Das war eine Nacht! Wilhelm, nun übersteh ich alles. Ich werde sie
nicht wiedersehn. O daß ich nicht an Deinen Hals fliegen, Dir mit
tausend Thränen und Entzükkungen ausdrükken kann, mein Bester, all die
Empfindungen, die mein Herz bestürmen. Hier sizz ich und schnappe nach
Luft, suche mich zu beruhigen, und erwarte den Morgen, und mit Sonnen
Aufgang sind die Pferde bestellt.
Albert hatte mir versprochen, gleich nach dem Nachtessen mit Lotten im
Garten zu seyn. Ich stand auf der Terasse unter den hohen
Castanienbäumen, und sah der Sonne nach, die mir nun zum letztenmal
über dem lieblichen Thale, über dem sanften Flusse untergieng. So oft
hatte ich hier gestanden mit ihr, und eben dem herrlichen Schauspiele
zugesehen und nun - Ich gieng in der Allee auf und ab, die mir so lieb
war, ein geheimer sympathetischer Zug hatte mich hier so oft gehalten,
eh ich noch Lotten kannte, und wie freuten wir uns, als im Anfange
unserer Bekanntschaft wir die wechselseitige Neigung zu dem Pläzgen
entdekten, das wahrhaftig eins der romantischten ist, die ich von der
Kunst habe hervorgebracht gesehen.
Erst hast du zwischen den Castanienbäumen die weite Aussicht - Ach ich
erinnere mich, ich habe dir, denk ich, schon viel geschrieben davon,
wie hohe Buchenwände einen endlich einschliessen und durch ein daran
stoßendes Bosquet die Allee immer düstrer wird, bis zuletzt alles sich
in ein geschlossenes Pläzgen endigt, das alle Schauer der Einsamkeit
umschweben. Ich fühl es noch wie heimlich mir's ward, als ich zum
erstenmal an einem hohen Mittage hinein trat, ich ahndete ganz leise,
was das noch für ein Schauplaz werden sollte von Seligkeit und
Schmerz.
Ich hatte mich etwa eine halbe Stunde in denen schmachtenden süssen
Gedanken des Abscheidens, des Wiedersehns geweidet; als ich sie die
Terasse herauf steigen hörte, ich lief ihnen entgegen, mit einem
Schauer faßt ich ihre Hand und küßte sie. Wir waren eben herauf
getreten, als der Mond hinter dem büschigen Hügel aufgieng, wir
redeten mancherley und kamen unvermerkt dem düstern Cabinette
näher. Lotte tratt hinein und sezte sich, Albert neben sie, ich auch,
doch, meine Unruhe lies mich nicht lange sizzen, ich stand auf, trat
vor sie, gieng auf und ab, sezte mich wieder, es war ein ängstlicher
Zustand. Sie machte uns aufmerksam auf die schöne Würkung des
Mondenlichts, das am Ende der Buchenwände die ganze Terasse vor uns
erleuchtete, ein herrlicher Anblik, der um so viel frappanter war,
weil uns rings eine tiefe Dämmerung einschloß. Wir waren still, und
sie fieng nach einer Weile an: Niemals geh ich im Mondenlichte
spazieren, niemals daß mir nicht der Gedanke an meine Verstorbenen
begegnete, daß nicht das Gefühl von Tod, von Zukunft über mich
käme. Wir werden seyn, fuhr sie mit der Stimme des herrlichsten
Gefühls fort, aber Werther, sollen wir uns wieder finden? und wieder
erkennen? Was ahnden sie, was sagen sie?
Und ob die lieben Abgeschiednen von uns wissen, fuhr sie fort, ob sie
fühlen, wann's uns wohl geht, daß; wir mit warmer Liebe uns ihrer
erinnern? O die Gestalt meiner Mutter schwebt immer um mich, wenn ich
so am stillen Abend, unter ihren Kindern, unter meinen Kindern sizze,
und sie um mich versammlet sind, wie sie um sie versammlet waren. Wenn
ich so mit einer sehnenden Thräne gen Himmel sehe, und wünsche: daß
sie herein schauen könnte einen Augenblik, wie ich mein Wort halte,
das ich ihr in der Stunde des Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu
seyn. Hundertmal ruf ich aus: Verzeih mir's, Theuerste, wenn ich ihnen
nicht bin, was du ihnen warst. Ach! thu ich doch alles was ich kann,
sind sie doch gekleidet, genährt, ach und was mehr ist als das alles,
gepflegt und geliebet. Könntest du unsere Eintracht sehn, liebe
Heilige! du würdest mit dem heissesten Danke den Gott verherrlichen,
den du mit den lezten bittersten Thränen um die Wohlfahrt deiner
Kinder batst. Sie sagte das! O Wilhelm! wer kann wiederholen was sie
sagte, wie kann der kalte todte Buchstabe diese himmlische Blüthe
des Geistes darstellen. Albert fiel ihr sanft in die Rede: es greift
sie zu stark an, liebe Lotte, ich weis, ihre Seele hängt sehr nach
diesen Ideen, aber ich bitte sie - O Albert, sagte sie, ich weis, du
vergißt nicht die Abende, da wir zusammen saßen an dem kleinen runden
Tischgen, wenn der Papa verreist war, und wir die Kleinen schlafen
geschikt hatten. Du hattest oft ein gutes Buch, und kamst so selten
dazu etwas zu lesen. War der Umgang dieser herrlichen Seele nicht mehr
als alles! die schöne, sanfte, muntere und immer thätige Frau! Gott
kennt meine Thränen, mit denen ich mich oft in meinem Bette vor ihn
hinwarf: er möchte mich ihr gleich machen.
Lotte! rief ich aus, indem ich mich vor sie hinwarf, ihre Hände nahm
und mit tausend Thränen nezte. Lotte, der Segen Gottes ruht über dir,
und der Geist deiner Mutter! - Wenn sie sie gekannt hätten! sagte sie,
indem sie mir die Hand drükte, - sie war werth, von ihnen gekannt zu
seyn. - Ich glaubte zu vergehen, nie war ein grösseres, stolzeres Wort
über mich ausgesprochen worden, und sie fuhr fort: und diese Frau
mußte in der Blüthe ihrer Jahre dahin, da ihr jüngster Sohn nicht
sechs Monathe alt war. Ihre Krankheit dauerte nicht lange, sie war
ruhig, resignirt, nur ihre Kinder thaten ihr weh, besonders das
kleine. Wie es gegen das Ende gieng, und sie zu mir sagte: Bring mir
sie herauf, und wie ich sie herein ehrte, die kleinen die nicht
wußten, und die ältesten die ohne Sinne waren, wie sie um's Bett
standen, und wie sie die Hände aufhub und über sie betete, und sie
küßte nach einander und sie wegschikte, und zu mir sagte: Sey ihre
Mutter! Ich gab ihr die Hand drauf! Du versprichst viel, meine
Tochter, sagte sie, das Herz einer Mutter und das Aug einer Mutter!
Ich hab oft an deinen dankbaren Thränen gesehen, daß du fühlst was das
sey. Hab es für deine Geschwister, und für deinen Vater, die Treue,
den Gehorsam einer Frau. Du wirst ihn trösten. Sie fragte nach ihm, er
war ausgegangen, um uns den unerträglichen Kummer zu verbergen, den er
fühlte, der Mann war ganz zerrissen.
Albert, du warst im Zimmer! Sie hörte jemand gehn, und fragte, und
forderte dich zu ihr. Und wie sie dich ansah und mich, mit dem
getrösteten ruhigen Blikke, daß wir glüklich seyn, zusammen glüklich
seyn würden. Albert fiel ihr um den Hals und küßte sie, und rief: wir
sinds! wir werdens seyn. Der ruhige Albert war ganz aus seiner
Fassung, und ich wußte nichts von mir selber.
Sie stund auf, und ich ward erwekt und erschüttert, blieb sizzen und
hielt ihre Hand. Wir wollen fort, sagte sie, es wird Zeit. Sie wollte
ihre Hand zurük ziehen und ich hielt sie fester! Wir werden uns
wiedersehn, rief ich, wir werden uns finden, unter allen Gestalten
werden wir uns erkennen. Ich gehe, fuhr ich fort, ich gehe willig, und
doch, wenn ich sagen sollte auf ewig, ich würde es nicht
aushalten. Leb wohl, Lotte! Leb wohl, Albert! Wir sehen uns wieder. -
Morgen denk ich, versezte sie scherzend, ich fühlte das Morgen! Ach
sie wußte nicht als sie ihre Hand aus der meinigen zog - sie giengen
die Allee hinaus, ich stand, sah ihnen nach im Mondscheine und warf
mich an die Erde und weinte mich aus, und sprang auf, lief auf die
Terasse hervor und sah noch dort drunten im Schatten der hohen
Lindenbäume ihr weisses Kleid nach der Gartenthüre schimmern, ich
strekte meine Arme hinaus, und es verschwand.
