Dass Priester und Levit an seiner Grabstelle vorbeigehen
und nur der Samariter eine Träne um ihn weinen würde, nimmt
noch einmal das schon am 12. August 1771 berührte Gleichnis
vom Barmherzigen Samariter (Neues Testament, Evangelium des
Lukas 10, Vers 30-35) auf. Werther sieht sich damit als ein Opfer,
dessen eben nur ein Samariter in Nächstenliebe gedenken würde, während
Priester und Levit selbstgerecht vorbeigingen. - Auch das Motiv vom
'Kelch', den er fassen will, weil er ihm von Lotte gereicht wird,
ist noch einmal eine Anlehnung an die Bibel. Jesus willigt in seine
Festnahme ein mit den Worten: Soll ich den Kelch nicht fassen, den mir
mein Vater gegeben hat? (Neues Testament, Evangelium des Johannes,
Kap. 18, Vers 11).
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Dass Werther die 1772 erstmals erschienene "Emilia Galotti" auf seinem
Pult aufgeschlagen liegen hat, ist mehr als nur eine Entlehnung aus
der Geschichte Karl Wilhelm Jerusalems, in dessen Sterbezimmer
ebenfalls Lessings Trauerspiel auf dem Lesepult vorgefunden wurde. Es
ist als ein Hinweis auch auf die Motive von Werthers Selbstmord zu
verstehen. Emilia, von dem Prinzen von Guastalla bedrängt, will
Selbstmord begehen, weil sie befürchtet, den Verführungsabsichten des
Prinzen nicht standhalten zu können. "Auch meine Sinne sind Sinne",
sagt sie zu ihrem Vater, "ich stehe für nichts. Ich bin für nichts
gut." (Emilia Galotti, 5. Aufzug, 7. Auftritt). So bittet sie den
Vater um seinen Dolch und fordert ihn, als er zögert, mit der
Ausmalung ihres Schicksals so heraus, dass er sie ersticht. Auf Werther
angewendet, bedeutet das, dass auch er sich seiner 'Sinne' nicht sicher
ist, fürchten muss, sich Lotte gegenüber schließlich doch nicht
beherrschen zu können, und ehe er sich in dieser Weise ihr und Albert
gegenüber ehrlos macht, will er wie Emilia lieber sterben.