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Am 15. September.
Außer über das Fällen der Bäume (siehe unter KULTURELLES) erregt sich Werther auch über die Gesinnung der Pfarrersfrau. Sie hat sich "in die Untersuchung des Kanons meliert (=eingemischt)", d.h. sie hat sich der dazumal neuen, rationalistisch-kritischen Bibellektüre verschrieben. Damit verstößt sie gegen die emphatische Glaubensbereitschaft Werthers und überhaupt des Sturm und Drang, die hier mit "Lavaters Schwärmereien" zitiert wird. Johann Caspar Lavater (1741-1801) hatte in seinen "Aussichten in die Ewigkeit" (1768-1773) ein Bild des himmlischen Paradieses entworfen, wie es seiner Auffassung nach der Bibel zu entnehmen war. Die rationalistische Bibelkritik hingegen verstand die Bibel nicht mehr unmittelbar als 'Gottes Wort', sondern las sie als Geschichts- und Geschichtenbuch des Judentums und wies ihr zunehmend sachlich-logische Widersprüche nach. Neben den genannten Theologen Benjamin Kennicot (1718-1783) und Johann Salomo Semler (1725-1791) sowie dem Orientalisten Johann David Michaelis (1717-1791) hätten - nach 1774 - auch die von Lessing veröffentlichten Reimarus-Fragmente genannt werden können, die die radikalsten Angriffe jener Zeit auf die Glaubwürdigkeit der Bibel enthielten. Bei aller Häme Werthers gegen die Pfarrersfrau und ihre unsympathische Dürftigkeit sollte man also nicht übersehen, dass sie im Unterschied zu ihm die zukünftigere Form des Bibel-Verständnisses vertritt. -
ende