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Am 20. Oktober 1771.
Während das erste Buch des 'Werther' weitgehend Goethes Wetzlarer Erlebnis entspricht, lehnt sich das zweite stärker an das Schicksal von Karl Wilhelm Jerusalem an. Jerusalem, geboren 1747 in Wolfenbüttel, war der Sohn des hochangesehenen Braunschweigischen Abtes und Hofpredigers Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709-1789). Er hatte in Leipzig und Göttingen Jura studiert und wurde mit 24 Jahren vom Herzog von Braunschweig als Sekretär des Braunschweigischen Gesandten nach Wetzlar entsandt. Anders als Goethe hatte er hier also eine feste amtliche Stellung und war deshalb auch weit mehr als dieser in das gesellschaftliche Reglement des Reichskammergerichtes eingebunden. (Der Name Jerusalem deutet übrigens nicht - wie vermutet werden könnte - auf eine jüdische Abkunft hin. Die Familie stammte aus Holland, wo es noch heute viele Träger dieses Namens gibt.)
Mit diesen Zwängen kam er jedoch nicht zurecht. Gotthold Ephraim Lessing, der ihn 1770 in Wolfenbüttel kennen gelernt hatte, schrieb 1776 über ihn:
... gleichwohl wüßte ich nicht, daß ich einen Menschen in Jahr und Tag lieber gewonnen hätte als ihn. Und dazu lernte ich ihn eigentlich nur von einer Seite kennen... Es war die Neigung zu deutlicher Erkenntnis; das Talent, die Wahrheit bis in ihre letzten Schlupfwinkel zu verfolgen. Es war der Geist der kalten Betrachtung. Aber ein warmer Geist, und so viel schätzbarer; der sich nicht abschrecken ließ, wenn ihm die Wahrheit auf seinen Verfolgungen öfters entwischte.
Wegen seiner - auch respektlosen - Wahrheitsliebe eckte Jerusalem von Anfang an bei dem ihm vorgesetzten Gesandten an. Schon dass er seine am 19. August 1771 ausgefertigte Bestallungs-Urkunde nicht akzeptieren wollte, weil sie die Auflage enthielt, er habe "überflüssige Gesellschaften" zu meiden, führte zu Differenzen, auch wenn der Herzog mit Rücksicht auf die Stellung seines Vaters die Passage dann streichen ließ.
Aber auch eine gewisse Überheblichkeit und seine spöttischen Urteile - die Wurzel gerade von Lessings Sympathie - erregten Anstoß. Über seinen Vetter, den berühmten Schrifsteller Justus Möser, urteilte er: "Kurz ein vortrefflicher Mann, nur schade daß er das einzige Genie in Osnabrück ist und vielleicht innerhalb zehn Meilen nach allen vier Winden gerechnet." Und über Goethe, dem er schon in Leipzig begegnet war: "Er war zu unserer Zeit in Leipzig ein Geck, jetzt ist er noch außerdem Frankfurter Zeitungsschreiber".
Karl Wilhelm Jerusalem (1747-1772). Pastellbild. (Städtische Sammlungen Wetzlar)

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