Hinweise und Anspielungen auf literarische Werke gibt es im 'Werther' in
zweifacher Form: solche, die offen von Werther selbst stammen, und solche,
die Goethe gleichsam hinter seinem Rücken gebraucht. Klar gegeneinander
abgrenzen lassen sie sich allerdings nicht, da auch die verdeckten
literarischen Reminiszenzen teilweise Werther zugerechnet werden könnten -
je nachdem, wieviel literarisches Bewusstsein man ihm in der Abfassung
seiner Briefe zutraut. Dass Goethe an eine solche Ausdifferenzierung
gedacht hat, ist allerdings auszuschließen.
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Die Aussage Werthers, "Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen
Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken",
dürfte man als literarische Reminiszenz aber nur Goethe zurechnen.
Sie erinnert an Lessings Trauerspiel "Emilia Galotti", welches jedoch
erst im Frühjahr 1772 erschien, mithin Werther 1771 noch nicht bekannt
gewesen sein könnte. Dort sagt Conti im Gespräch mit Gonzaga in I/4,
"daß ich wirklich ein großer Maler bin, daß es aber meine Hand nur nicht
immer ist", und er gibt zu bedenken, ob nicht jemand wie Raffael selbst
dann "das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise
ohne Hände wäre geboren worden". - Die Idee, die hinter dieser -
eigentlich unsinnigen - Annahme steckt, ist kennzeichnend für den
Genie-Begriff des Sturm und Drang, kommt vollends aber erst in in der
Romantik zum Durchbruch: das Gefühl für das Schöne, das Kunstwerk in
der Phantasie zählen mehr als alles Ausdrücken- und Abbilden-Können.
Ob für Werther damit eine Neigung zur Selbstüberschätzung angedeutet werden soll,
ist schwer zu entscheiden.