
Sie ist immer um ihre sterbende Freundin, und ist immer
dieselbe, immer das gegenwärtige holde Geschöpf, das,
wo sie hinsieht, Schmerzen lindert und Glückliche macht.
Sie ging gestern abend mit Mariannen und dem kleinen
Malchen spazieren, ich wußte es und traf sie an, und wir
gingen zusammen. Nach einem Wege von anderthalb
Stunden kamen wir gegen die Stadt zurück, an den Brunnen,
der mir so wert und nun tausendmal werter ist. Lotte
setzte sich auf's Mäuerchen, wir standen vor ihr. Ich sah
umher, ach! und die Zeit, da mein Herz so allein war,
lebte wieder vor mir auf. - Lieber Brunnen, sagte ich,
seither hab ich nicht mehr an deiner Kühle geruht, hab in
eilendem Vorübergehn dich manchmal nicht angesehn.
Ich blickte hinab und sah, daß Malchen mit einem Glase
Wasser sehr beschäftigt heraufstieg. - Ich sah Lotten an,
und fühlte alles, was ich an ihr habe. Indem kommt Malchen
mit einem Glase. Marianne wollt es ihr abnehmen:
Nein! rief das Kind mit dem süßesten Ausdrucke, nein,
Lottchen, du sollst zuerst trinken! - Ich ward über die
Wahrheit, über die Güte, womit sie das ausrief, so
entzückt, daß ich meine Empfindung mit nichts ausdrükken
konnte, als ich nahm das Kind von der Erde, und
küßte es lebhaft, das sogleich zu schreien und zu weinen
anfing. - Sie haben übel getan, sagte Lotte. - Ich war
betroffen. - Komm, Malchen, fuhr sie fort, indem sie es
bei der Hand nahm und die Stufen hinabführte, da
wasche dich aus der frischen Quelle, geschwind, geschwind, da tuts nichts. -
Wie ich so dastand und zusah, mit welcher Emsigkeit das Kleine mit seinen
nassen Händchen die Backen rieb, mit welchem Glauben,
daß durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgespült,
und die Schmach abgetan würde, einen häßlichen
Bart zu kriegen; wie Lotte sagte, es ist genug, und das
Kind doch immer eifrig fortwusch, als wenn Viel mehr
täte als Wenig. - Ich sage dir, Wilhelm, ich habe mit
mehr Respekt nie einer Taufhandlung beigewohnt - und
als Lotte heraufkam, hätte ich mich gern vor ihr
niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden
einer Nation weggeweiht hat.