Erstfassung (1774) Zur Übersicht Zur Einzelebene Drucken der Ebene
{ABSCHIED}
Sprung zum Absatz 1 der Endfassung Er legte sich zu Bette und schlief lange. Der Bediente fand ihn schreiben, als er ihm den andern Morgen auf sein Rufen den Caffee brachte. Er schrieb folgendes am Briefe an Lotten:
Sprung zum Absatz 2 der Endfassung Zum leztenmale denn, zum leztenmale schlag ich diese Augen auf, sie sollen ach die Sonne nicht mehr sehen, ein trüber neblichter Tag hält sie bedeckt. So traure denn, Natur, dein Sohn, dein Freund, dein Geliebter naht sich seinem Ende. Lotte, das ist ein Gefühl ohne gleichen, und doch kommt's dem dämmernden Traume am nächsten, zu sich zu sagen: das ist der lezte Morgen. Der lezte! Lotte, ich habe keinen Sinn vor das Wort, der lezte! Steh ich nicht da in meiner ganzen Kraft, und Morgen lieg ich ausgestreckt und schlaff am Boden. Sterben! Was heist das? Sieh wir träumen, wenn wir vom Tode reden. Ich hab manchen sterben sehen, aber so eingeschränkt ist die Menschheit, daß sie für ihres Daseyns Anfang und Ende keinen Sinn hat. Jezt noch mein, dein! dein! o Geliebte, und einen Augenblick - getrennt, geschieden - vielleicht auf ewig. - Nein, Lotte, nein - Wie kann ich vergehen, wie kannst du vergehen, wir sind ja! - Vergehen! - Was heißt das? das ist wieder ein Wort! ein leerer Schall ohne Gefühl für mein Herz. - - Todt, Lotte! Eingescharrt der kalten Erde, so eng, so finster! - Ich hatte eine Freundin, die mein Alles war meiner hülflosen Jugend,sie starb und ich folgte ihrer Leiche, und stand an dem Grabe. Wie sie den Sarg hinunter ließen und die Seile schnurrend unter ihm weg und wieder herauf schnellten, dann die erste Schaufel hinunter schollerte und die ängstliche Lade einen dumpfen Ton wiedergab, und dumpfer und immer dumpfer und endlich bedeckt war! - Ich stürzte neben das Grab hin - Ergriffen erschüttert geängstet zerrissen mein innerstes, aber ich wuste nicht wie mir geschah, - wie mir geschehen wird - Sterben! Grab! Ich verstehe die Worte nicht!
Sprung zum Absatz 3 der Endfassung 0 vergieb mir! vergieb mir! Gestern! Es hätte der lezte Augenblik meines Lebens seyn sollen. 0 du Engel! zum erstenmale, zum erstenmale ganz ohne Zweifel durch mein innig innerstes durchglühte mich das Wonnegefühl: Sie liebt mich! Sie liebt mich. Es brennt noch auf meinen Lippen das heilige Feuer das von den deinigen ströhmte, neue warme Wonne ist in meinem Herzen. Vergieb mir, vergieb mir.
Sprung zum Absatz 4 der Endfassung Ach ich wuste, daß du mich liebtest, wuste es an den ersten seelenvollen Blikken, an dem ersten Händedruk, und doch wenn ich wieder weg war, wenn ich Alberten an deiner Seite sah, verzagt' ich wieder in fieberhaften Zweifeln.
Sprung zum Absatz 5 der Endfassung Erinnerst du dich der Blumen die du mir schiktest, als du in jener fatalen Gesellschaft mir kein Wort sagen, keine Hand reichen konntest, o ich habe die halbe Nacht davor gekniet, und sie versiegelten mir deine Liebe. Aber ach! diese Eindrükke gingen vorüber, wie das Gefühl der Gnade seines Gottes allmählig wieder aus der Seele des Gläubigen weicht, die ihm mit ganzer Himmelsfülle im heiligen Sichtbaren Zeichen gereicht ward.
Sprung zum Absatz 6 der Endfassung Alles das ist vergänglich, keine Ewigkeit soll das glühende Leben auslöschen, das ich gestern auf deinen Lippen genoß, das ich in mir fühle. Sie liebt mich! Dieser Arm hat sie umfast, diese Lippen auf ihren Lippen gezittert, dieser Mund am ihrigen gestammelt. Sie ist mein! du bist mein! ja Lotte auf ewig!
Sprung zum Absatz 7 der Endfassung Und was ist das? daß Albert dein Mann ist! Mann? - das wäre denn für diese Welt - und für diese Welt Sünde, daß ich dich liebe, daß ich dich aus seinen Armen in die meinigen reissen möchte? Sünde? Gut! und ich strafe mich davor: Ich hab sie in ihrer ganzen Himmelswonne geschmekt diese Sünde, habe Lebensbalsam und Kraft in mein Herz gesaugt, du bist von dem Augenblikke mein! Mein, o Lotte. Ich gehe voran! Geh zu meinem Vater, zu deinem Vater, dem will ich's klagen und er wird mich trösten biß du kommst, und ich fliege dir entgegen und fasse dich und bleibe bey dir vor dem Angesichte des Unendlichen in ewigen Umarmungen.
Sprung zum Absatz 8 der Endfassung Ich träume nicht, ich wähne nicht! nah am Grabe ward mir's heller. Wir werden seyn, wir werden uns wieder sehn!, Deine Mutter sehn! ich werde sie sehen, werde sie finden, ach und vor ihr all mein Herz ausschütten. Deine Mutter. Dein Ebenbild.
Sprung zum Absatz 9 der Endfassung Gegen eilfe fragte Werther seinen Bedienten, ob wohl Albert zurük gekommen sey. Der Bediente sagte: ja er habe dessen Pferd dahin führen sehn. Drauf giebt ihm der Herr ein offenes Zettelgen des Inhalts:
Sprung zum Absatz 10 der Endfassung Wollten Sie mir wohl zu einer vorhabenden Reise ihre Pistolen leihen? Leben Sie recht wohl.
Sprung zum Absatz 11 der Endfassung Die liebe Frau hatte die lezte Nacht wenig geschlafen, ihr Blut war in einer fieberhaften Empörung, und tausenderley Empfindungen zerrütteten ihr Herz. Wider ihren Willen fühlte sie tief in ihrer Brust das Feuer von Werthers Umarmungen, und zugleich stellten sich ihr die Tage ihrer unbefangenen Unschuld, des sorglosen Zutrauens auf sich selbst in doppelter Schöne dar, es ängstigten sie schon zum voraus die Blikke ihres Manns, und seine halb verdrüßlich halb spöttische Fragen, wenn er Werthers Besuch erfahren würde; sie hatte sich nie verstellt, sie hatte nie gelogen, und nun sah sie sich zum erstenmal in der unvermeidlichen Nothwendigkeit; der Widerwillen, die Verlegenheit die sie dabey empfand, machte die Schuld in ihren Augen grösser, und doch konnte sie den Urheber davon weder hassen, noch sich versprechen, ihn nie wieder zu sehn. Sie weinte bis gegen Morgen, da sie in einen matten Schlaf versank, aus dem sie sich kaum aufgeraft und angekleidet hatte, als ihr Mann zurükkam, dessen Gegenwart ihr zum erstenmal ganz unerträglich war; denn indem sie zitterte, er würde das verweinte überwachte ihrer Augen und ihrer Gestalt entdekken, ward sie noch verwirrter, bewillkommte ihn mit einer heftigen Umarmung, die mehr Bestürzung und Reue, als eine auffahrende Freude ausdrükte, und eben dadurch machte sie die Aufmerksamkeit Albertens rege, der, nachdem er einige Briefe und Pakets erbrochen, sie ganz trokken fragte, ob sonst nichts vorgefallen, ob niemand da gewesen wäre? Sie antwortete ihm stokkend, Werther seye gestern eine Stunde gekommen. - Er nimmt seine Zeit gut, versezt er, und ging nach seinem Zimmer. Lotte war eine Viertelstunde allein geblieben. Die Gegenwart des Mannes, den sie liebte und ehrte, hatte einen neuen Eindruk in ihr Herz gemacht. Sie erinnerte sich all seiner Güte, seines Edelmuths seiner Liebe, und schalt sich, daß sie es ihm so übel gelohnt habe. Ein unbekannter Zug reizte sie ihm zu folgen, sie nahm ihre Arbeit, wie sie mehr gethan hatte, ging nach seinem Zimmer und fragte, ob er was bedürfte? er antwortete: nein! stellte sich an Pult zu schreiben, und sie sezte sich nieder zu strikken. Eine Stunde waren sie auf diese Weise neben einander, und als Albert etlichemal in der Stube auf und ab ging, und Lotte ihn anredete, er aber wenig oder nichts drauf gab und sich wieder an Pult stellte, so verfiel sie in eine Wehmuth, die ihr um desto ängstlicher ward, als sie solche zu verbergen und ihre Thränen zu verschlukken suchte.
Sprung zum Absatz 17 der Endfassung Die Erscheinung von Werthers Knaben versezte sie in die gröste Verlegenheit, er überreichte Alberten das Zettelgen, der sich ganz kalt nach seiner Frau wendete, und sagte: gieb ihm die Pistolen. - Ich laß ihm glükliche Reise wünschen, sagt er zum jungen. Das fiel auf sie wie ein Donnerschlag. Sie schwankte aufzustehn. Sie wußte nicht wie ihr geschah. Langsam ging sie nach der Wand, zitternd nahm sie sie herunter, puzte den Staub ab und zauderte, und hätte noch lang gezögert, wenn nicht Albert durch einen fragenden Blik: was denn das geben sollte? sie gedrängt hätte. Sie gab das unglükliche Gewehr dem Knaben, ohne ein Wort vorbringen zu können, und als der zum Hause draus war, machte sie ihre Arbeit zusammen, ging in ihr Zimmer in dem Zustand des unaussprechlichsten Leidens. Ihr Herz weissagte ihr alle Schröknisse. Bald war sie im Begriff sich zu den Füssen ihres Mannes zu werfen, ihm alles zu entdekken, die Geschichte des gestrigen Abends, ihre Schuld und ihre Ahndungen. Dann sah sie wieder keinen Ausgang des Unternehmens, am wenigsten konnte sie hoffen ihren Mann zu einem Gange nach Werthern zu bereden. Der Tisch ward gedekt, und eine gute Freundinn, die nur etwas zu fragen kam und die Lotte nicht wegließ, machte die Unterhaltung bey Tische erträglich, man zwang sich, man redete, man erzählte, man vergaß sich.
Sprung zum Absatz 18 der Endfassung Der Knabe kam mit den Pistolen zu Werthern, der sie ihm mit Entzükken abnahm, als er hörte, Lotte habe sie ihm gegeben. Er ließ sich ein Brod und Wein bringen, hies den Knaben zu Tisch gehn, und sezte sich nieder zu schreiben.
Sprung zum Absatz 19 der Endfassung Sie sind durch deine Hände gegangen, du hast den Staub davon gepuzt, ich küsse sie tausendmal, du hast sie berührt. Und du Geist des Himmels begünstigst meinen Entschluß! Und du Lotte reichst mir das Werkzeug, du, von deren Händen ich den Tod zu empfangen wünschte, und ach nun empfange. O ich habe meinen jungen ausgefragt, du zittertest, als du sie ihm reichtest, du sagtest kein Lebe wohl; - Weh! Weh! - kein Lebe wohl! - Solltest du dein Herz für mich verschlossen haben, um des Augenbliks willen der mich auf ewig an dich befestigte. Lotte, kein jahrtausend vermag den Eindruk auszulöschen! Und ich fühl's, du kannst den nicht hassen, der so für dich glüht.
Sprung zum Absatz 20 der Endfassung Nach Tische hieß er den Knaben alles vollends einpakken, zerriß viele Papiere, ging aus, und brachte noch kleine Schulden in Ordnung. Er kam wieder nach Hause, ging wieder aus, vor's Thor ohngeachtet des Regens, in den gräflichen Garten, schweifte weiter in der Gegend umher, und kam mit einbrechender Nacht zurük und schrieb.
Sprung zum Absatz 21 der Endfassung Wilhelm, ich habe zum leztenmale Feld und Wald und den Himmel gesehn. Leb wohl auch du! Liebe Mutter, verzeiht mir! Tröste sie, Wilhelm. Gott segne euch! Meine Sachen sind all in Ordnung. Lebt wohl! Wir sehen uns wieder und freudiger.
Sprung zum Absatz 22 der Endfassung Ich habe dir übel gelohnt, Albert, und du vergiebst mir. Ich habe den Frieden deines Hauses gestört, ich habe Mißtrauen zwischen euch gebracht. Leb wohl, ich will's enden. O daß ihr glüklich wäret durch meinen Tod! Albert! Albert! mache den Engel glüklich. Und so wohne Gottes Seegen über dir!
ende