Innstetten und Annie saßen sich eine Weile stumm gegenüber;
endlich als ihm die Stille peinlich wurde, that er ein paar Fragen
über die Schulvorsteherin und welche Lehrerin sie eigentlich
am liebsten habe. Annie antwortete auch, aber ohne rechte Lust,
weil sie fühlte, daß Innstetten wenig bei der Sache
war. Es wurde erst besser, als Johanna, nach dem zweiten Gericht,
ihrem Anniechen zuflüsterte, es gäbe noch 'was. Und wirklich,
die gute Roswitha, die dem Liebling an diesem Unglückstag
'was schuldig zu sein glaubte, hatte noch ein übriges gethan
und sich zu einer Omelette mit Apfelschnitten aufgeschwungen.
Annie wurde bei diesem Anblicke denn auch etwas redseliger, und
ebenso zeigte sich Innstetten's Stimmung gebessert, als es gleich
danach klingelte und Geheimrat Rummschüttel eintrat. Ganz
zufällig. Er sprach nur vor, ohne jede Ahnung, daß
man nach ihm geschickt und um seinen Besuch gebeten habe. Mit
den aufgelegten Kompressen war er zufrieden. »Lassen Sie
noch etwas Bleiwasser holen und Annie morgen zu Hause bleiben.
Überhaupt Ruhe.« Dann frug er noch nach der gnädigen
Frau und wie die Nachrichten aus Ems seien; er werde den andern
Tag wieder kommen und nachsehen.
Als man von Tisch aufgestanden und in das nebenan gelegene Zimmer
- dasselbe, wo man mit so viel Eifer und doch vergebens nach dem
Verbandstück gesucht hatte -, eingetreten war, wurde Annie
wieder auf das Sofa gebettet. Johanna kam und setzte sich zu dem
Kinde, während Innstetten die zahllosen Dinge, die bunt durcheinander gewürfelt
noch auf dem Fensterbrett umher lagen, wieder in den Nähtisch einzuräumen
begann. Dann und wann wußte er sich nicht recht Rat und
mußte fragen.
Und während so Frage und Antwort ging, betrachtete Innstetten
etwas aufmerksamer als vorher das kleine, mit einem roten Faden
zusammengebundene Paket, das mehr aus einer Anzahl zusammengelegter
Zettel, als aus Briefen zu bestehen schien. Er fuhr, als wäre
es ein Spiel Karten, mit dem Daumen und Zeigefinger an der Seite
des Päckchens hin und einige Zeilen, eigentlich nur vereinzelte
Worte, flogen dabei an seinem Auge vorüber. Von deutlichem
Erkennen konnte keine Rede sein, aber es kam ihm doch so vor,
als habe er die Schriftzüge schon irgendwo gesehen. Ob er
nachsehen solle?
Als er das sagte, wand er den roten Faden ab und ließ, während
Johanna das Zimmer verließ, den ganzen Inhalt des Päckchens
rasch durch die Finger gleiten. Nur zwei, drei Briefe waren adressiert:
»An Frau Landrat von Innstetten.« Er erkannte jetzt
auch die Handschrift; es war die des Majors. Innstetten wußte
nichts von einer Korrespondenz zwischen Crampas und Effi, und
in seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Er steckte das Paket
zu sich und ging in sein Zimmer zurück. Etliche Minuten später,
und Johanna, zum Zeichen, daß der Kaffee da sei, klopfte
leis an die Thür. Innstetten antwortete auch, aber dabei
blieb es; sonst alles still. Erst nach einer Viertelstunde hört
man wieder sein Auf- und Abschreiten auf dem Teppich.
»Was nur Papa hat?« sagte Johanna zu Annie. »Der
Doktor hat ihm doch gesagt, es sei nichts.«
Es vergingen Stunden. Die Sonne war schon unter, und nur ein roter
Widerschein lag noch über den Dächern drüben, als
Innstetten wieder zurück kam. Er gab Annie die Hand, fragte
wie's ihr gehe, und ordnete dann an, daß ihm Johanna die
Lampe in sein Zimmer bringe. Die Lampe kam auch. In dem grünen
Schirm befanden sich halb durchsichtige Ovale mit Photographieen,
allerlei Bildnisse seiner Frau, die noch in Kessin, damals als
man den Wichert'schen »Schritt vom Wege« aufgeführt
hatte, für die verschiedenen Mitspielenden angefertigt waren.
Innstetten drehte den Schirm langsam von links nach rechts und
musterte jedes einzelne Bildnis. Dann ließ er davon ab,
öffnete, weil er es schwül fand, die Balkonthür
und nahm schließlich das Briefpaket wieder zur Hand.
Es schien, daß er, gleich beim ersten Durchsehen, ein paar
davon ausgewählt und obenauf gelegt hatte. Diese las er jetzt
noch einmal mit halblauter Stimme.
»Sei heute nachmittag wieder in den Dünen, hinter der
Mühle. Bei der alten Adermann können wir uns ruhig sprechen,
das Haus ist abgelegen genug. Du mußt Dich nicht um alles
so bangen. Wir haben auch ein Recht. Und wenn Du Dir das
eindringlich sagst, wird, denke ich, alle Furcht von Dir abfallen.
Das Leben wäre nicht des Lebens wert, wenn das alles gelten
sollte, was zufällig gilt. Alles beste liegt jenseits davon.
Lerne Dich daran freuen.«
»...Fort, so schreibst Du, Flucht. Unmöglich. Ich kann
meine Frau nicht im Stich lassen, zu allem andern auch noch in
Not. Es geht nicht, und wir müssen es leicht nehmen, sonst
sind wir arm und verloren. Leichtsinn ist das beste, was wir haben.
Alles ist Schicksal. Es hat so sein sollen. Und möchtest
Du, daß es anders wäre, daß wir uns nie gesehen
hätten?«
»Sie wissen, Innstetten, Sie haben über mich zu verfügen.
Aber eh' ich die Sache kenne, verzeihen Sie mir die naive Vorfrage:
muß es sein? Wir sind doch über die Jahre weg, Sie,
um die Pistole in die Hand zu nehmen, und ich, um dabei
mitzumachen. Indessen mißverstehen Sie mich nicht, alles
dies soll kein 'nein' sein. Wie könnte ich Ihnen etwas abschlagen.
Aber nun sagen Sie, was ist es?«
»Innstetten, Ihre Lage ist furchtbar, und Ihr Lebensglück
ist hin. Aber wenn Sie den Liebhaber totschießen, ist Ihr
Lebensglück so zu sagen doppelt hin, und zu dem Schmerz über
empfangenes Leid kommt noch der Schmerz über gethanes Leid.
Alles dreht sich um die Frage, müssen Sie's durchaus thun?
Fühlen Sie sich so verletzt, beleidigt, empört, daß
einer weg muß, er oder Sie? Steht es so?«
»Es steht so, daß ich unendlich unglücklich bin;
ich bin gekränkt, schändlich hintergangen, aber trotzdem,
ich bin ohne jedes Gefühl von Haß oder gar von Durst
nach Rache. Und wenn ich mich frage, warum nicht? so kann ich
zunächst nichts anderes finden, als die Jahre. Man spricht
immer von unsühnbarer Schuld; vor Gott ist es gewiß
falsch, aber vor den Menschen auch. Ich hätte nie geglaubt,
daß die Zeit, rein als Zeit, so wirken könne.
Und dann als zweites: ich liebe meine Frau, ja, seltsam zu sagen,
ich liebe sie noch, und so furchtbar ich alles finde, was geschehen,
ich bin so sehr im Bann ihrer Liebenswürdigkeit, eines ihr
eignen heiteren Charmes, daß ich mich, mir selbst zum
Trotz, in meinem letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt fühle.«
Wüllersdorf nickte. »Kann ganz folgen, Innstetten, würde
mir vielleicht ebenso gehen. Aber wenn Sie so zu der Sache stehen
und mir sagen: 'Ich liebe diese Frau so sehr, daß ich ihr
alles verzeihen kann', und wenn wir dann das andere hinzunehmen,
daß alles weit, weit zurückliegt, wie ein Geschehnis
auf einem andern Stern, ja, wenn es so liegt, Innstetten, so frage
ich, wozu die ganze Geschichte?«
»Weil es trotzdem sein muß. Ich habe mir's hin und
her überlegt. Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch,
man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig
Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von
ihm. Ging' es, in Einsamkeit zu leben, so könnt' ich es gehen
lassen; ich trüge dann die mir aufgepackte Last, das rechte
Glück wäre hin, aber es müssen so viele leben ohne
dies 'rechte Glück', und ich würde es auch müssen
und - auch können. Man braucht nicht glücklich zu sein,
am allerwenigsten hat man einen Anspruch darauf, und den, der
einem das Glück genommen hat, den braucht man nicht notwendig
aus der Welt zu schaffen. Man kann ihn, wenn man weltabgewandt
weiter existieren will, auch laufen lassen. Aber im Zusammenleben
mit den Menschen hat sich ein Etwas gebildet, das nun 'mal da ist
und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben, alles
zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen,
geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt thun wir
es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die
Kugel durch den Kopf. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen solche
Vorlesung halte, die schließlich doch nur sagt, was sich
jeder selber hundertmal gesagt hat. Aber freilich, wer kann 'was
neues sagen! Also noch einmal, nichts von Haß oder dergleichen,
und um eines Glückes willen, das mir genommen wurde, mag
ich nicht Blut an den Händen haben; aber jenes, wenn Sie
wollen, uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht
nach Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung.
Ich habe keine Wahl. Ich muß.«
Innstetten lächelte. »Sie sollen selbst entscheiden,
Wüllersdorf. Es ist jetzt zehn Uhr. Vor sechs Stunden, diese
Konzession will ich Ihnen vorweg machen, hatt' ich das Spiel noch
in der Hand, konnt' ich noch das eine und noch das andere, da
war noch ein Ausweg. Jetzt nicht mehr, jetzt stecke ich in einer
Sackgasse. Wenn Sie wollen, so bin ich selber schuld daran; ich
hätte mich besser beherrschen und bewachen, alles in mir
verbergen, alles im eignen Herzen auskämpfen sollen. Aber
es kam mir zu plötzlich, zu stark, und so kann ich mir kaum
einen Vorwurf machen, meine Nerven nicht geschickter in Ordnung
gehalten zu haben. Ich ging zu Ihnen und schrieb Ihnen einen Zettel,
und damit war das Spiel aus meiner Hand. Von dem Augenblicke an
hatte mein Unglück und, was schwerer wiegt, der Fleck auf
meiner Ehre einen halben Mitwisser, und nach den ersten Worten,
die wir hier gewechselt, hat es einen ganzen. Und weil dieser
Mitwisser da ist, kann ich nicht mehr zurück.«
»Ja, Wüllersdorf, so heißt es immer. Aber es giebt
keine Verschwiegenheit. Und wenn Sie's wahr machen und gegen andere
die Verschwiegenheit selber sind, so wissen Siees, und
es rettet mich nicht vor Ihnen, daß Sie mir eben Ihre Zustimmung
ausgedrückt und mir sogar gesagt haben: ich kann Ihnen in
allem folgen. Ich bin, und dabei bleibt es, von diesem Augenblicke
an ein Gegenstand Ihrer Teilnahme (schon nicht etwas sehr Angenehmes),
und jedes Wort, das Sie mich mit meiner Frau wechseln hören,
unterliegt Ihrer Kontrolle, Sie mögen wollen oder nicht,
und wenn meine Frau von Treue spricht oder, wie Frauen thun, über
eine andere zu Gericht sitzt, so weiß ich nicht, wo ich
mit meinen Blicken hin soll. Und ereignet sich's gar, daß
ich in irgend einer ganz alltäglichen Beleidigungssache zum
guten rede, 'weil ja der dolus fehle' oder so 'was Ähnliches,
so geht ein Lächeln über Ihr Gesicht, oder es zuckt
wenigstens darin, und in Ihrer Seele klingt es: 'der gute Innstetten,
er hat doch eine wahre Passion, alle Beleidigungen auf ihren Beleidigungsgehalt
chemisch zu untersuchen, und das richtige Quantum Stickstoff findet
er nie. Er ist noch nie an einer Sache erstickt.' ... Habe
ich recht, Wüllersdorf, oder nicht?«
Wüllersdorf war aufgestanden. »Ich finde es furchtbar,
daß Sie recht haben, aber Sie haben recht. Ich quäle
Sie nicht länger mit meinem 'muß es sein?'. Die Welt
ist einmal, wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht wie wir
wollen, sondern wie die andern wollen. Das mit dem
'Gottesgericht', wie manche hochtrabend versichern, ist freilich
ein Unsinn, nichts davon, umgekehrt, unser Ehrenkultus ist ein
Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, so lange
der Götze gilt.«
