Für die letzten Stunden Werthers hat sich Goethe an einen ausführlichen
Bericht über Jerusalems Ende angelehnt, den Johann Christian Kestner ihm im November
1772 geschickt hatte. Die betreffenden Passagen daraus lauten:
Jerusalem ist die ganze Zeit seines hiesigen Aufenthalts mißvergnügt gewesen,
es sei nun überhaupt wegen der Stelle, die er hier bekleidete und daß ihm
gleich anfangs (bei Graf Bassenheim) der Zutritt in den großen Gesellschaften
auf eine unangenehme Art versagt worden, oder insbesondere wegen des
Braunschweigischen Gesandten, mit dem er bald nach seiner Ankunft kundbar
heftige Streitigkeiten hatte... Neben dieser Unzufriedenheit war er auch in
des Pfälzischen Sekretärs H. (=Herd) Frau verliebt. Ich glaube nicht, daß diese zu
dergleichen Galanterien aufgelegt ist; mithin, da der Mann noch dazu sehr
eifersüchtig ist, mußte diese Liebe vollends seiner Zufriedenheit und Ruhe
den Stoß geben. - Er entzog sich allezeit der menschlichen Gesellschaft und
den übrigen Zeitvertreiben und Zerstreuungen, liebte einsame Spaziergänge
im Mondenscheine, ging oft viele Meilen weit und hing da seinem Verdruß und
seiner Liebe ohne Hoffnung nach... Ein paar Tage vor dem unglücklichen,
da die Rede vom Selbstmorde war, sagte er zu Schleunitz, es müsse aber
doch eine dumme Sache sein, wenn das Erschießen mißriete... Diesen Nachmittag
(Mittwochs) ist Jerusalem allein bei H.s gewesen, was da vorgefallen, weiß
man nicht; vielleicht liegt hierin der Grund zum Folgenden... Donnerstags...
isset er zu Haus, schickt um 1 Uhr ein Billet an mich... Ich war inzwischen
zu Haus gekommen, es mochte l/2 4 Uhr sein, als ich das Billet bekam: "Dürfte
ich Ew. Wohlgeb. wohl zu einer vorhabenden Reise um Ihre Pistolen gehorsamst
ersuchen? J." - Da ich nun von alle dem vorher Erzählten und von seinen
Grundsätzen nichts wußte, indem ich nie besonderen Umgang mit ihm gehabt -
so hatte ich nicht den mindesten Anstand, ihm die Pistolen sogleich zu schicken...