Gestaltungsmerkmale Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Zwanzigstes Kapitel
Sprung zum Absatz 60 des Romantextes
Sie litt schwer darunter und wollte sich befreien. Aber wiewohl sie starker Empfindungen fähig war, so war sie doch keine starke Natur; ihr fehlte die Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen gingen wieder vorüber. So trieb sie denn weiter, heute, weil sie's nicht ändern konnte, morgen, weil sie's nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine Macht über sie.
Was mit diesen wenigen Sätzen angedeutet ist, heißt nichts anderes, als dass Effi sich nach der Schlittenfahrt mit Crampas verabredet hat und sich nun regelmäßig heimlich mit ihm trifft - in einem Haus in den Dünen, wie sehr viel später (Kap.27, Abs.15) erschließbar wird. Das Versteckte dieser Andeutungen ließ bei Erscheinen des Romans viele rätseln, ob überhaupt etwas und wieviel in dem Verhältnis mit Crampas geschehen sei. Joseph Victor Widmann in seiner Rezension im Berner BUND vom 17. November 1895 schreibt:
Dagegen kommt die Mitteilung, daß Effie wirklich den Verführungskünsten des Majors unterlegen ist, dem Leser doch etwas unerwartet; die Schlittenfahrt genügt nicht ganz, ihren Fall glaubhaft zu machen. Es sind so viele gesunde Züge in dieser von allen Lesern und Leserinnen geliebten Effie, daß wir bei der ersten Andeutung des Dichters, der Schritt vom Wege sei gethan worden, ganz bestürzt sind. Ich kann mir freilich vorstellen, daß es dem auf seinem schönen, freien Astronomenturm des Alters wohnenden Dichter nicht mehr ums Herz war, den Blick, der nach strahlenden Sternen ewiger Güte und Weisheit ausschaut, lange in die Niederung der Leidenschaften zu senken, in jene Gegend, wo Malarianebel den Sumpf andeuten. Doch scheint mir, Effies Fall komme zu plötzlich, stehe zu unerwartet als vollendete Thatsache da.
In einer Rezension in "Westermanns Illustrierten Deutschen Monatsheften" (40. Jahrgang, Bd. 80, September 1896) wird sogar angenommen, dass Effi nur "durch eine Flirtation, die vor der Ehe gar nicht gefährlich sein würde, ein Duell veranlaßt" habe, wird also der wahre Sachverhalt überhaupt nicht erkannt. Friedrich Spielhagen wiederum in seinem Aufsatz "Die Wahlverwandtschaften und Effi Biest" breitet die Andeutungen detailliert vor sich aus, um sich der Richtigkeit seiner Vermutung zu versichern:
Vielleicht, daß mancher Leser wünscht, der Dichter wäre in der Darstellung der Liebesaffaire ausführlicher, weniger diskret gewesen; und sich beklagt, er wisse jetzt nicht, wie weit sich denn eigentlich die Unglückliche verschuldet. ... Und wer sich aus ihrem nachträglichen Seelenzustand, ihrer Angst vor Entdeckung, ihrem Ekel bei Erinnerung des Geschehen die Höhe ihrer Schuld noch immer nicht herausrechnen kann, dem wird sie klar werden bei dem Benehmen des Gatten nach der Entdeckung. Um einer bloßen Flirtation willen - besonders, wenn sie sechs Jahre zurückliegt und die Betreffende seitdem auch nicht den kleinsten Schritt vom Wege gewichen ist - fühlt auch ein so korrekter Mann, wie Innstetten, sich nicht so beleidigt, daß er den ehemaligen Rivalen fordern und totschießen muß.
Benutzte Literatur: Schafarschik, Walter
Sprung zum Absatz  des Romantextes Warum hat Fontane die für das Gesamtgeschehen so wichtigen Vorgänge um das Verhältnis mit Crampas nicht deutlicher dargestellt? In einem Brief an Ernst Heilborn vom 24. November 1895 schreibt er:
Sie sind, wie ich zu meiner Freude sehe, auch einverstanden damit, daß ich, in den intrikaten Situationen, der Phantasie des Lesers viel überlasse; dies anders zu machen wäre mir ganz unmöglich, und ich würde totale Dunkelheiten immer noch einer Gasglühlichtbeleuchtung von Dingen vorziehen, die, selbst wenn ihre Darstellung geglückt ist (ein sehr selten vorkommender Fall), immer noch mißglückt wirken.
Eine wirkliche Erklärung ist dies jedoch nicht. Es hätte ja keiner Szenen in 'Glühlichtbeleuchtung' bedurft, um Effis heimliche Treffen mit Crampas unmissverständlich einzubeziehen. Vielmehr sollte wohl einfach der Blick auf diese 'Schritte vom Wege' nicht fallen, weil unweigerlich Effis Unschulds-Bild darunter gelitten hätte. Wäre man Zeuge, wie sie sich heimlich mit Crampas trifft, wie sie Innstetten, der sie ja liebt, immer wieder täuschen und belügen muss, müsste man auch ihre dann notwendigen Ausreden und Selbstrechtfertigungen zur Kenntnis nehmen - sie ginge auf keinen Fall unbeschadet aus dieser Geschichte hervor. Dass man sich im Nachhinein all dies ausrechnen kann, wirkt sich auf ihr Wesensbild längst nicht so negativ aus, wie es eine direkte Wiedergabe getan hätte.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zum Absatz 61 des Romantextes
... und im selben Augenblicke war es ihr, als sähe ihr wer über die Schulter. Aber sie besann sich rasch. "Ich weiß schon, was es ist; es war nicht  d e r ," und sie wies mit dem Finger nach dem Spukzimmer oben. "Es war 'was anderes ... mein Gewissen ... Effi, Du bist verloren."
Wenn Effi wegen ihrer Liebschaft mit Crampas statt von dem Chinesen nun von ihrem Gewissen heimgesucht wird, so zeigt das die enge Verbindung zwischen dem Spuk und ihren geheimen Bedürfnissen an. Der Chinese ist für sie Inbegriff eines erotischen Abenteuers, sicherlich mehr befürchtet als gewünscht, aber doch als Verlockung in ihrer langweiligen Ehe immer gegenwärtig. Jetzt, wo sie dieses Abenteuer erlebt, hat der Spuk seine Bedrohlichkeit für sie verloren. Sie ahnt oder sie weiß schon, dass sie sich damit ins Unrecht setzt und die Folgen sie eines Tages einholen werden - so wie auch dem Chinesen sein Verhältnis zu der verschwundenen Braut vermutlich zum Verhängnis geworden ist.