Außer über das Fällen der Bäume (
siehe unter
KULTURELLES) erregt sich Werther
auch über die Gesinnung der Pfarrersfrau. Sie hat sich "in die Untersuchung
des Kanons meliert (=eingemischt)", d.h. sie hat sich der dazumal neuen,
rationalistisch-kritischen Bibellektüre verschrieben. Damit verstößt sie
gegen die emphatische Glaubensbereitschaft Werthers und überhaupt des
Sturm und Drang, die hier mit "Lavaters Schwärmereien" zitiert wird.
Johann Caspar Lavater (1741-1801) hatte in seinen "Aussichten in die
Ewigkeit" (1768-1773) ein Bild des himmlischen Paradieses entworfen,
wie es seiner Auffassung nach der Bibel zu entnehmen war. Die
rationalistische Bibelkritik hingegen verstand die Bibel nicht mehr
unmittelbar als 'Gottes Wort', sondern las sie als Geschichts- und
Geschichtenbuch des Judentums und wies ihr zunehmend sachlich-logische
Widersprüche nach. Neben den genannten Theologen Benjamin Kennicot
(1718-1783) und Johann Salomo Semler (1725-1791) sowie dem Orientalisten
Johann David Michaelis (1717-1791) hätten - nach 1774 - auch die von
Lessing veröffentlichten Reimarus-Fragmente genannt werden können,
die die radikalsten Angriffe jener Zeit auf die Glaubwürdigkeit der
Bibel enthielten. Bei aller Häme Werthers gegen die Pfarrersfrau und
ihre unsympathische Dürftigkeit sollte man also nicht übersehen, dass
sie im Unterschied zu ihm die zukünftigere Form des Bibel-Verständnisses
vertritt. -