verworfen sind, weil sie lau sind. Ich mag
das Bibelwort hier nicht wörtlich zitieren.« Gleich
danach nahm auch der alte Herr v. Borcke das Wort, um Innstetten
leben zu lassen. »Meine Herrschaften, es sind schwere Zeiten,
in denen wir leben, Auflehnung, Trotz, Indisziplin, wohin wir blicken.
Aber solange wir noch Männer haben, und ich darf hinzusetzen,
Frauen und Mütter (und hier verbeugte er sich mit einer eleganten
Handbewegung gegen Effi) ... solange wir noch Männer haben
wie Baron Innstetten, den ich stolz bin meinen Freund nennen
zu dürfen, so lange geht es noch, so lange hält unser
altes Preußen noch. Ja, meine Freunde, Pommern und Brandenburg,
damit zwingen wir's und zertreten dem Drachen der Revolution das
giftige Haupt. Fest und treu, so siegen wir. Die Katholiken, unsere
Brüder, die wir, auch wenn wir sie bekämpfen, achten
müssen, haben den Felsen Petri, wir aber haben den Rocher
de Bronze. Baron Innstetten, er lebe hoch!« Innstetten dankte
ganz kurz. Effi sagte zu dem neben ihr sitzenden Major v. Crampas,
das mit dem 'Felsen Petri' sei wahrscheinlich eine Huldigung
gegen Roswitha gewesen; sie werde nachher an den alten Justizrat
Gadebusch herantreten und ihn fragen, ob er nicht ihrer Meinung
sei. Crampas nahm diese Bemerkung unerklärlicherweise für
Ernst und riet von einer Anfrage bei dem Justizrat ab, was Effi
ungemein erheiterte. »Ich habe Sie doch für einen besseren
Seelenleser gehalten.«
Als man von Tisch aufgestanden war, kam der Spätnachmittags-Dampfer
die Kessine herunter und legte an der Landungsbrücke, gegenüber
dem Hotel, an. Effi saß mit Crampas und Gieshübler
beim Kaffee, alle Fenster auf, und sah dem Schauspiel drüben
zu. »Morgen früh um neun führt mich dasselbe Schiff
den Fluß hinauf, und zu Mittag bin ich in Berlin, und am
Abend bin ich in Hohen-Cremmen, und Roswitha geht neben mir und
hält das Kind auf dem Arme. Hoffentlich schreit es nicht.
Ach, wie mir schon heute zu Mute ist! Lieber Gieshübler, sind
Sie auch 'mal so froh gewesen, Ihr elterliches Haus wiederzusehen?«
