Sie sieht nicht, sie fühlt nicht, daß sie ein Gift bereitet, das
mich und sie zugrunde richten wird; und ich mit voller
Wollust schlürfe den Becher aus, den sie mir zu meinem
Verderben reicht. Was soll der gütige Blick, mit dem sie
mich oft - oft? - nein, nicht oft, aber doch manchmal
ansieht, die Gefälligkeit, womit sie einen unwillkürlichen
Ausdruck meines Gefühles aufnimmt, das Mitleiden mit
meiner Duldung, das sich auf ihrer Stirne zeichnet?
Gestern, als ich wegging, reichte sie mir die Hand und
sagte: Adieu, lieber Werther! - Lieber Werther! Es war
das erstemal, daß sie mich Lieber hieß, und es ging mir
durch Mark und Bein. Ich habe es mir hundertmal wiederholt und gestern
nacht, da ich zu Bette gehen wollte, und
mit mir selbst allerlei schwatzte, sagte ich so auf einmal:
Gute Nacht, lieber Werther! und mußte hernach selbst
über mich lachen.
