Ja, es ist so. Wie die Natur sich zum Herbste neigt, wird es
Herbst in mir und um mich her. Meine Blätter werden
gelb und schon sind die Blätter der benachbarten Bäume
abgefallen. Hab ich dir nicht einmal von einem Bauerburschen
geschrieben, gleich da ich herkam? Jetzt erkundigte
ich mich wieder nach ihm in Wahlheim; es hieß, er sei
aus dem Dienste gejagt worden, und niemand wollte
was weiter von ihm wissen. Gestern traf ich ihn von
ungefähr auf dem Wege nach einem andern Dorfe, ich
redete ihn an und er erzählte mir seine Geschichte, die
mich doppelt und dreifach gerührt hat, wie du leicht
begreifen wirst, wenn ich dir sie wieder erzähle. Doch
wozu das alles? warum behalt ich nicht für mich, was
mich ängstigt und kränkt? warum betrüb ich noch
dich? warum geb ich dir immer Gelegenheit, mich zu
bedauern und mich zu schelten? Seis denn, auch das
mag zu meinem Schicksal gehören!
Mit einer stillen Traurigkeit, in der ich ein wenig
scheues Wesen zu bemerken schien, antwortete der
Mensch mir erst auf meine Fragen; aber gar bald offner,
als wenn er sich und mich auf einmal wieder erkennte,
gestand er mir seine Fehler, klagte er mir sein Unglück.
Könnt ich dir, mein Freund, jedes seiner Worte vor
Gericht stellen! Er bekannte, ja, er erzählte mit einer Art
von Genuß und Glück der Wiedererinnerung, daß die
Leidenschaft zu seiner Hausfrau sich in ihm tagtäglich
vermehrt, daß er zuletzt nicht gewußt habe, was er tue,
nicht, wie er sich ausdrückte, wo er mit dem Kopfe hingesollt?
Er habe weder essen noch trinken noch schlafen
können, es habe ihm an der Kehle gestockt, er habe getan,
was er nicht tun sollen, was ihm aufgetragen worden, hab
er vergessen, er sei als wie von einem bösen Geist verfolgt
gewesen, bis er eines Tags, als er sie in einer obern Kammer
gewußt, ihr nachgegangen, ja vielmehr ihr nachgezogen
worden sei; da sie seinen Bitten kein Gehör gegeben,
hab er sich ihrer mit Gewalt bemächtigen wollen, er wisse
nicht, wie ihm geschehen sei, und nehme Gott zum Zeugen, daß
seine Absichten gegen sie immer redlich gewesen, und daß
er nichts sehnlicher gewünscht, als daß sie
ihn heiraten, daß sie mit ihm ihr Leben zubringen möchte.
Da er eine Zeitlang geredet hatte, fing er an zu stocken wie
einer, der noch etwas zu sagen hat und sich es nicht herauszusagen
getraut; endlich gestand er mir auch mit
Schüchternheit, was sie ihm für kleine Vertraulichkeiten
erlaubt, und welche Nähe sie ihm vergönnet. Er brach
zwei-, dreimal ab und wiederholte die lebhaftesten Protestationen,
daß er das nicht sage, um sie schlecht zu
machen, wie er sich ausdrückte, daß er sie liebe und
schätze wie vorher, daß so etwas nicht über seinen Mund
gekommen sei, und daß er es mir nur sage, um mich zu
überzeugen, daß er kein ganz verkehrter und unsinniger
Mensch sei. - Und hier, mein Bester, fang ich mein altes
Lied wieder an, das ich ewig anstimmen werde: könnt ich
dir den Menschen vorstellen, wie er vor mir stand, wie er
noch vor mir steht! Könnt ich dir alles recht sagen, damit
du fühltest, wie ich an seinem Schicksale teilnehme,
teilnehmen muß! Doch genug, da du auch mein Schicksal
kennst, auch mich kennst, so weißt du nur zu wohl, was
mich zu allen Unglücklichen, was mich besonders zu
diesem Unglücklichen hinzieht.
Da ich das Blatt wieder durchlese, seh ich, daß ich das
Ende der Geschichte zu erzählen vergessen habe, das sich
aber leicht hinzudenken läßt. Sie erwehrte sich sein; ihr
Bruder kam dazu, der ihn schon lange gehaßt, der ihn
schon lange aus dem Hause gewünscht hatte, weil er
fürchtet, durch eine neue Heirat der Schwester werde
seinen Kindern die Erbschaft entgehn, die ihnen jetzt, da sie
kinderlos ist, schöne Hoffnungen gibt; dieser habe ihn
gleich zum Hause hinausgestoßen und einen solchen
Lärm von der Sache gemacht, daß die Frau, auch selbst
wenn sie gewollt, ihn nicht wieder hätte aufnehmen
können. Jetzt habe sie wieder einen andern Knecht
genommen, auch über den, sage man, sei sie mit dem Bruder
zerfallen, und man behaupte für gewiß,
sie werde ihn heiraten, aber er sei fest
entschlossen, das nicht zu erleben.
Was ich dir erzähle, ist nicht übertrieben,
nichts verzärtelt, ja ich darf wohl sagen, schwach, schwach hab ich's
erzählt und vergröbert hab ich's, indem ich's mit unsern
hergebrachten sittlichen Worten vorgetragen habe.
- Diese Liebe, diese Treue, diese Leidenschaft ist also
keine dichterische Erfindung. Sie lebt, sie ist in ihrer größten Reinheit
unter der Klasse von Menschen, die wir
ungebildet, die wir roh nennen. Wir Gebildeten - zu
Nichts Verbildeten! Lies die Geschichte mit Andacht, ich
bitte dich. Ich bin heute still, indem ich das hinschreibe;
du siehst an meiner Hand, daß ich nicht so strudele und
sudele wie sonst. Lies, mein Geliebter, und denke dabei,
daß es auch die Geschichte deines Freundes ist. Ja, so ist
mir's gegangen, so wird mir's gehn, und ich bin nicht halb
so brav, nicht halb so entschlossen als der arme Unglückliche,
mit dem ich mich zu vergleichen mich fast nicht
getraue.
