
Was Lotte einem Kranken sein muß, fühl ich an meinem
eigenen armen Herzen, das übler dran ist als manches, das
auf dem Siechbette verschmachtet. Sie wird einige Tage in
der Stadt bei einer rechtschaffnen Frau zubringen, die sich
nach der Aussage der Ärzte ihrem Ende naht, und in diesen
letzten Augenblicken Lotten um sich haben will. Ich
war vorige Woche mit ihr den Pfarrer von St.. zu besuchen;
ein Örtchen, das eine Stunde seitwärts im Gebirge
liegt. Wir kamen gegen vier dahin. Lotte hatte ihre zweite
Schwester mitgenommen. Als wir in den mit zwei hohen
Nußbäumen überschatteten Pfarrhof traten, saß der gute
alte Mann auf einer Bank vor der Haustür, und da er
Lotten sah, ward er wie neu belebt, vergaß seinen
Knotenstock, und wagte sich auf, ihr entgegen. Sie lief hin zu
ihm, nötigte ihn sich niederzulassen, indem sie sich zu
ihm setzte, brachte viele Grüße von ihrem Vater, herzte
seinen garstigen, schmutzigen, jüngsten Buben, das
Quakelchen seines Alters. Du hättest sie sehen sollen, wie sie
den Alten beschäftigte, wie sie ihre Stimme erhob, um
seinen halb tauben Ohren vernehmlich zu werden, wie sie
ihm von jungen robusten Leuten erzählte, die unvermutet
gestorben wären, von der Vortrefflichkeit des Karlsbades,
und wie sie seinen Entschluß lobte, künftigen Sommer
hinzugehen, wie sie fand, daß er viel besser aussähe, viel
munterer sei als das letztemal, da sie ihn gesehn. - Ich
hatte indes der Frau Pfarrerin meine Höflichkeiten gemacht.
Der Alte wurde ganz munter, und da ich nicht
umhin konnte, die schönen Nußbäume zu loben, die uns
so lieblich beschatteten, fing er an, uns, wiewohl mit
einiger Beschwerlichkeit, die Geschichte davon zu geben.
- Den alten, sagte er, wissen wir nicht, wer den gepflanzt
hat: einige sagen dieser, andere jener Pfarrer. Der jüngere
aber dort hinten ist so alt als meine Frau, im Oktober
funfzig Jahr. Ihr Vater pflanzte ihn des Morgens, als sie
gegen Abend geboren wurde. Er war mein Vorfahr im
Amt, und wie lieb ihm der Baum war, ist nicht zu sagen;
mir ist ers gewiß nicht weniger. Meine Frau saß darunter
auf einem Balken und strickte, da ich vor siebenundzwanzig
Jahren als ein armer Student zum erstenmale hier in
den Hof kam. - Lotte fragte nach seiner Tochter: es hieß,
sie sei mit Herrn Schmidt auf die Wiese hinaus zu den
Arbeitern, und der Alte fuhr in seiner Erzählung fort: wie
sein Vorfahr ihn lieb gewonnen und die Tochter dazu,
und wie er erst sein Vikar, und dann sein Nachfolger
geworden. Die Geschichte war nicht lange zu Ende, als
die Jungfer Pfarrerin mit dem sogenannten Herrn Schmidt
durch den Garten herkam: sie bewillkommte Lotten mit
herzlicher Wärme, und ich muß sagen, sie gefiel mir nicht
übel; eine rasche wohlgewachsene Brünette, die einen die
kurze Zeit über auf dem Lande wohl unterhalten hätte.
Ihr Liebhaber (denn als solcher stellte sich Herr Schmidt
gleich dar), ein feiner, doch stiller Mensch, der sich nicht
in unsere Gespräche mischen wollte, ob ihn gleich Lotte
immer hereinzog. Was mich am meisten betrübte, war,
daß ich an seinen Gesichtszügen zu bemerken schien, es
sei mehr Eigensinn und übler Humor als Eingeschränktheit
des Verstandes, der ihn sich mitzuteilen hinderte. In
der Folge ward dies leider nur zu deutlich; denn als Friederike
beim Spazierengehen mit Lotten und gelegentlich
auch mit mir ging, wurde des Herrn Angesicht, das ohnedies
einer bräunlichen Farbe war, so sichtlich verdunkelt,
daß es Zeit war, daß Lotte mich beim Ärmel zupfte und
mir zu verstehn gab, daß ich mit Friederiken zu artig
getan. Nun verdrießt mich nichts mehr, als wenn die
Menschen einander plagen, am meisten, wenn junge
Leute in der Blüte des Lebens, da sie am offensten für alle
Freuden sein könnten, einander die paar guten Tage mit
Fratzen verderben, und nur erst zu spät das Unersetzliche
ihrer Verschwendung einsehen. Mich wurmte das und ich
konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof
zurückkehrten und an einem Tische Milch aßen, und das
Gespräch auf Freude und Leid der Welt sich wendete, den
Faden zu ergreifen und recht herzlich gegen die üble
Laune zu reden. - Wir Menschen beklagen uns oft, fing
ich an, daß der guten Tage so wenig sind und der
schlimmen so viel, und wie mich dünkt, meist mit Unrecht.
Wenn wir immer ein offenes Herz hätten, das Gute zu
genießen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir würden
alsdann auch Kraft genug haben, das übel zu tragen,
wenn es kommt. - Wir haben aber unser Gemüt nicht in
unserer Gewalt, versetzte die Pfarrerin: wie viel hängt
vom Körper ab! wenn einem nicht wohl ist, ist's einem
überall nicht recht. - Ich gestand ihr das ein. - Wir wollen
es also, fuhr ich fort, als eine Krankheit ansehen und fragen,
ob dafür kein Mittel ist? - Das läßt sich hören, sagte
Lotte: ich glaube wenigstens, daß viel von uns abhängt.
Ich weiß es an mir. Wenn mich etwas neckt und mich
verdrießlich machen will, spring ich auf, und sing ein
paar Contretänze den Garten auf und ab, gleich ist's weg.
Das war's, was ich sagen wollte, versetzte ich: es ist mit
der üblen Laune völlig wie mit der Trägheit, denn es ist
eine Art von Trägheit. Unsere Natur hängt sehr dahin,
und doch, wenn wir nur einmal die Kraft haben, uns zu
ermannen, geht uns die Arbeit frisch von der Hand, und
wir finden in der Tätigkeit ein wahres Vergnügen. -
Friederike war sehr aufmerksam, und der junge Mensch
wandte mir ein: daß man nicht Herr über sich selbst sei,
und am wenigsten über seine Empfindungen gebieten
könne. - Es ist hier die Frage von einer unangenehmen
Empfindung, versetzte ich, die doch jedermann gerne los
ist; und niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen, bis er
sie versucht hat. Gewiß, wer krank ist, wird bei allen
Ärzten herumfragen, und die größten Resignationen, die
bittersten Arzeneien wird er nicht abweisen, um seine
gewünschte Gesundheit zu erhalten. - Ich bemerkte, daß
der ehrliche Alte sein Gehör anstrengte, um an unserm
Diskurse teilzunehmen, ich erhob die Stimme, indem ich
die Rede gegen ihn wandte: Man predigt gegen so viele
Laster, sagte ich, ich habe noch nie gehört, daß man gegen
die üble Laune vom Predigtstuhle gearbeitet hätte.* - Das
müßten die Stadtpfarrer tun, sagte er, die Bauern haben
keinen bösen Humor; doch könnte es auch zuweilen nicht
schaden, es wäre eine Lektion für seine Frau wenigstens
und für den Herrn Amtmann. - Die Gesellschaft lachte,
und er herzlich mit, bis er in einen Husten verfiel, der
unsern Diskurs eine Zeitlang unterbrach; darauf denn der
junge Mensch wieder das Wort nahm: Sie nannten den
bösen Humor ein Laster; mich deucht, das ist übertrieben. -
Mitnichten, gab ich zur Antwort, wenn das, womit
man sich selbst und seinem Nächsten schadet, diesen
Namen verdient. Ist es nicht genug, daß wir einander
nicht glücklich machen können, müssen wir auch noch
einander das Vergnügen rauben, das jedes Herz sich noch
manchmal selbst gewähren kann? Und nennen Sie mir den
Menschen, der übler Laune ist und so brav dabei, sie zu
verbergen, sie allein zu tragen, ohne die Freude um sich
her zu zerstören! Oder ist sie nicht vielmehr ein innerer
Unmut über unsere eigene Unwürdigkeit, ein Mißfallen
an uns selbst, das immer mit einem Neide verknüpft ist,
der durch eine törichte Eitelkeit aufgehetzt wird? Wir
sehen glückliche Menschen, die wir nicht glücklich
machen, und das ist unerträglich. - Lotte lächelte mich an,
da sie die Bewegung sah, mit der ich redete, und eine
Träne in Friederikens Auge spornte mich fortzufahren.
Wehe denen, sagte ich, die sich der Gewalt bedienen, die
sie über ein Herz haben, um ihm die einfachen Freuden zu
rauben, die aus ihm selbst hervorkeimen. Alle Geschenke,
alle Gefälligkeiten der Welt ersetzen nicht einen Augenblick
Vergnügen an sich selbst, den uns eine neidische
Unbehaglichkeit unsers Tyrannen vergällt hat.