Den 17. Mai.
Ich habe allerlei Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft
habe ich noch keine gefunden. Ich weiß nicht, was ich
Anzügliches für die Menschen haben muß; es mögen mich
ihrer so viele und hängen sich an mich, und da tut mir's
weh, wenn unser Weg nur eine kleine Strecke miteinander
geht. Wenn du fragst, wie die Leute hier sind, muß ich dir
sagen: wie überall! Es ist ein einförmiges Ding um das
Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten
Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen
von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel
aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen!
Aber eine recht gute Art Volks! Wenn ich mich manchmal
vergesse, manchmal mit ihnen die Freuden genieße,
die den Menschen noch gewährt sind, an einem artig
besetzten Tisch mit aller Offen- und Treuherzigkeit sich
herumzuspaßen, eine Spazierfahrt, einen Tanz zur rechten Zeit
anzuordnen, und dergleichen, das tut eine ganz
gute Wirkung auf mich; nur muß mir nicht einfallen,
daß noch so viele andere Kräfte in mir ruhen, die alle
ungenutzt vermodern und die ich sorgfältig verbergen
muß. Ach, das engt das ganze Herz so ein. - Und doch!
mißverstanden zu werden, ist das Schicksal von unsereinem.
Ach, daß die Freundin meiner Jugend dahin ist! ach,
daß ich sie je gekannt habe! - Ich würde sagen, du bist ein
Tor! du suchst, was hienieden nicht zu finden ist, aber ich
habe sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große
Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als
ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte. Guter
Gott! blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt?
Konnt ich nicht vor ihr das ganze wunderbare Gefühl
entwickeln, mit dem mein Herz die Natur umfaßt? War
unser Umgang nicht ein ewiges Weben von der feinsten
Empfindung, dem schärfsten Witze, dessen Modifikationen,
bis zur Unart, alle mit dem Stempel des Genies
bezeichnet waren? Und nun! Ach ihre Jahre, die sie
voraus hatte, führten sie früher ans Grab als mich. Nie
werde ich sie vergessen, nie ihren festen Sinn und ihre
göttliche Duldung.
Vor wenig Tagen traf ich einen jungen V. . an, einen
offnen Jungen, mit einer gar glücklichen Gesichtsbildung.
Er kommt erst von Akademien, dünkt sich eben nicht
weise, aber glaubt doch, er wisse mehr als andere. Auch
war er fleißig, wie ich an allerlei spüre, kurz, er hat
hübsche Kenntnisse. Da er hörte, daß ich viel zeichnete
und Griechisch könnte (zwei Meteore hier zu Lande),
wandte er sich an mich und kramte viel Wissens aus, von
Batteux bis zu Wood, von de Piles zu Winckelmann,
und versicherte mich, er habe Sulzers Theorie, den ersten
Teil, ganz durchgelesen und besitze ein Manuskript
von Heynen über das Studium der Antike. Ich ließ das gut
sein.
Noch gar einen braven Mann habe ich kennen lernen,
den fürstlichen Amtmann, einen offenen treuherzigen
Menschen. Man sagt, es soll eine Seelenfreude sein, ihn
unter seinen Kindern zu sehen, deren er neun hat; besonders
macht man viel Wesens von seiner ältesten Tochter.
Er hat mich zu sich gebeten, und ich will ihn ehster Tage
besuchen. Er wohnt auf einem fürstlichen Jagdhofe,
anderthalb Stunden von hier, wohin er, nach dem Tode
seiner Frau, zu ziehen die Erlaubnis erhielt, da ihm der
Aufenthalt hier in der Stadt und im Amthause zu weh tat.
Sonst sind mir einige verzerrte Originale in den Weg
gelaufen, an denen alles unausstehlich ist, am
unerträglichsten ihre Freundschaftsbezeigungen.
Leb wohl! der Brief wird dir recht sein, er ist ganz
historisch.
Am 26. Mai.
Du kennst von alters her meine Art, mich anzubauen, mir
irgend an einem vertraulichen Orte ein Hüttchen aufzuschlagen,
und da mit aller Einschränkung zu herbergen.
Auch hier hab ich wieder ein Plätzchen angetroffen, das
mich angezogen hat.
Ungefähr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den
sie Wahlheim* nennen. Die Lage an einem Hügel ist sehr
interessant, und wenn man oben auf dem Fußpfade zum
Dorf herausgeht, übersieht man auf einmal das ganze Tal.
Eine gute Wirtin, die gefällig und munter in ihrem Alter
ist, schenkt Wein, Bier, Kaffee; und was über alles geht,
sind zwei Linden, die mit ihren ausgebreiteten Ästen den
kleinen Platz vor der Kirche bedecken, der ringsum mit
Bauerhäusern, Scheuern und Höfen eingeschlossen ist. So
vertraulich, so heimlich hab ich nicht leicht ein Plätzchen
gefunden, und dahin lass ich mein Tischchen aus dem
Wirtshause bringen und meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da,
und lese meinen Homer. Das erstemal, als ich
durch einen Zufall an einem schönen Nachmittage unter
die Linden kam, fand ich das Plätzchen so einsam. Es war
alles im Felde, nur ein Knabe von ungefähr vier Jahren saß
an der Erde und hielt ein anderes, etwa halbjähriges, vor
ihm zwischen seinen Füßen sitzendes Kind mit beiden
Armen wider seine Brust, so daß er ihm zu einer Art von
Sessel diente, und ungeachtet der Munterkeit, womit er
aus seinen schwarzen Augen herumschaute, ganz ruhig
saß. Mich vergnügte der Anblick: ich setzte mich auf
einen Pflug, der gegenüber stand, und zeichnete die
brüderliche Stellung mit vielem Ergetzen. Ich fügte
den nächsten Zaun, ein Scheunentor und einige gebrochene
Wagenräder bei, alles wie es hintereinander stand, und
fand nach Verlauf einer Stunde, daß ich eine wohlgeordnete,
sehr interessante Zeichnung verfertigt hatte, ohne
das mindeste von dem Meinen hinzuzutun. Das bestärkte
mich in meinem Vorsatze, mich künftig allein an die
Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich und sie allein
bildet den großen Künstler. Man kann zum Vorteile der
Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der
bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich
nach ihnen bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes und
Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch
Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein
unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden
kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was
man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren
Ausdruck derselben zerstören! Sag du, das ist zu hart!
Sie schränkt nur ein, beschneidet die geilen Reben etc.
Guter Freund, soll ich dir ein Gleichnis geben? Es ist
damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz hängt ganz an
einem Mädchen, bringt alle Stunden seines Tages bei ihr
zu, verschwendet alle seine Kräfte, all sein Vermögen, um
ihr jeden Augenblick auszudrücken, daß er sich ganz ihr
hingibt. Und da käme ein Philister, ein Mann, der in
einem öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: Feiner
junger Herr! lieben ist menschlich, nur müßt Ihr
menschlich lieben! Teilet Eure Stunden ein, die einen zur Arbeit,
und die Erholungsstunden widmet Eurem Mädchen.
Berechnet Euer Vermögen, und was Euch von Eurer
Notdurft übrig bleibt, davon verwehr ich Euch nicht, ihr ein
Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen, etwa zu ihrem
Geburts- und Namenstage etc. - Folgt der Mensch, so
gibts einen brauchbaren jungen Menschen, und ich will
selbst jedem Fürsten raten, ihn in ein Kollegium zu setzen;
nur mit seiner Liebe ist's am Ende, und wenn er ein
Künstler ist, mit seiner Kunst. O meine Freunde! warum
der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in
hohen Fluten herein braust, und eure staunende Seele
erschüttert? - Liebe Freunde, da wohnen die gelassenen
Herren auf beiden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen,
Tulpenbeete und Krautfelder zugrunde gehen
würden, die daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten
der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen.
____________
* Der Leser wird sich keine Mühe geben, die hier genannten Orte
zu suchen, man hat sich genötigt gesehen, die im Originale
befindlichen wahren Namen zu verändern.
Am 30. Mai.
Was ich dir neulich von der Malerei sagte, gilt gewiß auch
von der Dichtkunst; es ist nur, daß man das Vortreffliche
erkenne und es auszusprechen wage, und das ist freilich
mit wenigem viel gesagt. Ich habe heut eine Szene gehabt,
die, rein abgeschrieben, die schönste Idylle von der Welt
gäbe; doch was soll Dichtung, Szene und Idylle? muß es
denn immer gebosselt sein, wenn wir teil an einer Naturerscheinung nehmen sollen?
Wenn du auf diesen Eingang viel Hohes und Vornehmes erwartest,
so bist du wieder übel betrogen; es ist
nichts als ein Bauerbursch, der mich zu dieser lebhaften
Teilnehmung hingerissen hat - ich werde, wie gewöhnlich,
schlecht erzählen, und du wirst mich, wie gewöhnlich,
denk ich, übertrieben finden; es ist wieder Wahlheim, und
immer Wahlheim, das diese Seltenheiten hervorbringt.
Es war eine Gesellschaft draußen unter den Linden,
Kaffee zu trinken. Weil sie mir nicht ganz anstand, so
blieb ich unter einem Vorwande zurück.
Ein Bauerbursch kam aus einem benachbarten Hause
und beschäftigte sich, an dem Pfluge, den ich neulich
gezeichnet hatte, etwas zurecht zu machen. Da mir sein
Wesen gefiel, redete ich ihn an, fragte nach seinen
Umständen, wir waren bald bekannt, und wie mir's
gewöhnlich mit dieser Art Leuten geht, bald vertraut. Er
erzählte mir, daß er bei einer Witwe in Diensten sei und
von ihr gar wohl gehalten werde. Er sprach so vieles von
ihr und lobte sie dergestalt, daß ich bald merken konnte,
er sei ihr mit Leib und Seele zugetan. Sie sei nicht mehr
jung, sagte er, sie sei von ihrem ersten Mann übel gehalten
worden, wolle nicht mehr heiraten, und aus seiner Erzählung
leuchtete so merklich hervor, wie schön, wie reizend
sie für ihn sei, wie sehr er wünsche, daß sie ihn wählen
möchte, um das Andenken der Fehler ihres ersten Mannes
auszulöschen, daß ich Wort für Wort wiederholen müßte,
um dir die reine Neigung, die Liebe und Treue dieses
Menschen anschaulich zu machen. Ja, ich müßte die Gabe
des größten Dichters besitzen, um dir zugleich den
Ausdruck seiner Gebärden, die Harmonie seiner Stimme, das
heimliche Feuer seiner Blicke lebendig darstellen zu können.
Nein, es sprechen keine Worte die Zartheit aus, die in
seinem ganzen Wesen und Ausdruck war; es ist alles nur
plump, was ich wieder vorbringen könnte. Besonders
rührte mich, wie er fürchtete, ich möchte über
sein Verhältnis zu ihr ungleich denken und an ihrer guten
Aufführung zweifeln. Wie reizend es war, wenn er von ihrer
Gestalt, von ihrem Körper sprach, der ihn ohne jugendliche
Reize gewaltsam an sich zog und fesselte, kann ich mir
nur in meiner innersten Seele wiederholen. Ich hab in
meinem Leben die dringende Begierde und das heiße
sehnliche Verlangen nicht in dieser Reinheit gesehen, ja
wohl kann ich sagen, in dieser Reinheit nicht gedacht und
geträumt. Schelte mich nicht, wenn ich dir sage, daß bei
der Erinnerung dieser Unschuld und Wahrheit mir die
innerste Seele glüht, und daß mich das Bild dieser Treue
und Zärtlichkeit überall verfolgt, und daß ich, wie selbst
davon entzündet, lechze und schmachte.
Ich will nun suchen, auch sie ehstens zu sehn, oder
vielmehr, wenn ich's recht bedenke, ich will's vermeiden.
Es ist besser, ich sehe sie durch die Augen ihres Liebhabers;
vielleicht erscheint sie mir vor meinen eigenen
Augen nicht so, wie sie jetzt vor mir steht, und warum soll
ich mir das schöne Bild verderben?
Am 16. Junius.
Warum ich dir nicht schreibe? - Fragst du das und bist
doch auch der Gelehrten einer. Du solltest raten, daß ich
mich wohl befinde, und zwar - Kurz und gut, ich habe
eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht.
Ich habe - ich weiß nicht.
Dir in der Ordnung zu erzählen, wies zugegangen ist,
daß ich eins der liebenswürdigsten Geschöpfe habe
kennen lernen, wird schwer halten. Ich bin vergnügt und
glücklich, und also kein guter Historienschreiber.
Einen Engel! - Pfui! das sagt jeder von der Seinigen,
nicht wahr? Und doch bin ich nicht imstande, dir zu
sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen ist;
genug, sie hat allen meinen Sinn gefangen genommen.
So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel Güte bei so
viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem wahren
Leben und der Tätigkeit.
Das ist alles garstiges Gewäsch, was ich da von ihr sage,
leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres Selbst
ausdrücken. Ein andermal - nein, nicht ein andermal,
jetzt gleich will ich dirs erzählen. Tu ich's jetzt nicht, so
geschäh es niemals. Denn, unter uns, seit ich angefangen
habe zu schreiben, war ich schon dreimal im Begriffe, die
Feder niederzulegen, mein Pferd satteln zu lassen und
hinauszureiten. Und doch schwur ich mir heute früh,
nicht hinauszureiten, und gehe doch alle Augenblick ans
Fenster, zu sehen, wie hoch die Sonne noch steht. - - -
Ich hab's nicht überwinden können, ich mußte zu ihr
hinaus. Da bin ich wieder, Wilhelm, will mein Butterbrot
zu Nacht essen und dir schreiben. Welch eine Wonne das
für meine Seele ist, sie in dem Kreise der lieben muntern
Kinder, ihrer acht Geschwister zu sehen!
Wenn ich so fortfahre, wirst du am Ende so klug sein
wie am Anfange. Höre denn, ich will mich zwingen, ins
Detail zu gehen.
Ich schrieb dir neulich, wie ich den Amtmann S.. habe
kennen lernen, und wie er mich gebeten habe, ihn bald in
seiner Einsiedelei, oder vielmehr seinem kleinen König
reiche zu besuchen. Ich vernachlässigte das, und wäre
vielleicht nie hingekommen, hätte mir der Zufall nicht den
Schatz entdeckt, der in der stillen Gegend verborgen liegt.
Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande
angestellt, zu dem ich mich denn auch willig finden ließ.
Ich bot einem hiesigen guten, schönen, übrigens unbedeutenden
Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht, daß ich eine Kutsche
nehmen, mit meiner Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der
Lustbarkeit hinausfahren, und auf dem Wege Charlotten S.. mitnehmen
sollte. - Sie werden ein schönes Frauenzimmer kennen lernen, sagte
meine Gesellschafterin, da wir durch den weiten ausgehauenen Wald nach
dem Jagdhause fuhren. - Nehmen Sie sich in acht, versetzte die Base, daß
Sie sich nicht verlieben! - Wieso? sagte ich. - Sie ist schon vergeben,
antwortete jene, an einen sehr braven Mann, der weggereist ist,
seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist, und
sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben. - Die Nachricht war
mir ziemlich gleichgültig.
Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebirge,
als wir vor dem Hoftore anfuhren. Es war sehr schwül,
und die Frauenzimmer äußerten ihre Besorgnis wegen
eines Gewitters, das sich in weißgrauen dumpfichten
Wölkchen rings am Horizonte zusammenzuziehen schien. Ich täuschte
ihre Furcht mit anmaßlicher Wetterkunde, ob mir gleich selbst zu
ahnen anfing, unsere Lustbarkeit werde einen Stoß leiden.
Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam,
bat uns einen Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen
würde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach dem
wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen
hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das
reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen
habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf
zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt,
mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid,
mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein
schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum
jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab,
gabs jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes
rief so ungekünstelt sein: Danke! indem es mit den kleinen
Händchen lange in die Höhe gereicht hatte, ehe es noch
abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt,
entweder wegsprang, oder nach seinem stillern
Charakter gelassen davonging nach dem Hoftore zu, um
die Fremden und die Kutsche zu sehen, darin ihre Lotte
wegfahren sollte. - Ich bitte um Vergebung, sagte sie, daß
ich Sie herein bemühe und die Frauenzimmer warten
lasse. Über dem Anziehen und allerlei Bestellungen fürs
Haus in meiner Abwesenheit habe ich vergessen, meinen
Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von
niemanden Brot geschnitten haben als von mir. - Ich
machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze
Seele ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und
ich hatte eben Zeit, mich von der Überraschung zu erholen,
als sie in die Stube lief, ihre Handschuhe und den
Fächer zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger
Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf das jüngste
los, das ein Kind von der glücklichsten Gesichtsbildung
war. Es zog sich zurück, als eben Lotte zur Türe
herauskam und sagte: Louis, gib dem Herrn Vetter eine Hand.
Das tat der Knabe sehr freimütig, und ich konnte mich
nicht enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen Rotznäschens,
herzlich zu küssen. - Vetter? sagte ich, indem ich
ihr die Hand reichte, glauben Sie, daß ich des Glücks wert
sei, mit Ihnen verwandt zu sein? - O, sagte sie mit einem
leichtfertigen Lächeln: unsere Vetterschaft ist sehr
weitläufig, und es wäre mir leid, wenn Sie der schlimmste
drunter sein sollten. Im Gehen gab sie Sophien, der
ältesten Schwester nach ihr, einem Mädchen von ungefähr
eilf Jahren, den Auftrag, wohl auf die Kinder acht zu
haben, und den Papa zu grüßen, wenn er vom Spazierritte
nach Hause käme. Den Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer
Schwester Sophie folgen, als wenn sies selber wäre, das
denn auch einige ausdrücklich versprachen. Eine kleine
naseweise Blondine aber, von ungefähr sechs Jahren,
sagte: Du bist's doch nicht, Lottchen, wir haben dich
doch lieber. - Die zwei ältesten Knaben waren hinten auf
die Kutsche geklettert, und auf mein Vorbitten erlaubte
sie ihnen, bis vor den Wald mitzufahren, wenn sie versprächen,
sich nicht zu necken, und sich recht fest zu halten.
Wir hatten uns kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer
sich bewillkommt, wechselsweise über den Anzug,
vorzüglich über die Hüte ihre Anmerkungen gemacht,
und die Gesellschaft, die man erwartete, gehörig durchgezogen:
als Lotte den Kutscher halten und ihre Brüder
herabsteigen ließ, die noch einmal ihre Hand zu küssen
begehrten, das denn der älteste mit aller Zärtlichkeit, die
dem Alter von fünfzehn Jahren eigen sein kann, der
andere mit viel Heftigkeit und Leichtsinn tat. Sie ließ die
Kleinen noch einmal grüßen und wir fuhren weiter.
Die Base fragte, ob sie mit dem Buche fertig wäre, das
sie ihr neulich geschickt hätte? - Nein, sagte Lotte, es
gefällt mir nicht, Sie könnens wieder haben. Das vorige
war auch nicht besser. - Ich erstaunte, als ich fragte, was
es für Bücher wären? und sie mir antwortete:* - Ich fand
so viel Charakter in allem, was sie sagte, ich sah mit jedem
Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus ihren
Gesichtszügen hervorbrechen, die sich nach und nach
vergnügt zu entfalten schienen, weil sie an mir fühlte, daß
ich sie verstand.
____________
* Man sieht sich genötigt, diese Stelle des Briefes zu unterdrücken,
um niemand Gelegenheit zu einiger Beschwerde zu geben. Obgleich
im Grunde jedem Autor wenig an dem Urteile eines
einzelnen Mädchens, und eines jungen Menschen gelegen sein
kann.
------
Wie ich jünger war, sagte sie, liebte ich nichts so sehr als
Romane. Weiß Gott wie wohl mir's war, wenn ich mich
sonntags so in ein Eckchen setzen, und mit ganzem Herzen an
dem Glück und Unstern einer Miß Jenny teilnehmen konnte.
Ich leugne auch nicht, daß die Art noch
einige Reize für mich hat. Doch da ich so selten an ein
Buch komme, so muß es auch recht nach meinem
Geschmack sein. Und der Autor ist mir der liebste, in dem
ich meine Welt wieder finde, bei dem es zugeht wie um
mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und
herzlich wird, als mein eigen häuslich Leben, das freilich
kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist.
Ich bemühte mich, meine Bewegungen über diese
Worte zu verbergen. Das ging freilich nicht weit: denn da
ich sie mit solcher Wahrheit im Vorbeigehen vom Landpriester
von Wakefield, vom * reden hörte, kam ich ganz
außer mich, sagte ihr alles, was ich mußte, und bemerkte
erst nach einiger Zeit, da Lotte das Gespräch an die anderen
wendete, daß diese die Zeit über mit offenen Augen,
als säßen sie nicht da, dagesessen hatten. Die Base sah
mich mehr als einmal mit einem spöttischen Näschen an,
daran mir aber nichts gelegen war.
____________
* Man hat auch hier die Namen einiger vaterländischer Autoren
ausgelassen. Wer Teil an Lottens Beifalle hat, wird es gewiß an
seinem Herzen fühlen, wenn er diese Stelle lesen sollte, und sonst
braucht es ja niemand zu wissen.
------
Das Gespräch fiel auf's Vergnügen am Tanze. - Wenn
diese Leidenschaft ein Fehler ist, sagte Lotte, so gestehe
ich Ihnen gern, ich weiß mir nichts übers Tanzen. Und
wenn ich was im Kopfe habe, und mir auf meinem verstimmten
Klavier einen Contretanz vortrommle, so ist
alles wieder gut.
Wie ich mich unter dem Gespräche in den schwarzen
Augen weidete! wie die lebendigen Lippen und die frischen
muntern Wangen meine ganze Seele anzogen! wie
ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft
gar die Worte nicht hörte, mit denen sie sich ausdrückte!
davon hast du eine Vorstellung, weil du mich kennst.
Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als
wir vor dem Lusthause stille hielten, und war so in Träumen
rings in der dämmernden Welt verloren, daß ich auf
die Musik kaum achtete, die uns von dem erleuchteten
Saal herunter entgegen schallte.
Die zwei Herren Audran und ein gewisser N. N. - wer
behält alle die Namen! - die der Base und Lottens Tänzer
waren, empfingen uns am Schlage, bemächtigten sich
ihrer Frauenzimmer, und ich führte das meinige hinauf.
Wir schlangen uns in Menuetts um einander herum; ich
forderte ein Frauenzimmer nach dem andern auf, und just
die unleidlichsten konnten nicht dazu kommen, einem die
Hand zu reichen und ein Ende zu machen. Lotte und ihr
Tänzer fingen einen Englischen an, und wie wohl mir's
war, als sie auch in der Reihe die Figur mit uns anfing,
magst du fühlen. Tanzen muß man sie sehen! Siehst du, sie
ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr
ganzer Körper eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen,
als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn sie sonst nichts
dächte, nichts empfände; und in dem Augenblicke gewiß
schwindet alles andere vor ihr.
Ich bat sie um den zweiten Contretanz; sie sagte mir
den dritten zu und mit der liebenswürdigsten Freimütigkeit
von der Welt versicherte sie mir, daß sie herzlich gern
deutsch tanze. - Es ist hier so Mode, fuhr sie fort, daß
jedes Paar, das zusammen gehört, beim Deutschen zusammen
bleibt, und mein Chapeau walzt schlecht, und
dankt mir's, wenn ich ihm die Arbeit erlasse. Ihr Frauenzimmer
kanns auch nicht und mag nicht, und ich habe im
Englischen gesehn, daß Sie gut walzen; wenn Sie nun mein
sein wollen fürs Deutsche, so gehn Sie und bitten sich's
von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer Dame gehen.
Ich gab ihr die Hand darauf und wir machten aus, daß
ihr Tänzer inzwischen meine Tänzerin unterhalten sollte.
Nun gings an! und wir ergetzten uns eine Weile an
mannigfaltigen Schlingungen der Arme. Mit welchem
Reize, mit welcher Flüchtigkeit bewegte sie sich! und da
wir nun gar ans Walzen kamen und wie die Sphären um
einander herumrollten, gings freilich anfangs, weils die
wenigsten können, ein bißchen bunt durcheinander. Wir
waren klug und ließen sie austoben, und als die
Ungeschicktesten den Plan geräumt hatten, fielen wir ein, und
hielten mit noch einem Paare, mit Audran und seiner Tänzerin,
wacker aus. Nie ist mir's so leicht vom Flecke
gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste
Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen
wie Wetter, daß alles rings umher verging, und
Wilhelm, um ehrlich zu sein, tat ich aber doch den
Schwur, daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich
Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte
als mit mir, und wenn ich drüber zugrunde gehen müßte.
Du verstehst mich!
Wir machten einige Touren gehend im Saale, um zu
verschnaufen. Dann setzte sie sich, und die Orangen, die
ich beiseite gebracht hatte, die nun die einzigen noch übrigen
waren, taten vortreffliche Wirkung, nur daß mir mit
jedem Schnittchen, das sie einer unbescheidenen Nachbarin
ehrenhalben zuteilte, ein Stich durchs Herz ging.
Beim dritten englischen Tanz waren wir das zweite
Paar. Wie wir die Reihe durchtanzten, und ich, weiß Gott
mit wie viel Wonne, an ihrem Arm und Auge hing, das
voll vom wahrsten Ausdruck des offensten reinsten
Vergnügens war, kommen wir an eine Frau, die mir wegen
ihrer liebenswürdigen Miene auf einem nicht mehr ganz
jungen Gesichte merkwürdig gewesen war. Sie sieht Lotten
lächelnd an, hebt einen drohenden Finger auf, und
nennt den Namen Albert zweimal im Vorbeifliegen mit
viel Bedeutung.
Wer ist Albert? sagte ich zu Lotten, wenn's nicht Vermessenheit
ist zu fragen. - Sie war im Begriff zu antworten, als wir
uns scheiden mußten, um die große Achte zu
machen, und mich dünkte einiges Nachdenken auf ihrer
Stirn zu sehen, als wir so vor einander vorbeikreuzten.
Was soll ich's Ihnen leugnen, sagte sie, indem sie mir die
Hand zur Promenade bot. Albert ist ein braver Mensch,
dem ich so gut als verlobt bin. - Nun war mir das nichts
Neues (denn die Mädchen hatten mir's auf dem Wege
gesagt) und war mir doch so ganz neu, weil ich es noch
nicht im Verhältnis auf sie, die mir in so wenig
Augenblikken so wert geworden war, gedacht hatte. Genug, ich
verwirrte mich, vergaß mich, und kam zwischen das
unrechte Paar hinein, daß alles drunter und drüber ging,
und Lottens ganze Gegenwart und Zerren und Ziehen
nötig war, um es schnell wieder in Ordnung zu bringen.
Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blitze, die
wir schon lange am Horizonte leuchten gesehn, und die
ich immer für Wetterkühlen ausgegeben hatte, viel stärker
zu werden anfingen, und der Donner die Musik überstimmte.
Drei Frauenzimmer liefen aus der Reihe, denen
ihre Herren folgten; die Unordnung wurde allgemein und
die Musik hörte auf. Es ist natürlich, wenn uns ein
Unglück, oder etwas Schreckliches im Vergnügen
überrascht, daß es stärkere Eindrücke auf uns macht als sonst,
teils wegen des Gegensatzes, der sich so lebhaft empfinden
läßt, teils und noch mehr, weil unsere Sinne einmal
der Fühlbarkeit geöffnet sind und also desto schneller
einen Eindruck annehmen. Diesen Ursachen muß ich die
wunderbaren Grimassen zuschreiben, in die ich mehrere
Frauenzimmer ausbrechen sah. Die klügste setzte sich in
eine Ecke, mit dem Rücken gegen das Fenster, und hielt
die Ohren zu. Eine andere kniete vor ihr nieder, und verbarg
den Kopf in der ersten Schoß. Eine dritte schob sich
zwischen beide hinein, und umfaßte ihre Schwesterchen
mit tausend Tränen. Einige wollten nach Hause; andere,
die noch weniger wußten, was sie taten, hatten nicht so
viel Besinnungskraft, den Keckheiten unserer jungen
Schlucker zu steuern, die sehr beschäftigt zu sein schienen,
alle die ängstlichen Gebete, die dem Himmel
bestimmt waren, von den Lippen der schönen Bedrängten
wegzufangen. Einige unserer Herren hatten sich hinab
begeben, um ein Pfeifchen in Ruhe zu rauchen; und die
übrige Gesellschaft schlug es nicht aus, als die Wirtin auf
den klugen Einfall kam, uns ein Zimmer anzuweisen, das
Läden und Vorhänge hätte. Kaum waren wir da
angelangt, als Lotte beschäftigt war, einen Kreis von Stühlen
zu stellen, und als sich die Gesellschaft auf ihre Bitte
gesetzt hatte, den Vortrag zu einem Spiele zu tun.
Ich sah manchen, der in Hoffnung auf ein saftiges Pfand
sein Mäulchen spitzte, und seine Glieder reckte. - Wir
spielen Zählens, sagte sie. Nun gebt acht! Ich geh im
Kreise herum von der Rechten zur Linken, und so zählt
ihr auch rings herum, jeder die Zahl, die an ihn kommt,
und das muß gehen wie ein Lauffeuer, und wer stockt,
oder sich irrt, kriegt eine Ohrfeige, und so bis tausend.
Nun war das lustig anzusehen. Sie ging mit ausgestrecktem
Arm im Kreis herum. Eins, fing der erste an, der
Nachbar zwei, drei der folgende und so fort. Dann fing sie
an, geschwinder zu gehn, immer geschwinder; da versahs
einer, patsch! eine Ohrfeige, und über das Gelächter der
folgende auch patsch! Und immer geschwinder. Ich selbst
kriegte zwei Maulschellen, und glaubte mit innigem Vergnügen
zu bemerken, daß sie stärker seien, als sie sie den
übrigen zuzumessen pflegte. Ein allgemeines Gelächter
und Geschwärm endigte das Spiel, ehe noch das Tausend
ausgezählt war. Die Vertrautesten zogen einander bei
seite, das Gewitter war vorüber, und ich folgte Lotten in
den Saal. Unterwegs sagte sie: über die Ohrfeigen haben
sie Wetter und alles vergessen! - Ich konnte ihr nichts
antworten. - Ich war, fuhr sie fort, eine der Furchtsamsten,
und indem ich mich herzhaft stellte, um den andern
Mut zu geben, bin ich mutig geworden. - Wir traten ans
Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen
säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch
stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand,
auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die
Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr
Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige, und
sagte - Klopstock! - Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen
Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem
Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über
mich ausgoß. Ich ertrugs nicht, neigte mich auf ihre Hand
und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah
nach ihrem Auge wieder - Edler! hättest du deine
Vergötterung in diesem Blicke gesehn, und möcht ich
nun deinen so oft entweihten Namen nie wieder nennen hören!
Am 21. Junius.
Ich lebe so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen
ausspart; und mit mir mag werden was will, so darf ich
nicht sagen, daß ich die Freuden, die reinsten Freuden des
Lebens nicht genossen habe. - Du kennst mein Wahlheim; dort bin
ich völlig etabliert, von da habe ich nur eine
halbe Stunde zu Lotten, dort fühl ich mich selbst und
alles Glück, das dem Menschen gegeben ist.
Hätt ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke
meiner Spaziergänge wählte, daß es so nahe am Himmel
läge! Wie oft habe ich das Jagdhaus, das nun alle meine
Wünsche einschließt, auf meinen weiten Wanderungen,
bald vom Berge, bald von der Ebne über den Fluß gesehn!
Lieber Wilhelm, ich habe allerlei nachgedacht, über
die Begier im Menschen, sich auszubreiten, neue Entdekkungen
zu machen, herumzuschweifen; und dann wieder über den
innern Trieb, sich der Einschränkung willig zu ergeben,
in dem Gleise der Gewohnheit so hinzufahren, und sich weder
um Rechts noch um Links zu bekümmern.
Es ist wunderbar: wie ich hierher kam und vom Hügel
in das schöne Tal schaute, wie es mich rings umher anzog.
Dort das Wäldchen! - Ach könntest du dich in seine
Schatten mischen! - Dort die Spitze des Berges! - Ach
könntest du von da die weite Gegend überschauen! - Die
ineinander geketteten Hügel und vertraulichen Täler! - O
könnte ich mich in ihnen verlieren! - Ich eilte hin, und
kehrte zurück, und hatte nicht gefunden, was ich hoffte.
O es ist mit der Ferne wie mit der Zukunft! ein großes
dämmerndes Ganze ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung
verschwimmt darin wie unser Auge, und wir sehnen uns, ach! unser
ganzes Wesen hinzugeben, uns mit
aller Wonne eines einzigen, großen, herrlichen Gefühls
ausfüllen zu lassen. - Und ach! wenn wir hinzueilen, wenn das
Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und
wir stehen in unserer Armut, in unserer Eingeschränktheit,
und unsere Seele lechzt nach entschlüpftem Labsale.
So sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder
nach seinem Vaterlande, und findet in seiner Hütte, an der
Brust seiner Gattin, in dem Kreise seiner Kinder, in den
Geschäften zu ihrer Erhaltung die Wonne, die er in der
weiten Welt vergebens suchte.
Wenn ich des Morgens mit Sonnenaufgange hinausgehe
nach meinem Wahlheim, und dort im Wirtsgarten mir
meine Zuckererbsen selbst pflücke, mich hinsetze, sie
abfädne und dazwischen in meinem Homer lese; wenn ich
denn in der kleinen Küche mir einen Topf wähle, mir
Butter aussteche, Schoten ans Feuer stelle, zudecke, und
mich dazusetze, sie manchmal umzuschütteln: da fühl ich
so lebhaft, wie die übermütigen Freier der Penelope Ochsen
und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Es ist
nichts, das mich so mit einer stillen wahren Empfindung
ausfüllte, als die Züge patriarchalischen Lebens, die ich,
Gott sei Dank, ohne Affektation in meine Lebensart verweben kann.
Wie wohl ist mir's, daß mein Herz die simple harmlose
Wonne des Menschen fühlen kann, der ein Krauthaupt
auf seinen Tisch bringt, das er selbst gezogen, und nun
nicht den Kohl allein, sondern all die guten Tage, den
schönen Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen
Abende, da er ihn begoß, und da er an dem fortschreitenden
Wachstum seine Freude hatte, alle in einem Augenblicke wieder mitgenießt.
Am 1. Julius.
Was Lotte einem Kranken sein muß, fühl ich an meinem
eigenen armen Herzen, das übler dran ist als manches, das
auf dem Siechbette verschmachtet. Sie wird einige Tage in
der Stadt bei einer rechtschaffnen Frau zubringen, die sich
nach der Aussage der Ärzte ihrem Ende naht, und in diesen
letzten Augenblicken Lotten um sich haben will. Ich
war vorige Woche mit ihr den Pfarrer von St.. zu besuchen;
ein Örtchen, das eine Stunde seitwärts im Gebirge
liegt. Wir kamen gegen vier dahin. Lotte hatte ihre zweite
Schwester mitgenommen. Als wir in den mit zwei hohen
Nußbäumen überschatteten Pfarrhof traten, saß der gute
alte Mann auf einer Bank vor der Haustür, und da er
Lotten sah, ward er wie neu belebt, vergaß seinen
Knotenstock, und wagte sich auf, ihr entgegen. Sie lief hin zu
ihm, nötigte ihn sich niederzulassen, indem sie sich zu
ihm setzte, brachte viele Grüße von ihrem Vater, herzte
seinen garstigen, schmutzigen, jüngsten Buben, das
Quakelchen seines Alters. Du hättest sie sehen sollen, wie sie
den Alten beschäftigte, wie sie ihre Stimme erhob, um
seinen halb tauben Ohren vernehmlich zu werden, wie sie
ihm von jungen robusten Leuten erzählte, die unvermutet
gestorben wären, von der Vortrefflichkeit des Karlsbades,
und wie sie seinen Entschluß lobte, künftigen Sommer
hinzugehen, wie sie fand, daß er viel besser aussähe, viel
munterer sei als das letztemal, da sie ihn gesehn. - Ich
hatte indes der Frau Pfarrerin meine Höflichkeiten gemacht.
Der Alte wurde ganz munter, und da ich nicht
umhin konnte, die schönen Nußbäume zu loben, die uns
so lieblich beschatteten, fing er an, uns, wiewohl mit
einiger Beschwerlichkeit, die Geschichte davon zu geben.
- Den alten, sagte er, wissen wir nicht, wer den gepflanzt
hat: einige sagen dieser, andere jener Pfarrer. Der jüngere
aber dort hinten ist so alt als meine Frau, im Oktober
funfzig Jahr. Ihr Vater pflanzte ihn des Morgens, als sie
gegen Abend geboren wurde. Er war mein Vorfahr im
Amt, und wie lieb ihm der Baum war, ist nicht zu sagen;
mir ist ers gewiß nicht weniger. Meine Frau saß darunter
auf einem Balken und strickte, da ich vor siebenundzwanzig
Jahren als ein armer Student zum erstenmale hier in
den Hof kam. - Lotte fragte nach seiner Tochter: es hieß,
sie sei mit Herrn Schmidt auf die Wiese hinaus zu den
Arbeitern, und der Alte fuhr in seiner Erzählung fort: wie
sein Vorfahr ihn lieb gewonnen und die Tochter dazu,
und wie er erst sein Vikar, und dann sein Nachfolger
geworden. Die Geschichte war nicht lange zu Ende, als
die Jungfer Pfarrerin mit dem sogenannten Herrn Schmidt
durch den Garten herkam: sie bewillkommte Lotten mit
herzlicher Wärme, und ich muß sagen, sie gefiel mir nicht
übel; eine rasche wohlgewachsene Brünette, die einen die
kurze Zeit über auf dem Lande wohl unterhalten hätte.
Ihr Liebhaber (denn als solcher stellte sich Herr Schmidt
gleich dar), ein feiner, doch stiller Mensch, der sich nicht
in unsere Gespräche mischen wollte, ob ihn gleich Lotte
immer hereinzog. Was mich am meisten betrübte, war,
daß ich an seinen Gesichtszügen zu bemerken schien, es
sei mehr Eigensinn und übler Humor als Eingeschränktheit
des Verstandes, der ihn sich mitzuteilen hinderte. In
der Folge ward dies leider nur zu deutlich; denn als Friederike
beim Spazierengehen mit Lotten und gelegentlich
auch mit mir ging, wurde des Herrn Angesicht, das ohnedies
einer bräunlichen Farbe war, so sichtlich verdunkelt,
daß es Zeit war, daß Lotte mich beim Ärmel zupfte und
mir zu verstehn gab, daß ich mit Friederiken zu artig
getan. Nun verdrießt mich nichts mehr, als wenn die
Menschen einander plagen, am meisten, wenn junge
Leute in der Blüte des Lebens, da sie am offensten für alle
Freuden sein könnten, einander die paar guten Tage mit
Fratzen verderben, und nur erst zu spät das Unersetzliche
ihrer Verschwendung einsehen. Mich wurmte das und ich
konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof
zurückkehrten und an einem Tische Milch aßen, und das
Gespräch auf Freude und Leid der Welt sich wendete, den
Faden zu ergreifen und recht herzlich gegen die üble
Laune zu reden. - Wir Menschen beklagen uns oft, fing
ich an, daß der guten Tage so wenig sind und der
schlimmen so viel, und wie mich dünkt, meist mit Unrecht.
Wenn wir immer ein offenes Herz hätten, das Gute zu
genießen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir würden
alsdann auch Kraft genug haben, das übel zu tragen,
wenn es kommt. - Wir haben aber unser Gemüt nicht in
unserer Gewalt, versetzte die Pfarrerin: wie viel hängt
vom Körper ab! wenn einem nicht wohl ist, ist's einem
überall nicht recht. - Ich gestand ihr das ein. - Wir wollen
es also, fuhr ich fort, als eine Krankheit ansehen und fragen,
ob dafür kein Mittel ist? - Das läßt sich hören, sagte
Lotte: ich glaube wenigstens, daß viel von uns abhängt.
Ich weiß es an mir. Wenn mich etwas neckt und mich
verdrießlich machen will, spring ich auf, und sing ein
paar Contretänze den Garten auf und ab, gleich ist's weg.
Das war's, was ich sagen wollte, versetzte ich: es ist mit
der üblen Laune völlig wie mit der Trägheit, denn es ist
eine Art von Trägheit. Unsere Natur hängt sehr dahin,
und doch, wenn wir nur einmal die Kraft haben, uns zu
ermannen, geht uns die Arbeit frisch von der Hand, und
wir finden in der Tätigkeit ein wahres Vergnügen. -
Friederike war sehr aufmerksam, und der junge Mensch
wandte mir ein: daß man nicht Herr über sich selbst sei,
und am wenigsten über seine Empfindungen gebieten
könne. - Es ist hier die Frage von einer unangenehmen
Empfindung, versetzte ich, die doch jedermann gerne los
ist; und niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen, bis er
sie versucht hat. Gewiß, wer krank ist, wird bei allen
Ärzten herumfragen, und die größten Resignationen, die
bittersten Arzeneien wird er nicht abweisen, um seine
gewünschte Gesundheit zu erhalten. - Ich bemerkte, daß
der ehrliche Alte sein Gehör anstrengte, um an unserm
Diskurse teilzunehmen, ich erhob die Stimme, indem ich
die Rede gegen ihn wandte: Man predigt gegen so viele
Laster, sagte ich, ich habe noch nie gehört, daß man gegen
die üble Laune vom Predigtstuhle gearbeitet hätte.* - Das
müßten die Stadtpfarrer tun, sagte er, die Bauern haben
keinen bösen Humor; doch könnte es auch zuweilen nicht
schaden, es wäre eine Lektion für seine Frau wenigstens
und für den Herrn Amtmann. - Die Gesellschaft lachte,
und er herzlich mit, bis er in einen Husten verfiel, der
unsern Diskurs eine Zeitlang unterbrach; darauf denn der
junge Mensch wieder das Wort nahm: Sie nannten den
bösen Humor ein Laster; mich deucht, das ist übertrieben. -
Mitnichten, gab ich zur Antwort, wenn das, womit
man sich selbst und seinem Nächsten schadet, diesen
Namen verdient. Ist es nicht genug, daß wir einander
nicht glücklich machen können, müssen wir auch noch
einander das Vergnügen rauben, das jedes Herz sich noch
manchmal selbst gewähren kann? Und nennen Sie mir den
Menschen, der übler Laune ist und so brav dabei, sie zu
verbergen, sie allein zu tragen, ohne die Freude um sich
her zu zerstören! Oder ist sie nicht vielmehr ein innerer
Unmut über unsere eigene Unwürdigkeit, ein Mißfallen
an uns selbst, das immer mit einem Neide verknüpft ist,
der durch eine törichte Eitelkeit aufgehetzt wird? Wir
sehen glückliche Menschen, die wir nicht glücklich
machen, und das ist unerträglich. - Lotte lächelte mich an,
da sie die Bewegung sah, mit der ich redete, und eine
Träne in Friederikens Auge spornte mich fortzufahren.
Wehe denen, sagte ich, die sich der Gewalt bedienen, die
sie über ein Herz haben, um ihm die einfachen Freuden zu
rauben, die aus ihm selbst hervorkeimen. Alle Geschenke,
alle Gefälligkeiten der Welt ersetzen nicht einen Augenblick
Vergnügen an sich selbst, den uns eine neidische
Unbehaglichkeit unsers Tyrannen vergällt hat.
* Wir haben nun von Lavatern eine treffliche Predigt hierüber,
unter denen über das Buch Jonas.
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Mein ganzes Herz war voll in diesem Augenblicke; die
Erinnerung so manches Vergangenen drängte sich an
meine Seele, und die Tränen kamen mir in die Augen.
Wer sich das nur täglich sagte, rief ich aus: du vermagst
nichts auf deine Freunde, als ihnen ihre Freuden zu lassen
und ihr Glück zu vermehren, indem du es mit ihnen genießest.
Vermagst du, wenn ihre innere Seele von einer ängstigenden Leidenschaft
gequält, vom Kummer zerrüttet
ist, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?
Und wenn die letzte bangste Krankheit dann über das
Geschöpf herfällt, das du in blühenden Tagen untergraben hast,
und sie nun daliegt in dem erbärmlichen Ermatten, das Auge gefühllos gen
Himmel sieht, der Todesschweiß auf der blassen Stirne abwechselt, und du vor
dem Bette stehst wie ein Verdammter, in dem innigsten
Gefühl, daß du nichts vermagst mit deinem ganzen Vermögen,
und die Angst dich inwendig krampft, daß du
alles hingeben möchtest, dem untergehenden Geschöpfe
einen Tropfen Stärkung, einen Funken Mut einflößen zu
können.
Die Erinnerung einer solchen Szene, wobei ich gegenwärtig war,
fiel mit ganzer Gewalt bei diesen Worten über
mich. Ich nahm das Schnupftuch vor die Augen und verließ die
Gesellschaft, und nur Lottens Stimme, die mir
rief: wir wollten fort, brachte mich zu mir selbst. Und wie
sie mich auf dem Wege schalt, über den zu warmen Anteil
an allem, und daß ich drüber zugrunde gehen würde! daß
ich mich schonen sollte! - O der Engel! Um deinetwillen
muß ich leben!
Am 12. August.
Gewiß, Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel.
Ich habe gestern eine wunderbare Szene mit ihm gehabt.
Ich kam zu ihm, um Abschied von ihm zu nehmen; denn
mich wandelte die Lust an, ins Gebirge zu reiten, von
woher ich dir auch jetzt schreibe, und wie ich in der Stube
auf und ab gehe, fallen mir seine Pistolen in die Augen.
- Borge mir die Pistolen, sagte ich, zu meiner Reise. -
Meinetwegen, sagte er, wenn du dir die Mühe nehmen willst
sie zu laden; bei mir hängen sie nur pro forma. - Ich nahm
eine herunter, und er fuhr fort: Seit mir meine Vorsicht
einen so unartigen Streich gespielt hat, mag ich mit dem
Zeuge nichts mehr zu tun haben. - Ich war neugierig, die
Geschichte zu wissen. - Ich hielt mich, erzählte er, wohl
ein Vierteljahr auf dem Lande bei einem Freunde auf,
hatte ein Paar Terzerolen ungeladen und schlief ruhig.
Einmal an einem regnichten Nachmittage, da ich müßig
sitze, weiß ich nicht, wie mir einfällt: wir könnten
überfallen werden, wir könnten die Terzerolen nötig haben
und könnten - du weißt ja, wie das ist. - Ich gab sie dem
Bedienten, sie zu putzen und zu laden; und der dahlt mit
den Mädchen, will sie erschrecken, und Gott weiß wie,
das Gewehr geht los, da der Ladstock noch drin steckt,
und schießt den Ladstock einem Mädchen zur
Maus herein an der rechten Hand, und
zerschlägt ihr den Daumen. Da hatte ich das Lamentieren,
und die Kur zu bezahlen
obendrein, und seit der Zeit lass ich alles Gewehr ungeladen.
Lieber Schatz, was ist Vorsicht? die Gefahr läßt sich
nicht auslernen! Zwar - Nun weißt du, daß ich den Menschen
sehr lieb habe bis auf seine Zwar; denn versteht
sich's nicht von selbst, daß jeder allgemeine Satz Ausnahmen leidet?
Aber so rechtfertig ist der Mensch! wenn er
glaubt, etwas übereiltes, Allgemeines, Halbwahres
gesagt zu haben: so hört er dir nicht auf zu limitieren, zu
modifizieren und ab- und zuzutun, bis zuletzt gar nichts
mehr an der Sache ist. Und bei diesem Anlaß kam er sehr
tief in Text: ich hörte endlich gar nicht weiter auf ihn,
verfiel in Grillen, und mit einer auffahrenden Gebärde
drückte ich mir die Mündung der Pistole übers rechte
Aug an die Stirn. - Pfui! sagte Albert, indem er mir die
Pistole herabzog, was soll das? - Sie ist nicht geladen,
sagte ich. - Und auch so, was solls? versetzte er ungeduldig.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so
töricht sein kann, sich zu erschießen; der bloße Gedanke
erregt mir Widerwillen.
Daß ihr Menschen, rief ich aus, um von einer Sache zu
reden, gleich sprechen müßt: das ist töricht, das ist klug,
das ist gut, das ist bös! Und was will das alles heißen? Habt
ihr deswegen die inneren Verhältnisse einer Handlung
erforscht? wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln,
warum sie geschah, warum sie geschehen mußte?
Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren
Urteilen sein.
Du wirst mir zugeben, sagte Albert, daß gewisse Handlungen
lasterhaft bleiben, sie mögen
geschehen, aus welchem Beweggrunde sie wollen.
Ich zuckte die Achseln und gab's ihm zu. - Doch, mein
Lieber, fuhr ich fort, finden sich auch hier einige Ausnahmen.
Es ist wahr, der Diebstahl ist ein Laster: aber der
Mensch, der, um sich und die Seinigen vom gegenwärtigen
Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht, verdient
der Mitleiden oder Strafe? Wer hebt den ersten Stein auf
gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib
und ihren nichtswürdigen Verführer aufopfert? Gegen
das Mädchen, das in einer wonnevollen
Stunde sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert?
Unsere Gesetze selbst, diese kaltblütigen Pedanten,
lassen sich rühren und halten ihre Strafe zurück.
Das ist ganz was anders, versetzte Albert, weil ein
Mensch, den seine Leidenschaften hinreißen, alle
Besinnungskraft verliert, und als ein Trunkener,
als ein Wahnsinniger angesehen wird.
Ach ihr vernünftigen Leute! rief ich lächelnd aus. Leidenschaft! Trunkenheit!
Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen! scheltet
den Trinker, verabscheut den Unsinnigen, geht vorbei
wie der Priester und dankt Gott wie der Pharisäer, daß er
euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin mehr
als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren
nie weit vom Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn
ich habe in meinem Maße begreifen lernen, wie man alle
außerordentlichen Menschen, die etwas Großes, etwas
Unmöglichscheinendes wirkten, von jeher für Trunkene
und Wahnsinnige ausschreien mußte.
Aber auch im gemeinen Leben ist's unerträglich, fast
einem jeden bei halbweg einer freien, edlen, unerwarteten
Tat nachrufen zu hören: der Mensch ist trunken, der ist
närrisch! Schämt euch, ihr Nüchternen! Schämt euch, ihr
Weisen!
Das sind nun wieder von deinen Grillen, sagte Albert,
du überspannst alles, und hast wenigstens hier gewiß
unrecht, daß du den Selbstmord, wovon jetzt die Rede ist,
mit großen Handlungen vergleichst: da man es doch für
nichts anders als eine Schwäche halten kann. Denn freilich
ist es leichter zu sterben, als ein qualvolles Leben standhaft zu ertragen.
Ich war im Begriff abzubrechen; denn kein Argument bringt mich so
aus der Fassung, als wenn einer mit einem unbedeutenden Gemeinspruche angezogen
kommt, wenn ich aus ganzem Herzen rede. Doch faßte
ich mich, weil ich's schon oft gehört, und mich öfter
darüber geärgert hatte, und versetzte ihm mit einiger
Lebhaftigkeit: Du nennst das Schwäche? Ich bitte dich,
laß dich vom Anscheine nicht verführen. Ein Volk, das
unter dem unerträglichen Joch eines Tyrannen seufzt,
darfst du das schwach heißen, wenn es endlich aufgärt
und seine Ketten zerreißt? Ein Mensch, der über dem
Schrecken, daß Feuer sein Haus ergriffen hat, alle
Kräfte gespannt fühlt, und mit Leichtigkeit Lasten
wegträgt, die er bei ruhigem Sinne kaum bewegen kann;
einer, der in der Wut der Beleidigung es mit sechsen
aufnimmt und sie überwältigt, sind die schwach
zu nennen? Und, mein Guter, wenn Anstrengung Stärke ist,
warum soll die Überspannung das Gegenteil sein?
Albert sah mich an und sagte: Nimm mir's nicht übel,
die Beispiele, die du da gibst, scheinen hieher gar nicht
zu gehören. - Es mag sein, sagte ich, man hat mir schon
öfters vorgeworfen, daß meine Kombinationsart manchmal
an Radotage grenze. Laßt uns denn sehen, ob wir
uns auf eine andere Weise vorstellen können, wie dem
Menschen zumute sein mag, der sich entschließt, die
sonst angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen. Denn
nur insofern wir mitempfinden, haben wir Ehre, von
einer Sache zu reden.
Die menschliche Natur, fuhr ich fort, hat ihre Grenzen:
sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen
Grad ertragen, und geht zugrunde, sobald der überstiegen
ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder
stark ist? sondern ob er das Maß seines Leidens ausdauern
kann? es mag nun moralisch oder körperlich sein: und ich
finde es ebenso wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige,
der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den
einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber
stirbt.
Paradox! sehr paradox! rief Albert aus. - Nicht so sehr
als du denkst, versetzte ich. Du gibst mir zu, wir nennen
das eine Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so angegriffen
wird, daß teils ihre Kräfte verzehrt, teils so außer
Wirkung gesetzt werden, daß sie sich nicht wieder aufzuhelfen,
durch keine glückliche Revolution den gewöhnlichen
Umlauf des Lebens wieder herzustellen fähig ist.
Nun, mein Lieber, laß uns das auf den Geist anwenden.
Sieh den Menschen an in seiner Eingeschränktheit, wie
Eindrücke auf ihn wirken, Ideen sich bei ihm festsetzen,
bis endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen
Sinneskraft beraubt, und ihn zugrunde richtet.
Vergebens, daß der gelassene vernünftige Mensch den
Zustand des Unglücklichen übersieht, vergebens, daß er
ihm zuredet! Ebenso wie ein Gesunder, der am Bette des
Kranken steht, ihm von seinen Kräften nicht das geringste
einflößen kann.
Alberten war das zu allgemein gesprochen. Ich erinnerte
ihn an ein Mädchen, das man vor weniger Zeit
im Wasser tot gefunden, und wiederholte ihm ihre
Geschichte. - Ein gutes junges Geschöpf, das in dem
engen Kreise häuslicher Beschäftigungen, wöchentlicher
bestimmter Arbeit herangewachsen war, das weiter keine
Aussicht von Vergnügen kannte, als etwa sonntags in
einem nach und nach zusammengeschafften Putz mit
ihresgleichen um die Stadt spazieren zu gehen, vielleicht
alle hohen Feste einmal zu tanzen, und übrigens mit aller
Lebhaftigkeit des herzlichsten Anteils manche Stunde
über den Anlaß eines Gezänkes, einer übeln Nachrede mit
einer Nachbarin zu verplaudern - Deren feurige Natur
fühlt nun endlich innigere Bedürfnisse, die durch die
Schmeicheleien der Männer vermehrt werden; ihre vorigen
Freuden werden ihr nach und nach unschmackhaft,
bis sie endlich einen Menschen antrifft, zu dem ein
unbekanntes Gefühl sie unwiderstehlich hinreißt, auf den sie
nun alle ihre Hoffnungen wirft, die Welt rings um sich
vergißt, nichts hört, nichts sieht, nichts fühlt als ihn, den
Einzigen, sich nur sehnt nach ihm, dem Einzigen. Durch
die leeren Vergnügungen einer unbeständigen Eitelkeit
nicht verdorben, zieht ihr Verlangen gerade nach dem
Zweck, sie will die Seinige werden, sie will in ewiger
Verbindung all das Glück antreffen, das ihr mangelt,
die Vereinigung aller Freuden genießen, nach denen sie sich
sehnte. Wiederholtes Versprechen, das ihr die Gewißheit
aller Hoffnungen versiegelt, kühne Liebkosungen, die
ihre Begierden vermehren, umfangen ganz ihre Seele; sie
schwebt in einem dumpfen Bewußtsein, in einem Vorgefühl
aller Freuden, sie ist bis auf den höchsten Grad
gespannt. Sie streckt endlich ihre Arme aus, all ihre
Wünsche zu umfassen - und ihr Geliebter verläßt sie.
Erstarrt, ohne Sinne steht sie vor einem Abgrunde; alles
ist Finsternis um sie her, keine Aussicht, kein Trost,
keine Ahnung! denn der hat sie verlassen, in dem sie
allein ihr Dasein fühlte. Sie sieht nicht die weite Welt,
die vor ihr liegt, nicht die vielen, die ihr den Verlust
ersetzen könnten, sie fühlt sich allein, verlassen von
aller Welt, - und blind, in die Enge gepreßt von der
entsetzlichen Not ihres Herzens, stürzt sie sich hinunter, um
in einem rings umfangenden Tode alle ihre Qualen zu
ersticken. - Sieh, Albert, das ist die Geschichte so manches
Menschen! und sag, ist das nicht der Fall der Krankheit?
Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen
und widersprechenden Kräfte,
und der Mensch muß sterben.
Wehe dem, der zusehen und sagen könnte: die Törin!
Hätte sie gewartet, hätte sie die Zeit wirken lassen, die
Verzweifelung würde sich schon gelegt, es würde sich
schon ein anderer sie zu trösten vorgefunden haben. - Das
ist eben, als wenn einer sagte: der Tor, stirbt am Fieber!
Hätte er gewartet, bis seine Kräfte sich erholt, seine Säfte
sich verbessert, der Tumult seines Blutes sich gelegt hätten:
alles wäre gut gegangen, und er lebte bis auf den
heutigen Tag!
Albert, dem die Vergleichung noch nicht anschaulich
war, wandte noch einiges ein, und unter andern: ich hätte
nur von einem einfältigen Mädchen gesprochen; wie aber
ein Mensch von Verstande, der nicht so eingeschränkt sei,
der mehr Verhältnisse übersehe, zu entschuldigen sein
möchte, könne er nicht begreifen. - Mein Freund, rief ich
aus, der Mensch ist Mensch, und das bißchen Verstand,
das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in
Anschlag, wenn Leidenschaft wütet und die Grenzen der
Menschheit einen drängen. Vielmehr - Ein andermal
davon, sagte ich, und griff nach meinem Hute. O mir war
das Herz so voll - Und wir gingen auseinander, ohne
einander verstanden zu haben. Wie denn auf dieser Welt
keiner leicht den andern versteht.
Am 10. September.
Das war eine Nacht! Wilhelm! nun überstehe ich alles. Ich
werde sie nicht wieder sehn! O daß ich nicht an deinen
Hals fliegen, dir mit tausend Tränen und Entzückungen
ausdrücken kann, mein Bester, die Empfindungen, die
mein Herz bestürmen. Hier sitze ich und schnappe nach
Luft, suche mich zu beruhigen, erwarte den Morgen, und
mit Sonnenaufgang sind die Pferde bestellt.
Ach sie schläft ruhig und denkt nicht, daß sie mich nie
wieder sehen wird. Ich habe mich losgerissen, bin stark
genug gewesen, in einem Gespräch von zwei Stunden
mein Vorhaben nicht zu verraten. Und Gott, welch ein
Gespräch!
Albert hatte mir versprochen, gleich nach dem Nachtessen
mit Lotten im Garten zu sein. Ich stand auf der
Terrasse unter den hohen Kastanienbäumen und sah der
Sonne nach, die mir nun zum letztenmal über dem lieblichen
Tale, über dem sanften Fluß unterging. So oft hatte
ich hier gestanden mit ihr und eben dem herrlichen Schauspiele
zugesehen, und nun - Ich ging in der Allee auf und
ab, die mir so lieb war; ein geheimer sympathetischer Zug
hatte mich hier so oft gehalten, ehe ich noch Lotten
kannte, und wie freuten wir uns, als wir im Anfang unserer
Bekanntschaft die wechselseitige Neigung zu diesem
Plätzchen entdeckten, das wahrhaftig eins von den
romantischsten ist, die ich von der Kunst hervorgebracht
gesehen habe.
Erst hast du zwischen den Kastanienbäumen die weite
Aussicht - Ach ich erinnere mich, ich habe dir, denk ich,
schon viel davon geschrieben, wie hohe Buchenwände
einen endlich einschließen, und durch ein daranstoßendes
Boskett die Allee immer düsterer wird, bis zuletzt alles
sich in ein geschlossenes Plätzchen endigt, das alle Schauer
der Einsamkeit umschweben. Ich fühle es noch, wie heimlich mir's
ward, als ich zum erstenmale an einem hohen
Mittage hineintrat; ich ahnete ganz leise, was für ein
Schauplatz das noch werden sollte von Seligkeit und
Schmerz.
Ich hatte mich etwa eine halbe Stunde in den
schmachtenden süßen Gedanken des Abscheidens, des
Wiedersehens geweidet, als ich sie die Terrasse heraufsteigen hörte.
Ich lief ihnen entgegen, mit einem
Schauer faßte ich ihre Hand und küßte sie. Wir waren
eben heraufgetreten, als der Mond hinter dem buschigen
Hügel aufging; wir redeten mancherlei und kamen
unvermerkt dem düstern Kabinette näher. Lotte trat
hinein und setzte sich. Albert neben sie, ich auch; doch
meine Unruhe ließ mich nicht lange sitzen; ich stand
auf, trat vor sie, ging auf und ab, setzte mich wieder: es
war ein ängstlicher Zustand. Sie machte uns aufmerksam
auf die schöne Wirkung des Mondenlichtes, das am
Ende der Buchenwände die ganze Terrasse vor uns
erleuchtete: ein herrlicher Anblick, der um so viel frappanter
war, weil uns rings eine tiefe Dämmerung einschloß.
Wir waren still, und sie fing nach einer Weile
an: Niemals gehe ich im Mondenlichte spazieren, niemals,
daß mir nicht der Gedanke an meine Verstorbenen begegnete,
daß nicht das Gefühl von Tod, von
Zukunft über mich käme. Wir werden sein! fuhr sie mit
der Stimme des herrlichsten Gefühls fort; aber, Werther,
sollen wir uns wieder finden? wieder erkennen?
Was ahnen Sie? was sagen Sie?
Lotte, sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte, und
mir die Augen voll Tränen wurden, wir werden uns wieder
sehn! hier und dort wieder sehn! - Ich konnte nicht
weiterreden - Wilhelm, mußte sie mich das fragen, da ich
diesen ängstlichen Abschied im Herzen hatte!
Und ob die lieben Abgeschiednen von uns wissen,
fuhr sie fort, ob sie fühlen, wanns uns wohl geht, daß
wir mit warmer Liebe uns ihrer erinnern? O! die Gestalt
meiner Mutter schwebt immer um mich, wenn ich am
stillen Abend unter ihren Kindern, unter meinen Kindern
sitze, und sie um mich versammelt sind, wie sie
um sie versammelt waren. Wenn ich dann mit einer sehnenden
Träne gen Himmel sehe, und wünsche, daß sie
hereinschauen könnte einen Augenblick, wie ich mein
Wort halte, das ich ihr in der Stunde des Todes gab: die
Mutter ihrer Kinder zu sein. Mit welcher Empfindung
rufe ich aus: Verzeihe mir's, Teuerste, wenn ich ihnen
nicht bin, was du ihnen warst. Ach! tue ich doch alles,
was ich kann, sind sie doch gekleidet, genährt, ach, und
was mehr ist als das alles, gepflegt und geliebt. Könntest
du unsere Eintracht sehen, liebe Heilige! du würdest
mit dem heißesten Danke den Gott verherrlichen, den
du mit den letzten bittersten Tränen um die Wohlfahrt
deiner Kinder batest.
Sie sagte das! o Wilhelm, wer kann wiederholen, was sie
sagte! Wie kann der kalte tote Buchstabe diese himmlische
Blüte des Geistes darstellen! Albert fiel ihr sanft in die
Rede: Es greift Sie zu stark an, liebe Lotte! ich weiß, Ihre
Seele hängt sehr nach diesen Ideen, aber ich bitte Sie - O
Albert, sagte sie, ich weiß, du vergissest nicht die Abende,
da wir zusammensaßen an dem kleinen runden Tischchen,
wenn der Papa verreist war, und wir die Kleinen schlafen
geschickt hatten. Du hattest oft ein gutes Buch und kamst
so selten dazu, etwas zu lesen - War der Umgang dieser
herrlichen Seele nicht mehr als alles? die schöne, sanfte,
muntere und immer tätige Frau! Gott kennt meine Tränen,
mit denen ich mich oft in meinem Bette vor ihn hinwarf: er
möchte mich ihr gleich machen.
- Lotte! rief ich aus, indem ich mich vor sie hinwarf, ihre
Hand nahm und mit tausend Tränen netzte, Lotte! der
Segen Gottes ruht über dir, und der Geist deiner Mutter!
Wenn Sie sie gekannt hätten, sagte sie, indem sie mir die
Hand drückte, - sie war wert, von Ihnen gekannt zu sein!
Ich glaubte zu vergehen. Nie war ein größeres stolzeres
Wort über mich ausgesprochen worden - und sie fuhr
fort: Und diese Frau mußte in der Blüte ihrer Jahre dahin,
da ihr jüngster Sohn nicht sechs Monate alt war! Ihre
Krankheit dauerte nicht lange; sie war ruhig, hingegeben,
nur ihre Kinder taten ihr weh, besonders das kleine. Wie
es gegen das Ende ging, und sie zu mir sagte: Bringe mir
sie herauf, und wie ich sie hereinführte, die kleinen, die
nicht wußten, und die ältesten, die ohne Sinne waren, wie
sie ums Bette standen, und wie sie die Hände aufhob, und
über sie betete, und sie küßte nacheinander
und sie wegschickte, und zu mir sagte: Sei ihre Mutter! - Ich gab ihr
die Hand drauf! - Du versprichst viel, meine Tochter,
sagte sie, das Herz einer Mutter und das Aug einer Mutter.
Ich habe oft an deinen dankbaren Tränen gesehen, daß
du fühlst, was das sei. Habe es für deine Geschwister, und
für deinen Vater die Treue und den Gehorsam einer Frau.
Du wirst ihn trösten. - Sie fragte nach ihm, er war
ausgegangen, um uns den unerträglichen Kummer zu
verbergen, den er fühlte, der Mann war ganz zerrissen.
Albert, du warst im Zimmer. Sie hörte jemand gehn
und fragte und forderte dich zu sich, und wie sie dich
ansah und mich, mit dem getrösteten ruhigen Blicke, daß
wir glücklich sein, zusammen glücklich sein würden.
Albert fiel ihr um den Hals und küßte sie und rief:
Wir sind es! wir werden es sein! - Der ruhige Albert war
ganz aus seiner Fassung, und ich wußte nichts von mir
selber.
Werther, fing sie an, und diese Frau sollte dahin sein!
Gott! wenn ich manchmal denke, wie man das Liebste
seines Lebens wegtragen läßt, und niemand als die Kinder
das so scharf fühlt, die sich noch lange beklagten, die
schwarzen Männer hätten die Mama weggetragen!
Sie stand auf und ich ward erweckt und erschüttert,
blieb sitzen und hielt ihre Hand. - Wir wollen fort, sagte
sie, es wird Zeit. - Sie wollte ihre Hand zurückziehen und
ich hielt sie fester. - Wir werden uns wieder sehen, rief
ich, wir werden uns finden, unter allen Gestalten werden
wir uns erkennen. Ich gehe, fuhr ich fort, ich gehe willig,
und doch, wenn ich sagen sollte auf ewig, ich würde es
nicht aushalten. Leb wohl, Lotte! Leb wohl, Albert! Wir
sehn uns wieder. - Morgen, denke ich, versetzte sie scherzend. -
Ich fühlte das Morgen! Ach sie wußte nicht, als sie
ihre Hand aus der meinen zog - Sie gingen die Allee hinaus,
ich stand, sah ihnen nach im Mondscheine und warf
mich an die Erde und weinte mich aus und sprang auf und
lief auf die Terrasse hervor und sah noch dort unten im
Schatten der hohen Lindenbäume ihr weißes Kleid nach
der Gartentür schimmern, ich streckte meine Arme aus,
und es verschwand.
Am 24. Dezember 1771.
Der Gesandte macht mir viel Verdruß, ich habe es vorausgesehn.
Er ist der pünktlichste Narr, den es nur geben
kann; Schritt vor Schritt, und umständlich wie eine Base;
ein Mensch, der nie mit sich selbst zufrieden ist, und dem
es daher niemand zu Danke machen kann. Ich arbeite gern
leicht weg, und wie es steht, so steht es: da ist er imstande,
mir einen Aufsatz zurückzugeben und zu sagen: Er ist
gut, aber sehen Sie ihn durch, man findet immer ein besseres Wort,
eine reinere Partikel. - Da möchte ich des Teufels werden.
Kein Und, kein Bindewörtchen darf außenbleiben, und
von allen Inversionen, die mir manchmal
entfahren, ist er ein Todfeind; wenn man seinen Perioden
nicht nach der hergebrachten Melodie heraborgelt, so versteht
er gar nichts drin. Das ist ein Leiden, mit so einem
Menschen zu tun zu haben.
Das Vertrauen des Grafen von C.. ist noch das einzige,
was mich schadlos hält. Er sagte mir letzthin ganz
aufrichtig, wie unzufrieden er mit der Langsamkeit und
Bedenklichkeit meines Gesandten sei. Die Leute erschweren es
sich und andern; doch, sagte er, man muß sich darein
resignieren, wie ein Reisender, der über einen Berg muß;
freilich, wäre der Berg nicht da, so wäre der Weg viel
bequemer und kürzer; er ist nun aber da, und man soll
hinüber!
Mein Alter spürt auch wohl den Vorzug, den mir der
Graf vor ihm gibt, und das ärgert ihn, und er ergreift jede
Gelegenheit, Übels gegen mich vom Grafen zu reden: ich
halte, wie natürlich, Widerpart, und dadurch wird die
Sache nur schlimmer. Gestern gar brachte er mich auf,
denn ich war mit gemeint: zu so Weltgeschäften sei der
Graf ganz gut, er habe viele Leichtigkeit zu arbeiten und
führe eine gute Feder, doch an gründlicher Gelehrsamkeit
mangle es ihm wie allen Belletristen. Dazu machte er eine
Miene, als ob er sagen wollte: Fühlst du den Stich? Aber es
tat bei mir nicht die Wirkung, ich verachtete den Menschen,
der so denken und sich so betragen konnte. Ich
hielt ihm stand, und focht mit ziemlicher Heftigkeit. Ich
sagte, der Graf sei ein Mann, vor dem man Achtung haben
müsse, wegen seines Charakters sowohl als wegen seiner
Kenntnisse. Ich habe, sagt ich, niemand gekannt, dem es
so geglückt wäre, seinen Geist zu erweitern, ihn über
unzählige Gegenstände zu verbreiten und doch diese
Tätigkeit fürs gemeine Leben zu behalten. - Das waren
dem Gehirne spanische Dörfer, und ich empfahl mich, um
nicht über ein weiteres Deraisonnement noch mehr Galle
zu schlucken.
Und daran seid ihr alle schuld, die ihr mich in das Joch
geschwatzt, und mir so viel von Aktivität vorgesungen
habt. Aktivität! Wenn nicht der mehr tut, der Kartoffeln
legt, und in die Stadt reitet, sein Korn zu verkaufen, als
ich, so will ich zehn Jahre noch mich auf der Galeere
abarbeiten, auf der ich nun angeschmiedet bin.
Und das glänzende Elend, die Langeweile unter dem
garstigen Volke, das sich hier neben einander sieht! die
Rangsucht unter ihnen, wie sie nur wachen und aufpassen,
einander ein Schrittchen abzugewinnen; die elendesten
erbärmlichsten Leidenschaften, ganz ohne Röckchen.
Da ist ein Weib, zum Exempel, die jedermann von
ihrem Adel und ihrem Lande unterhält, so daß jeder
Fremde denken muß: das ist eine Närrin, die sich auf das
bißchen Adel und auf den Ruf ihres Landes Wunderstreiche einbildet. -
Aber es ist noch viel ärger: eben das Weib
ist hier aus der Nachbarschaft eine Amtschreiberstochter.
Sieh, ich kann das Menschengeschlecht nicht begreifen,
das so wenig Sinn hat, um sich so platt zu prostituieren.
Zwar ich merke täglich mehr, mein Lieber, wie töricht
man ist, andere nach sich zu berechnen. Und weil ich so
viel mit mir selbst zu tun habe, und dieses Herz so stürmisch
ist - ach ich lasse gern die andern ihres Pfades
gehen, wenn sie mich nur auch könnten gehen lassen.
Was mich am meisten neckt, sind die fatalen bürgerlichen
Verhältnisse. Zwar weiß ich so gut als einer, wie
nötig der Unterschied der Stände ist, wie viel Vorteile er
mir selbst verschafft: nur soll er mir nicht eben gerade im
Wege stehen, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer von
Glück auf dieser Erde genießen könnte. Ich
lernte neulich auf dem Spaziergange ein Fräulein von B..
kennen, ein liebenswürdiges Geschöpf, das sehr viele
Natur mitten in dem steifen Leben erhalten hat. Wir gefielen
uns in unserem Gespräche, und da wir schieden, bat
ich sie um Erlaubnis, sie bei sich sehen zu dürfen. Sie
gestattete mir das mit so viel Freimütigkeit, daß ich den
schicklichen Augenblick kaum erwarten konnte, zu ihr zu
gehen. Sie ist nicht von hier und wohnt bei einer Tante im
Hause. Die Physiognomie der Alten gefiel mir nicht. Ich
bezeigte ihr viel Aufmerksamkeit, mein Gespräch war
meist an sie gewandt, und in minder als einer halben
Stunde hatte ich so ziemlich weg, was mir das Fräulein
nachher selbst gestand: daß die liebe Tante in ihrem Alter
Mangel von allem, kein anständiges Vermögen, keinen
Geist, und keine Stütze hat als die Reihe ihrer Vorfahren,
keinen Schirm als den Stand, in den sie sich verpalisadiert,
und kein Ergetzen, als von ihrem Stockwerk herab über
die bürgerlichen Häupter wegzusehen. In ihrer Jugend
soll sie schön gewesen sein und ihr Leben weggegaukelt,
erst mit ihrem Eigensinne manchen armen Jungen gequält,
und in den reifern Jahren sich unter den Gehorsam
eines alten Offiziers geduckt haben, der gegen diesen
Preis und einen leidlichen Unterhalt das eherne Jahrhundert
mit ihr zubrachte und starb. Nun sieht sie im eisernen
sich allein und würde nicht angesehn, wär ihre Nichte
nicht so liebenswürdig.
Den 15. März.
Ich habe einen Verdruß gehabt, der mich von hier
wegtreiben wird. Ich knirsche mit den Zähnen! Teufel! er ist
nicht zu ersetzen, und ihr seid doch allein schuld daran,
die ihr mich sporntet und triebt und quältet, mich in einen
Posten zu begeben, der nicht nach meinem Sinne war.
Nun habe ich's! nun habt ihr's! Und daß du nicht wieder
sagst, meine überspannten Ideen verdürben alles, so hast
du hier, lieber Herr, eine Erzählung, plan und nett, wie
ein Chronikenschreiber das aufzeichnen würde.
Der Graf von C... liebt mich, distinguiert mich, das ist
bekannt, das habe ich dir schon hundertmal gesagt. Nun
war ich gestern bei ihm zu Tafel, eben an dem Tage, da
abends die noble Gesellschaft von Herrn und Frauen bei
ihm zusammenkommt, an die ich nie gedacht habe, auch
mir nie aufgefallen ist, daß wir Subalternen nicht hinein
gehören. Gut. Ich speise bei dem Grafen und nach Tische
gehn wir in dem großen Saal auf und ab, ich rede mit ihm,
mit dem Obristen B..., der dazu kommt, und so rückt die
Stunde der Gesellschaft heran. Ich denke, Gott weiß, an
nichts. Da tritt herein die übergnädige Dame von S... mit
ihrem Herrn Gemahl und wohl ausgebrüteten Gänslein
Tochter, mit der flachen Brust und niedlichem Schnürleibe, machen
en passant ihre hergebrachten hochadelichen Augen und Naslöcher,
und wie mir die Nation von Herzen zuwider ist, wollte ich mich eben empfehlen und
wartete nur, bis der Graf vom garstigen Gewäsche frei
wäre, als meine Fräulein B... hereintrat. Da mir das Herz
immer ein bißchen aufgeht, wenn ich sie sehe, blieb ich
eben, stellte mich hinter ihren Stuhl, und bemerkte erst
nach einiger Zeit, daß sie mit weniger Offenheit als sonst,
mit einiger Verlegenheit mit mir redete. Das fiel mir auf.
Ist sie auch wie alle das Volk, dachte ich, und war angestochen
und wollte gehen, und doch blieb ich, weil ich sie
gerne entschuldigt hätte, und es nicht glaubte, und noch
ein gut Wort von ihr hoffte und - was du willst. Unterdessen
füllt sich die Gesellschaft. Der Baron F... mit der ganzen
Garderobe von den Krönungszeiten Franz des Ersten
her, der Hofrat R..., hier aber in qualitate Herr von R...
genannt, mit seiner tauben Frau etc., den übel fournierten
J... nicht zu vergessen, der die Lücken seiner altfränkischen
Garderobe mit neumodischen Lappen ausflickt, das
kommt zu Hauf, und ich rede mit einigen meiner Bekanntschaft,
die alle sehr lakonisch sind. Ich dachte - und
gab nur auf meine B... acht. Ich merkte nicht, daß die
Weiber am Ende des Saales sich in die Ohren flüsterten,
daß es auf die Männer zirkulierte, daß Frau von S... mit
dem Grafen redete (das alles hat mir Fräulein B... nachher erzählt),
bis endlich der Graf auf mich losging und mich in
ein Fenster nahm. - Sie wissen, sagte er, unsere wunderbaren Verhältnisse;
die Gesellschaft ist unzufrieden,
merke ich, Sie hier zu sehn. Ich wollte nicht um alles
Ihro Exzellenz, fiel ich ein, ich bitte tausendmal um Verzeihung;
ich hätte eher dran denken sollen, und ich weiß,
Sie vergeben mir diese Inkonsequenz; ich wollte schon
vorhin mich empfehlen, ein böser Genius hat mich
zurückgehalten, setzte ich lächelnd hinzu, indem ich mich
neigte. - Der Graf drückte meine Hände mit
einer Empfindung, die alles sagte.
Ich strich mich sacht aus der vornehmen Gesellschaft,
ging, setzte mich in ein Kabriolett,
und fuhr nach M..., dort vom Hügel die Sonne untergehen
zu sehen, und dabei in meinem Homer den herrlichen
Gesang zu lesen, wie Ulyß von dem trefflichen
Schweinhirten bewirtet wird. Das war alles gut.
Des Abends komme ich zurück zu Tische, es waren
noch wenige in der Gaststube; die würfelten auf einer
Ecke, hatten das Tischtuch zurückgeschlagen. Da kommt
der ehrliche Adelin hinein, legt seinen Hut nieder, indem
er mich ansieht, tritt zu mir und sagt leise: Du hast Verdruß
gehabt? - Ich? sagte ich. - Der Graf hat dich aus der
Gesellschaft gewiesen. - Hole sie der Teufel! sagt ich, mir
war's lieb, daß ich in die freie Luft kam. - Gut, sagte er,
daß du es auf die leichte Achsel nimmst. Nur verdrießt
mich's, es ist schon überall herum. - Da fing mich das
Ding erst an zu wurmen. Alle, die zu Tische kamen und
mich ansahen, dachte ich, die sehen dich darum an! Das
gab böses Blut.
Und da man nun heute gar, wo ich hintrete, mich
bedauert, da ich höre, daß meine Neider nun triumphieren und sagen:
da sähe mans, wo es mit den übermütigen
hinausginge, die sich ihres bißchen Kopfs überhöben und
glaubten, sich darum über alle Verhältnisse hinaussetzen
zu dürfen, und was des Hundegeschwätzes mehr ist - da
möchte man sich ein Messer ins Herz bohren; denn man
rede von Selbstständigkeit was man will, den will ich
sehen, der dulden kann, daß Schurken über ihn reden,
wenn sie einen Vorteil über ihn haben; wenn ihr
Geschwätze leer ist, ach, da kann man sie leicht lassen.
Am 9. Mai.
Ich habe die Wallfahrt nach meiner Heimat mit aller
Andacht eines Pilgrims vollendet, und manche unerwarteten
Gefühle haben mich ergriffen. An der großen Linde,
die eine Viertelstunde vor der Stadt nach S... zu steht, ließ
ich halten, stieg aus und hieß den Postillon fortfahren, um
zu Fuße jede Erinnerung ganz neu, lebhaft, nach meinem
Herzen zu kosten. Da stand ich nun unter der Linde, die
ehedem, als Knabe, das Ziel und die Grenze meiner Spaziergänge
gewesen. Wie anders! Damals sehnte ich mich
in glücklicher Unwissenheit hinaus in die unbekannte
Welt, wo ich für mein Herz so viele Nahrung, so vielen
Genuß hoffte, meinen strebenden, sehnenden Busen auszufüllen
und zu befriedigen. Jetzt komme ich zurück aus
der weiten Welt - o mein Freund, mit wie viel fehlgeschlagenen
Hoffnungen, mit wie viel zerstörten Planen! - Ich
sah das Gebirge vor mir liegen, das so tausendmal der
Gegenstand meiner Wünsche gewesen war. Stundenlang
konnt ich hier sitzen und mich hinüber sehnen, mit
inniger Seele mich in den Wäldern, den Tälern verlieren, die
sich meinen Augen so freundlich dämmernd darstellten;
und wenn ich dann um die bestimmte Zeit wieder zurück
mußte, mit welchem Widerwillen verließ ich nicht den
lieben Platz! - Ich kam der Stadt näher, alle die alten
bekannten Gartenhäuschen wurden von mir gegrüßt, die
neuen waren mir zuwider, so auch alle Veränderungen,
die man sonst vorgenommen hatte. Ich trat zum Tor hinein,
und fand mich doch gleich und ganz wieder. Lieber,
ich mag nicht ins Detail gehn; so reizend, als es mir war, so
einförmig würde es in der Erzählung werden. Ich hatte
beschlossen, auf dem Markte zu wohnen, gleich neben
unserem alten Hause. Im Hingehen bemerkte ich, daß die
Schulstube, wo ein ehrliches altes Weib unsere Kindheit
zusammengepfercht hatte, in einen Kramladen verwandelt war.
Ich erinnerte mich der Unruhe, der Tränen, der
Dumpfheit des Sinnes, der Herzensangst, die ich in dem
Loche ausgestanden hatte. - Ich tat keinen Schritt, der
nicht merkwürdig war. Ein Pilger im heiligen Lande trifft
nicht so viele Stätten religiöser Erinnerungen an, und
seine Seele ist schwerlich so voll heiliger Bewegung. -
Noch eins für tausend. Ich ging den Fluß hinab, bis an
einen gewissen Hof; das war sonst auch mein Weg, und
die Plätzchen, wo wir Knaben uns übten, die meisten
Sprünge der flachen Steine im Wasser hervorzubringen.
Ich erinnerte mich so lebhaft, wenn ich manchmal stand
und dem Wasser nachsah, mit wie wunderbaren Ahnungen ich
es verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die Gegenden
vorstellte, wo es nun hinflösse, und wie ich da so bald
Grenzen meiner Vorstellungskraft fand; und doch mußte
das weiter gehen, immer weiter, bis ich mich ganz in dem
Anschauen einer unsichtbaren Ferne verlor. - Sieh, mein
Lieber, so beschränkt und so glücklich waren
die herrlichen Altväter! so kindlich ihr Gefühl, ihre Dichtung!
Wenn Ulyß von dem ungemeßnen Meer und von der
unendlichen Erde spricht, das ist so wahr, menschlich,
innig, eng und geheimnisvoll. Was hilft mich's, daß ich
jetzt mit jedem Schulknaben nachsagen kann, daß sie rund
sei? Der Mensch braucht nur wenige Erdschollen, um
drauf zu genießen, weniger, um drunter zu ruhen.
Nun bin ich hier, auf dem fürstlichen Jagdschloß. Es
läßt sich noch ganz wohl mit dem Herrn leben, er ist wahr
und einfach. Wunderliche Menschen sind um ihn herum,
die ich gar nicht begreife. Sie scheinen keine Schelmen und
haben doch auch nicht das Ansehen von ehrlichen Leuten.
Manchmal kommen sie mir ehrlich vor und ich kann ihnen
doch nicht trauen. Was mir noch leid tut, ist, daß er oft
von Sachen redet, die er nur gehört und gelesen hat, und
zwar aus eben dem Gesichtspunkte, wie sie ihm der
andere vorstellen mochte.
Auch schätzt er meinen Verstand und meine Talente
mehr als dies Herz, das doch mein einziger Stolz ist, das
ganz allein die Quelle von allem ist, aller Kraft, aller
Seligkeit und alles Elendes. Ach, was ich weiß, kann jeder
wissen - mein Herz habe ich allein.
Am 4. September.
Ja, es ist so. Wie die Natur sich zum Herbste neigt, wird es
Herbst in mir und um mich her. Meine Blätter werden
gelb und schon sind die Blätter der benachbarten Bäume
abgefallen. Hab ich dir nicht einmal von einem Bauerburschen
geschrieben, gleich da ich herkam? Jetzt erkundigte
ich mich wieder nach ihm in Wahlheim; es hieß, er sei
aus dem Dienste gejagt worden, und niemand wollte
was weiter von ihm wissen. Gestern traf ich ihn von
ungefähr auf dem Wege nach einem andern Dorfe, ich
redete ihn an und er erzählte mir seine Geschichte, die
mich doppelt und dreifach gerührt hat, wie du leicht
begreifen wirst, wenn ich dir sie wieder erzähle. Doch
wozu das alles? warum behalt ich nicht für mich, was
mich ängstigt und kränkt? warum betrüb ich noch
dich? warum geb ich dir immer Gelegenheit, mich zu
bedauern und mich zu schelten? Seis denn, auch das
mag zu meinem Schicksal gehören!
Mit einer stillen Traurigkeit, in der ich ein wenig
scheues Wesen zu bemerken schien, antwortete der
Mensch mir erst auf meine Fragen; aber gar bald offner,
als wenn er sich und mich auf einmal wieder erkennte,
gestand er mir seine Fehler, klagte er mir sein Unglück.
Könnt ich dir, mein Freund, jedes seiner Worte vor
Gericht stellen! Er bekannte, ja, er erzählte mit einer Art
von Genuß und Glück der Wiedererinnerung, daß die
Leidenschaft zu seiner Hausfrau sich in ihm tagtäglich
vermehrt, daß er zuletzt nicht gewußt habe, was er tue,
nicht, wie er sich ausdrückte, wo er mit dem Kopfe hingesollt?
Er habe weder essen noch trinken noch schlafen
können, es habe ihm an der Kehle gestockt, er habe getan,
was er nicht tun sollen, was ihm aufgetragen worden, hab
er vergessen, er sei als wie von einem bösen Geist verfolgt
gewesen, bis er eines Tags, als er sie in einer obern Kammer
gewußt, ihr nachgegangen, ja vielmehr ihr nachgezogen
worden sei; da sie seinen Bitten kein Gehör gegeben,
hab er sich ihrer mit Gewalt bemächtigen wollen, er wisse
nicht, wie ihm geschehen sei, und nehme Gott zum Zeugen, daß
seine Absichten gegen sie immer redlich gewesen, und daß
er nichts sehnlicher gewünscht, als daß sie
ihn heiraten, daß sie mit ihm ihr Leben zubringen möchte.
Da er eine Zeitlang geredet hatte, fing er an zu stocken wie
einer, der noch etwas zu sagen hat und sich es nicht herauszusagen
getraut; endlich gestand er mir auch mit
Schüchternheit, was sie ihm für kleine Vertraulichkeiten
erlaubt, und welche Nähe sie ihm vergönnet. Er brach
zwei-, dreimal ab und wiederholte die lebhaftesten Protestationen,
daß er das nicht sage, um sie schlecht zu
machen, wie er sich ausdrückte, daß er sie liebe und
schätze wie vorher, daß so etwas nicht über seinen Mund
gekommen sei, und daß er es mir nur sage, um mich zu
überzeugen, daß er kein ganz verkehrter und unsinniger
Mensch sei. - Und hier, mein Bester, fang ich mein altes
Lied wieder an, das ich ewig anstimmen werde: könnt ich
dir den Menschen vorstellen, wie er vor mir stand, wie er
noch vor mir steht! Könnt ich dir alles recht sagen, damit
du fühltest, wie ich an seinem Schicksale teilnehme,
teilnehmen muß! Doch genug, da du auch mein Schicksal
kennst, auch mich kennst, so weißt du nur zu wohl, was
mich zu allen Unglücklichen, was mich besonders zu
diesem Unglücklichen hinzieht.
Da ich das Blatt wieder durchlese, seh ich, daß ich das
Ende der Geschichte zu erzählen vergessen habe, das sich
aber leicht hinzudenken läßt. Sie erwehrte sich sein; ihr
Bruder kam dazu, der ihn schon lange gehaßt, der ihn
schon lange aus dem Hause gewünscht hatte, weil er
fürchtet, durch eine neue Heirat der Schwester werde
seinen Kindern die Erbschaft entgehn, die ihnen jetzt, da sie
kinderlos ist, schöne Hoffnungen gibt; dieser habe ihn
gleich zum Hause hinausgestoßen und einen solchen
Lärm von der Sache gemacht, daß die Frau, auch selbst
wenn sie gewollt, ihn nicht wieder hätte aufnehmen
können. Jetzt habe sie wieder einen andern Knecht
genommen, auch über den, sage man, sei sie mit dem Bruder
zerfallen, und man behaupte für gewiß,
sie werde ihn heiraten, aber er sei fest
entschlossen, das nicht zu erleben.
Was ich dir erzähle, ist nicht übertrieben,
nichts verzärtelt, ja ich darf wohl sagen, schwach, schwach hab ich's
erzählt und vergröbert hab ich's, indem ich's mit unsern
hergebrachten sittlichen Worten vorgetragen habe.
- Diese Liebe, diese Treue, diese Leidenschaft ist also
keine dichterische Erfindung. Sie lebt, sie ist in ihrer größten Reinheit
unter der Klasse von Menschen, die wir
ungebildet, die wir roh nennen. Wir Gebildeten - zu
Nichts Verbildeten! Lies die Geschichte mit Andacht, ich
bitte dich. Ich bin heute still, indem ich das hinschreibe;
du siehst an meiner Hand, daß ich nicht so strudele und
sudele wie sonst. Lies, mein Geliebter, und denke dabei,
daß es auch die Geschichte deines Freundes ist. Ja, so ist
mir's gegangen, so wird mir's gehn, und ich bin nicht halb
so brav, nicht halb so entschlossen als der arme Unglückliche,
mit dem ich mich zu vergleichen mich fast nicht
getraue.
Am 30. November.
Ich soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen! wo ich
hintrete, begegnet mir eine Erscheinung, die mich aus
aller Fassung bringt. Heute! o Schicksal! o Menschheit!
Ich gehe an dem Wasser hin in der Mittagsstunde, ich
hatte keine Lust zu essen. Alles war öde, ein naßkalter
Abendwind blies vom Berge, und die grauen Regenwolken zogen das Tal
hinein. Von fern seh ich einen Menschen in einem grünen schlechten
Rocke, der zwischen den Felsen herumkrabbelte und Kräuter zu
suchen schien. Als ich näher zu ihm kam und er sich auf das
Geräusch, das ich machte, herumdrehte, sah ich eine gar interessante
Physiognomie, darin eine stille Trauer den Hauptzug machte, die
aber sonst nichts als einen geraden guten Sinn ausdrückte;
seine schwarzen Haare waren mit Nadeln in zwei Rollen gesteckt
und die übrigen in einen starken Zopf geflochten, der
ihm den Rücken herunter hing. Da mir seine Kleidung einen
Menschen von geringem Stande zu bezeichnen schien, glaubte ich,
er würde es nicht übel nehmen, wenn ich auf seine
Beschäftigung aufmerksam wäre, und daher fragte ich
ihn, was er suchte? - Ich suche, antwortete er mit einem tiefen
Seufzer, Blumen - und finde keine. - Das ist auch die Jahrszeit nicht, sagte ich
lächelnd. - Es gibt so viele Blumen, sagte er, indem er zu
mir herunter kam. In meinem Garten sind Rosen und
Jelängerjelieber zweierlei Sorten, eine hat mir mein Vater
gegeben, sie wachsen wie Unkraut; ich suche schon zwei
Tage darnach und kann sie nicht finden. Da haußen sind
auch immer Blumen, gelbe und blaue und rote, und das
Tausendgüldenkraut hat ein schönes Blümchen. Keines
kann ich finden. - Ich merkte was Unheimliches, und drum fragte
ich durch einen Umweg: Was will Er denn mit den Blumen? Ein wunderbares
zuckendes Lächeln verzog sein Gesicht. - Wenn Er mich nicht verraten will,
sagte er, indem er den Finger auf den Mund drückte, ich
habe meinem Schatz einen Strauß versprochen. - Das ist
brav, sagte ich. - O, sagte er, sie hat viel andere Sachen, sie
ist reich. - Und doch hat sie Seinen Strauß lieb, versetzte
ich. - O! fuhr er fort, sie hat Juwelen und eine Krone. -
Wie heißt sie denn? - Wenn mich die Generalstaaten
bezahlen wollten, versetzte er, ich wär ein anderer
Mensch! Ja, es war einmal eine Zeit, da mir es so wohl
war! Jetzt ist es aus mit mir. Ich bin nun - Ein nasser Blick
zum Himmel drückte alles aus. - Er war also glücklich?
fragte ich. - Ach ich wollte, ich wäre wieder so! sagte er.
Da war mir es so wohl, so lustig, so leicht wie einem Fisch
im Wasser! - Heinrich! rief eine alte Frau, die den Weg
herkam, Heinrich, wo steckst du? wir haben dich überall
gesucht, komm zum Essen! - Ist das Euer Sohn? fragt ich,
zu ihr tretend. - Wohl, mein armer Sohn! versetzte sie.
Gott hat mir ein schweres Kreuz aufgelegt. - Wie lange ist
er so? fragte ich. - So stille, sagte sie, ist er nun ein halbes
Jahr. Gott sei Dank, daß er nur so weit ist, vorher war er
ein ganzes Jahr rasend, da hat er an Ketten im Tollhause
gelegen. Jetzt tut er niemand nichts, nur hat er immer mit
Königen und Kaisern zu schaffen. Es war ein so guter
stiller Mensch, der mich ernähren half, seine schöne Hand
schrieb, und auf einmal wird er tiefsinnig, fällt in ein
hitziges Fieber, daraus in Raserei, und nun ist er wie Sie ihn
sehen. Wenn ich Ihnen erzählen sollte, Herr - Ich unterbrach
den Strom ihrer Worte mit der Frage: Was war denn das für
eine Zeit, von der er rühmt, daß er so glücklich, so
wohl darin gewesen sei? - Der törichte Mensch! rief sie
mit mitleidigem Lächeln, da meint er die Zeit, da er von
sich war, das rühmt er immer; das ist die Zeit, da er im
Tollhause war, wo er nichts von sich wußte - Das fiel mir
auf wie ein Donnerschlag, ich drückte ihr ein Stück Geld
in die Hand und verließ sie eilend.
Da du glücklich warst! rief ich aus, schnell vor mich hin
nach der Stadt zu gehend, da dir es wohl war wie einem
Fisch im Wasser! - Gott im Himmel! hast du das zum
Schicksale der Menschen gemacht, daß sie nicht glücklich
sind, als ehe sie zu ihrem Verstande kommen und wenn sie
ihn wieder verlieren! - Elender! und auch wie beneide ich
deinen Trübsinn, die Verwirrung deiner Sinne, in der du
verschmachtest! Du gehst hoffnungsvoll aus, deiner
Königin Blumen zu pflücken - im Winter - und trauerst,
da du keine findest, und begreifst nicht, warum du keine
finden kannst. Und ich - und ich gehe ohne Hoffnung,
ohne Zweck heraus, und kehre wieder heim wie ich
gekommen bin. - Du wähnst, welcher Mensch du sein
würdest, wenn die Generalstaaten dich bezahlten. Seliges
Geschöpf! das den Mangel seiner Glückseligkeit einer
irdischen Hindernis zuschreiben kann. Du fühlst nicht!
du fühlst nicht, daß in deinem zerstörten Herzen,
in deinem zerrütteten Gehirne dein Elend liegt, wovon alle
Könige der Erde dir nicht helfen können.
Müsse der trostlos umkommen, der eines Kranken
spottet, der nach der entferntesten Quelle reist, die seine
Krankheit vermehren, sein Ausleben schmerzhafter
machen wird! der sich über das bedrängte Herz erhebt,
das, um seine Gewissensbisse los zu werden und die Leiden
seiner Seele abzutun, eine Pilgrimschaft nach dem
heiligen Grabe tut. Jeder Fußtritt, der seine Sohlen auf
ungebahntem Wege durchschneidet, ist ein Linderungstropfen
der geängsteten Seele, und mit jeder ausgedauerten
Tagereise legt sich das Herz um viele Bedrängnisse
leichter nieder. - Und dürft ihr das Wahn nennen, ihr
Wortkrämer auf euren Polstern? - Wahn! - O Gott! du
siehst meine Tränen! Mußtest du, der du den Menschen
arm genug erschufst, ihm auch Brüder zugeben, die ihm
das bißchen Armut, das bißchen Vertrauen noch raubten,
das er auf dich hat, auf dich, du Alliebender! Denn das
Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu den Tränen des
Weinstockes, was ist es als Vertrauen zu dir, daß du in
alles, was uns umgibt, Heil- und Linderungskraft gelegt
hast, der wir so stündlich bedürfen? Vater! den ich nicht
kenne! Vater! der sonst meine ganze Seele füllte, und nun
sein Angesicht von mir gewendet hat! rufe mich zu dir!
schweige nicht länger! dein Schweigen wird diese
dürstende Seele nicht aufhalten - Und würde ein Mensch, ein
Vater zürnen können, dem sein unvermutet
rückkehrender Sohn um den Hals fiele und riefe: Ich bin wieder da,
mein Vater! Zürne nicht, daß ich die Wanderschaft
abbreche, die ich nach deinem Willen länger aushalten sollte.
Die Welt ist überall einerlei, auf Mühe und Arbeit Lohn
und Freude; aber was soll mir das? mir ist nur wohl, wo du
bist, und vor deinem Angesichte will ich leiden und genießen. -
Und du, lieber himmlischer Vater, solltest ihn von
dir weisen?