
Die liebe Frau hatte die lezte Nacht wenig geschlafen, ihr Blut war in
einer fieberhaften Empörung, und tausenderley Empfindungen zerrütteten
ihr Herz. Wider ihren Willen fühlte sie tief in ihrer Brust das Feuer
von Werthers Umarmungen, und zugleich stellten sich ihr die Tage ihrer
unbefangenen Unschuld, des sorglosen Zutrauens auf sich selbst in
doppelter Schöne dar, es ängstigten sie schon zum voraus die Blikke
ihres Manns, und seine halb verdrüßlich halb spöttische Fragen, wenn
er Werthers Besuch erfahren würde; sie hatte sich nie verstellt, sie
hatte nie gelogen, und nun sah sie sich zum erstenmal in der
unvermeidlichen Nothwendigkeit; der Widerwillen, die Verlegenheit die
sie dabey empfand, machte die Schuld in ihren Augen grösser, und doch
konnte sie den Urheber davon weder hassen, noch sich versprechen, ihn
nie wieder zu sehn. Sie weinte bis gegen Morgen, da sie in einen
matten Schlaf versank, aus dem sie sich kaum aufgeraft und angekleidet
hatte, als ihr Mann zurükkam, dessen Gegenwart ihr zum erstenmal ganz
unerträglich war; denn indem sie zitterte, er würde das verweinte
überwachte ihrer Augen und ihrer Gestalt entdekken, ward sie noch
verwirrter, bewillkommte ihn mit einer heftigen Umarmung, die mehr
Bestürzung und Reue, als eine auffahrende Freude ausdrükte, und eben
dadurch machte sie die Aufmerksamkeit Albertens rege, der, nachdem er
einige Briefe und Pakets erbrochen, sie ganz trokken fragte, ob sonst
nichts vorgefallen, ob niemand da gewesen wäre? Sie antwortete ihm
stokkend, Werther seye gestern eine Stunde gekommen. - Er nimmt seine
Zeit gut, versezt er, und ging nach seinem Zimmer. Lotte war eine
Viertelstunde allein geblieben. Die Gegenwart des Mannes, den sie
liebte und ehrte, hatte einen neuen Eindruk in ihr Herz gemacht. Sie
erinnerte sich all seiner Güte, seines Edelmuths seiner Liebe, und
schalt sich, daß sie es ihm so übel gelohnt habe. Ein unbekannter Zug
reizte sie ihm zu folgen, sie nahm ihre Arbeit, wie sie mehr gethan
hatte, ging nach seinem Zimmer und fragte, ob er was bedürfte? er
antwortete: nein! stellte sich an Pult zu schreiben, und sie sezte
sich nieder zu strikken. Eine Stunde waren sie auf diese Weise neben
einander, und als Albert etlichemal in der Stube auf und ab ging, und
Lotte ihn anredete, er aber wenig oder nichts drauf gab und sich
wieder an Pult stellte, so verfiel sie in eine Wehmuth, die ihr um
desto ängstlicher ward, als sie solche zu verbergen und ihre Thränen
zu verschlukken suchte.