Von diesem Teil an verläuft die Zweitfassung mit der Erstfassung wieder parallel,
wenn auch unter Fortsetzung der zuvor schon angelegten anderen Bewertung des
Verhaltens von Albert und Lotte. Das zeigen insbesondere die folgenden Passagen:
dass Albert wegen einiger Aufträge Lotte "spizze Reden gab, die Werthern durchs
Herz giengen" wird abgeschwächt zu der Form, dass er ihr "einige Worte sagte,
die Werthern kalt, ja gar hart vorkamen";
"da ihm denn Albert ein unbedeutend Kompliment ... mit auf den Weg gab"
wird abgeschwächt zu der Form, dass Werther "nur ein unbedeutendes Kompliment zu
hören glaubte";
Die Dienstreise Alberts, in der Erstfassung aus Argwohn gegen Lotte
verschoben und erst, da Werthers Abwesenheit gesichert erscheint, als "Pantomime"
inszeniert, wird in der Zweitfassung ohne Hintergedanken angetreten.
Lottes Nachdenken über Werther, in der Erstfassung nur mit dem Satz umrissen,
dass er in ihrem Herzen einen 'unauslöschlichen Eindruck' hinterlassen habe,
wird in der Zweitfassung durch eine längere Reflexion darüber ersetzt,
wie sie auf ihn verzichten und ihn gleichzeitig für sich behalten könne.
Damit wird sowohl ihre Neigung für ihn eingestanden als auch ihr guter Wille betont,
"sein Verhältnis gegen Albert ganz wieder herzustellen".
Als Lotte, um nicht mit Werther allein sein zu müssen, vergeblich nach zwei
Freundinnnen ausgeschickt hat, empört sich in der Erstfassung "das Gefühl
ihrer Unschuld mit einigem Stolz" gegen diese Vorsicht. Sie will "Alberts
Grillen Truz" bieten, ist sich der "Reinheit ihres Herzens" sicher und
spielt zu ihrer Beruhigung etwas auf dem Klavier. In der Zweitfassung hingegen
bleibt sie unsicher, sieht sich weniger im Recht und kann sich auch durch
das Klavierspiel nicht ablenken.
So ist Lotte das Heikle ihrer Situation und auch ihre Verführbarkeit in der
Zweitfassung entschieden deutlicher als in der Erstfassung bewusst und damit auch ihr Verhalten in Umarmungs-Szene bei der Ossian-Lektüre besser vorbereitet.