An demselben Tage, als Werther den zuletzt eingeschalteten Brief an
seinen Freund geschrieben, es war der
Sonntag vor Weihnachten, kam er abends zu Lotten und
fand sie allein. Sie beschäftigte sich, einige Spielwerke in
Ordnung zu bringen, die sie ihren kleinen Geschwistern
zum Christgeschenke zurecht gemacht hatte. Er redete
von dem Vergnügen, das die Kleinen haben würden, und
von den Zeiten, da einen die unerwartete Öffnung der Tür
und die Erscheinung eines aufgeputzten Baumes mit
Wachslichtern, Zuckerwerk und Äpfeln in paradiesische
Entzückung setzte. - Sie sollen, sagte Lotte, indem sie
ihre Verlegenheit unter ein liebes Lächeln verbarg, Sie
sollen auch beschert kriegen, wenn Sie recht geschickt
sind; ein Wachsstöckchen und noch was. - Und was heißen Sie geschickt
sein? rief er aus; wie soll ich sein? wie
kann ich sein? beste Lotte! - Donnerstag abend, sagte sie,
ist Weihnachtsabend, da kommen die Kinder, mein Vater
auch, da kriegt jedes das Seinige, da kommen Sie auch -
aber nicht eher. - Werther stutzte. - Ich bitte Sie, fuhr sie
fort, es ist nun einmal so, ich bitte Sie um meiner Ruhe
willen, es kann nicht, es kann nicht so bleiben. - Er wendete seine
Augen von ihr, und ging in der Stube auf und
ab, und murmelte das: Es kann nicht so bleiben! zwischen
den Zähnen. Lotte, die den schrecklichen Zustand fühlte,
worein ihn diese Worte versetzt hatten, suchte durch
allerlei Fragen seine Gedanken abzulenken, aber vergebens. - Nein,
Lotte, rief er aus: ich werde Sie nicht wieder
sehen! - Warum das? versetzte sie, Werther, Sie können,
Sie müssen uns wieder sehen, nur mäßigen Sie sich. O,
warum mußten Sie mit dieser Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden
Leidenschaft für alles, was Sie einmal
anfassen, geboren werden! Ich bitte Sie, fuhr sie fort,
indem sie ihn bei der Hand nahm, mäßigen Sie sich! Ihr
Geist, Ihre Wissenschaften, Ihre Talente, was bieten die
Ihnen für mannigfaltige Ergetzungen dar? Sei'n Sie ein
Mann! wenden Sie diese traurige Anhänglichkeit von
einem Geschöpf, das nichts tun kann, als Sie bedauern. -
Er knirrte mit den Zähnen und sah sie düster an. Sie hielt
seine Hand: Nur einen Augenblick ruhigen Sinn, Werther! sagte
sie. Fühlen Sie nicht, daß Sie sich betriegen,
sich mit Willen zugrunde richten! Warum denn mich, Werther?
just mich, das Eigentum eines andern? just das? Ich
fürchte, ich fürchte, es ist nur die Unmöglichkeit, mich zu
besitzen, die Ihnen diesen Wunsch so reizend macht. - Er
zog seine Hand aus der ihrigen, indem er sie mit einem
starren unwilligen Blick ansah. - Weise! rief er, sehr
weise! hat vielleicht Albert diese Anmerkung gemacht?
Politisch! sehr politisch! - Es kann sie jeder machen, versetzte sie
drauf. Und sollte denn in der weiten Welt kein
Mädchen sein, das die Wünsche Ihres Herzens erfüllte?
Gewinnen Sie's über sich, suchen Sie darnach, und ich
schwöre Ihnen, Sie werden sie finden; denn schon lange
ängstet mich, für Sie und uns, die Einschränkung, in die
Sie sich diese Zeit her selbst gebannt haben. Gewinnen Sie
es über sich! eine Reise wird Sie, muß Sie zerstreuen!
Suchen Sie, finden Sie einen werten Gegenstand Ihrer
Liebe, und kehren Sie zurück und lassen Sie uns zusammen
die Seligkeit einer wahren Freundschaft genießen.
Das könnte man, sagte er mit einem kalten Lachen,
drucken lassen und allen Hofmeistern empfehlen. Liebe
Lotte! lassen Sie mir noch ein klein wenig Ruh, es wird
alles werden! - Nur das, Werther, daß Sie nicht eher kommen
als Weihnachtsabend! - Er wollte antworten, und
Albert trat in die Stube. Man bot sich einen frostigen
Guten Abend und ging verlegen im Zimmer nebeneinander auf und
nieder. Werther fing einen unbedeutenden
Diskurs an, der bald aus war, Albert desgleichen, der
sodann seine Frau nach gewissen Aufträgen fragte, und als
er hörte, sie seien noch nicht ausgerichtet, ihr einige
Worte sagte, die Werthern kalt, ja gar hart vorkamen. Er
wollte gehen, er konnte nicht und zauderte bis acht, da
sich denn sein Unmut und Unwillen immer vermehrte, bis
der Tisch gedeckt wurde und er Hut und Stock nahm.
Albert lud ihn zu bleiben, er aber, der nur ein unbedeutendes
Kompliment zu hören glaubte, dankte kalt dagegen und ging weg.
Er kam nach Hause, nahm seinem Burschen, der ihm
leuchten wollte, das Licht aus der Hand und ging allein in
sein Zimmer, weinte laut, redete aufgebracht mit sich
selbst, ging heftig die Stube auf und ab, und warf sich
endlich in seinen Kleidern auf's Bette, wo ihn der Bediente
fand, der es gegen eilfe wagte hineinzugehn, um zu fragen,
ob er dem Herrn die Stiefeln ausziehen sollte? das er denn
zuließ und dem Bedienten verbot, den andern Morgen ins
Zimmer zu kommen, bis er ihm rufen würde.
»Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben, und das
schreibe ich dir ohne romantische Überspannung, gelassen, an dem
Morgen des Tages, an dem ich dich zum
letztenmale sehen werde. Wenn du dieses liesest, meine
Beste, deckt schon das kühle Grab die erstarrten Reste des
Unruhigen, Unglücklichen, der für die letzten Augenblicke seines
Lebens keine größere Süßigkeit weiß, als sich
mit dir zu unterhalten. Ich habe eine schreckliche Nacht
gehabt, und ach! eine wohltätige Nacht. Sie ist es, die
meinen Entschluß befestiget, bestimmt hat: ich will sterben! Wie ich
mich gestern von dir riß, in der fürchterlichen Empörung
meiner Sinne, wie sich alles das nach meinem Herzen
drängte, und mein hoffnungsloses freudeloses Dasein neben dir in
gräßlicher Kälte mich anpackte -
ich erreichte kaum mein Zimmer, ich warf mich außer mir
auf meine Knie, und o Gott! du gewährtest mir das letzte
Labsal der bittersten Tränen! Tausend Anschläge, tausend
Aussichten wüteten durch meine Seele, und zuletzt stand
er da, fest, ganz, der letzte einzige Gedanke: ich will sterben! -
Ich legte mich nieder, und morgens, in der Ruhe
des Erwachens, steht er noch fest, noch ganz stark in
meinem Herzen: ich will sterben! - Es ist nicht Verzweiflung, es ist
Gewißheit, daß ich ausgetragen habe, und daß
ich mich opfere für dich. Ja, Lotte! warum sollte ich es
verschweigen: eins von uns dreien muß hinweg und das
will ich sein! O meine Beste! in diesem zerrissenen Herzen
ist es wütend herumgeschlichen, oft - deinen Mann zu
ermorden! - dich! - mich! - So sei es denn! - Wenn du
hinaufsteigst auf den Berg, an einem schönen Sommer-
abende, dann erinnere dich meiner, wie ich so oft das Tal
heraufkam, und dann blicke nach dem Kirchhofe hinüber
nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im
Scheine der sinkenden Sonne hin und her wiegt. - Ich war
ruhig, da ich anfing, nun, nun weine ich wie ein Kind, da
alles das so lebhaft um mich wird. -«
Gegen zehn Uhr rief Werther seinem Bedienten und
unter dem Anziehen sagte er ihm: wie er in einigen Tagen
verreisen würde, er solle daher die Kleider auskehren und
alles zum Einpacken zurecht machen; auch gab er ihm
Befehl, überall Kontos zu fordern, einige ausgeliehene
Bücher abzuholen und einigen Armen, denen er
wöchentlich etwas zu geben gewohnt war, ihr Zugeteiltes auf zwei
Monate voraus zu bezahlen.
Die Kleinen ließen ihn nicht lange in Ruhe, sie verfolgten ihn,
sprangen an ihm hinauf, erzählten ihm: daß,
wenn morgen, und wieder morgen, und noch ein Tag
wäre, sie die Christgeschenke bei Lotten holten, und
erzählten ihm Wunder, die sich ihre kleine Einbildungskraft
versprach. - Morgen! rief er aus, und wieder morgen! und noch ein
Tag! - und küßte sie alle herzlich und
wollte sie verlassen, als ihm der Kleine noch etwas in das
Ohr sagen wollte. Der verriet ihm, die großen Brüder
hätten schöne Neujahrswünsche geschrieben, so groß!
und einen für den Papa, für Albert und Lotten einen und
auch einen für Herrn Werther; die wollten sie am Neujahrstage
früh überreichen. Das übermannte ihn, er
schenkte jedem etwas, setzte sich zu Pferde, ließ den
Alten grüßen und ritt mit Tränen in den Augen davon.
»Du erwartest mich nicht! du glaubst, ich würde gehorchen und erst
Weihnachtsabend dich wieder sehn. O
Lotte! heut oder nie mehr. Weihnachtsabend hältst du
dieses Papier in deiner Hand, zitterst und benetzest es mit
deinen lieben Tränen. Ich will, ich muß! O wie wohl ist es
mir, daß ich entschlossen bin.«
Sie saß nun allein, keins von ihren Geschwistern war
um sie, sie überließ sich ihren Gedanken, die stille über
ihren Verhältnissen herumschweiften. Sie sah sich nun mit
dem Mann auf ewig verbunden, dessen Liebe und Treue
sie kannte, dem sie von Herzen zugetan war, dessen
Ruhe, dessen Zuverlässigkeit recht vom Himmel dazu
bestimmt zu sein schien, daß eine wackere Frau das Glück
ihres Lebens darauf gründen sollte; sie fühlte, was er ihr
und ihren Kindern auf immer sein würde. Auf der andern
Seite war ihr Werther so teuer geworden, gleich von dem
ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an hatte sich die
Übereinstimmung ihrer Gemüter so schön gezeigt, der
lange dauernde Umgang mit ihm, so manche durchlebten
Situationen hatten einen unauslöschlichen Eindruck auf
ihr Herz gemacht. Alles, was sie Interessantes fühlte und
dachte, war sie gewohnt, mit ihm zu teilen, und seine
Entfernung drohete in ihr ganzes Wesen eine Lücke zu
reißen, die nicht wieder ausgefüllt werden konnte. O,
hätte sie ihn in dem Augenblick zum Bruder umwandeln
können! wie glücklich wäre sie gewesen! - hätte sie ihn
einer ihrer Freundinnen verheiraten dürfen, hätte sie
hoffen können, auch sein Verhältnis gegen Albert ganz wieder
herzustellen!
Über allen diesen Betrachtungen fühlte sie erst tief,
ohne sich es deutlich zu machen, daß ihr herzliches
heimliches Verlangen sei, ihn für sich zu behalten, und
sagte sich daneben, daß sie ihn nicht behalten könne,
behalten dürfe; ihr reines, schönes, sonst so leichtes und
leicht sich helfendes Gemüt empfand den Druck einer
Schwermut, dem die Aussicht zum Glück verschlossen
ist. Ihr Herz war gepreßt und eine trübe Wolke lag über
ihrem Auge.
So war es halb sieben geworden, als sie Werthern die
Treppe heraufkommen hörte und seinen Tritt, seine
Stimme, die nach ihr fragte, bald erkannte. Wie schlug ihr
Herz, und wir dürfen fast sagen zum erstenmal, bei seiner
Ankunft. Sie hätte sich gern vor ihm verleugnen lassen,
und als er hereintrat, rief sie ihm mit einer Art von
leidenschaftlicher Verwirrung entgegen: Sie haben nicht Wort
gehalten. - Ich habe nichts versprochen, war seine Antwort. - So
hätten Sie wenigstens meiner Bitte stattgeben
sollen, versetzte sie, ich bat Sie um unser beider Ruhe.
Sie wußte nicht recht, was sie sagte, ebenso wenig was
sie tat, als sie nach einigen Freundinnen schickte, um nicht
mit Werthern allein zu sein. Er legte einige Bücher hin, die
er gebracht hatte, fragte nach andern, und sie wünschte,
bald daß ihre Freundinnen kommen, bald daß sie wegbleiben
möchten. Das Mädchen kam zurück und brachte die
Nachricht, daß sich beide entschuldigen ließen.
Sie wollte das Mädchen mit ihrer Arbeit in das Nebenzimmer sitzen
lassen; dann besann sie sich wieder anders. Werther ging in der Stube
auf und ab, sie trat ans Klavier und fing eine Menuett an, sie wollte
nicht fließen. Sie nahm sich zusammen und setzte sich gelassen
zu Werthern, der seinen gewöhnlichen Platz auf dem Kanapee
eingenommen hatte.
Haben Sie nichts zu lesen? sagte sie. - Er hatte nichts. -
Da drin in meiner Schublade, fing sie an, liegt Ihre Übersetzung
einiger Gesänge Ossians; ich habe sie noch nicht
gelesen, denn ich hoffte immer, sie von Ihnen zu hören;
aber zeither hat sich's nicht finden, nicht machen wollen.
- Er lächelte, holte die Lieder, ein Schauer überfiel ihn, als
er sie in die Hände nahm, und die Augen standen ihm voll
Tränen, als er hineinsah. Er setzte sich nieder und las.
