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Die Grundlage des Schlussteiles des Romans ist ein ausführlicher Bericht von Jerusalems Ende, den Johann Christian Kestner im November 1772 an Goethe geschickt hat. Die wichtigsten Passagen daraus, an die sich Goethe zumal in den lakonischen Schlusssätzen wörtlich anlehnt, lauten:
Den ganzen Nachmittag war Jerusalem für sich allein beschäftigt, kramte in seinen Papieren, schrieb, ging, wie die Leute unten im Hause gehört, oft im Zimmer heftig auf und nieder. Er ist auch verschiedene Mal ausgegangen, hat seine kleinen Schulden... bezahlt. .. Etwa um 7 Uhr kam der Italiänische Sprachmeister zu ihm. Dieser fand ihn unruhig und verdrießlich. Er klagte, daß er seine Hypochondrie wieder stark habe, und über mancherley; erwähnt auch, daß das Beste sey, sich aus der Welt zu schicken. Der Italiäner redet ihm sehr zu, man müsse dergleichen Passionen durch die Philosophie zu unterdrücken suchen etc. Jerusalem: das ließe sich nicht so thun; er wäre heute lieber allein, er möchte ihn verlassen. Der Italiäner: er müsse in Gesellschaft gehen, sich zerstreuen etc. Jerusalem: er gienge auch noch aus. - Der Italiener, der auch die Pistolen auf dem Tische liegen gesehen, besorgt den Erfolg, geht um halb acht Uhr weg und zu Kielmansegge, da er denn von nichts als von Jerusalem, dessen Unruhe und Unmuth spricht, ohne jedoch von seiner Besorgniß zu erwähnen, indem er geglaubt, man möchte ihn deswegen auslachen.
Der Bediente ist zu Jerusalem gekommen, um ihm die Stiefel auszuziehen. Dieser hat aber gesagt, er gienge noch aus; wie er auch wirklich gethan hat, vor das Silberthor auf die Starke Weide, und sonst auf die Gasse, wo er bey Verschiedenen, den Hut tief in die Augen gedrückt, vorbey gerauscht ist, mit schnellen Schritten, ohne jemand anzusehen. Man hat ihn auch um diese Zeit eine ganze Weile an dem Fluß stehen sehen, in einer Stellung, als wenn er sich hineinstürzen wolle (so sagt man).
Vor 9 Uhr kommt er zu Haus, sagt dem Bedienten, es müsse im Ofen noch etwas nachgelegt werden, weil er so bald nicht zu Bette ginge, auch solle er auf Morgen früh 6 Uhr alles zurecht machen, läßt sich auch noch einen Schoppen Wein geben. Der Bediente, um recht früh bey der Hand zu seyn, da sein Herr immer sehr accurat gewesen, legt sich mit den Kleidern ins Bette.
Da nun Jerusalem allein war, scheint er alles zu der schrecklichen Handlung vorbereitet zu haben. Er hat seine Briefschaften alle zerrissen und unter den Schreibtisch geworfen, wie ich selbst gesehen. Er hat zwey Briefe, einen an seine Verwandte, den Andern an H... (=Herd, den Sekretär von Pfalzlautern, dessen Ehefrau er umworben hatte) geschrieben; man meint auch einen an den Gesandten Höffler, den dieser vielleicht unterdrückt. ... In dem zweyten hat er H... um Verzeihung gebeten, daß er die Ruhe und das Glück seiner Ehe gestört, und unter diesem theuren Paar Uneinigkeit gestiftet etc. Anfangs sey seine Neigung gegen seine Frau nur Tugend gewesen etc. In der Ewigkeit aber hoffe er ihr einen Kuß geben zu dürfen etc. Er soll drey Blätter groß gewesen seyn, und sich damit geschlossen haben: "Um l Uhr. In jenem Leben sehen wir uns wieder." (Vermuthlich hat er sich sogleich erschossen, da er diesen Brief geendigt.)
Diesen ungefähren Inhalt habe ich von jemand, dem der Gesandte Höffler ihn im Vertrauen gesagt, welcher daraus auf einen würklich strafbaren Umgang mit der Frau schliessen will. Allein bey H... war nicht viel erforderlich, um seine Ruhe zu stören und eine Uneinigkeit zu bewürken. Der Gesandte, deucht mich, sucht auch die Aufmerksamkeit ganz von sich, auf diese Liebesbegebenheit zu lenken, da der Verdruß von ihm wohl zugleich Jerusalem determinirt hat; zumal da der Gesandte verschiedentlich auf die Abberufung des Jerusalem angetragen, und ihm noch kürzlich starke reprochen vom Hofe verursacht haben soll. Hingegen hat der Erbprinz von Braunschweig, der ihm gewogen gewesen, vor Kurzem geschrieben, daß er sich hier noch ein wenig gedulden mögte, und wenn er Geld bedürfe, es ihm nur schreiben sollte, ohne sich an seinen Vater, den Herzog, zu wenden.
Nach diesen Vorbereitungen, etwa gegen l Uhr, hat er sich denn über das rechte Auge hinein durch den Kopf geschossen. Man findet die Kugel nirgends. Niemand im Hause hat den Schuß gehört; sondern der Franciskaner Pater Guardian, der auch den Blick vom Pulver gesehen, weil es aber stille geworden, nicht darauf geachtet hat. Der Bediente hatte die vorige Nacht wenig geschlafen und hat sein Zimmer weit hinten hinaus, wie auch die Leute im Haus, welche unten hinten hinaus schlafen.
Es scheint sitzend im Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch geschehen zu seyn. Der Stuhl hinten im Sitz war blutig, auch die Armlehnen. Darauf ist er vom Stuhle heruntergesunken, auf der Erde war noch viel Blut. Er muß sich auf der Erde in seinem Blute gewälzt haben; erst beym Stuhle war eine große Stelle von Blut; die Weste vorn ist auch blutig; er scheint auf dem Gesichte gelegen zu haben; dann ist er weiter, um den Stuhl herum, nach dem Fenster hin gekommen, wo wieder viel Blut gestanden, und er auf dem Rücken entkräftet gelegen hat. (Er war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Rock mit gelber Weste.)
Morgens vor 6 Uhr geht der Bediente zu seinem Herrn ins Zimmer, ihn zu wecken; das Licht war ausgebrannt, es war dunkel, er sieht Jerusalem auf der Erde liegen, bemerkt etwas Nasses, und meynt er möge sich übergeben haben; wird aber die Pistole auf der Erde, und darauf Blut gewahr, ruft: Mein Gott, Herr Assessor, was haben Sie angefangen; schüttelt ihn, er giebt keine Antwort, und röchelt nur noch. Er läuft zu Medicis und Wundärzten. Sie kommen, es war aber keine Rettung. Dr. Held erzählt mir, als er zu ihm gekommen, habe er auf der Erde gelegen, der Puls noch geschlagen; doch ohne Hülfe. Die Glieder alle wie gelähmt, weil das Gehirn lädirt, auch herausgetreten gewesen; Zum Ueberflusse habe er ihm eine Ader am Arm geöffnet, wobey er ihm den schlaffen Arm halten müssen, das Blut wäre doch noch gelaufen. Er habe nichts als Athem geholt, weil das Blut in der Lunge noch circulirt, und diese daher noch in Bewegung gewesen.
Das Gerücht von dieser Begebenheit verbreitete sich schnell; die ganze Stadt war in Schrecken und Aufruhr. Ich hörte es erst um 9 Uhr, meine Pistolen fielen mir ein, und ich weiß nicht, daß ich kurzens so sehr erschrocken bin. Ich zog mich an und gieng hin. Er war auf das Bette gelegt, die Stime bedeckt, sein Gesicht schon wie eines Todten, er rührte kein Glied mehr, nur die Lunge war noch in Bewegung, und röchelte fürchterlich, bald schwach, bald stärker, man erwartete sein Ende.
Von dem Wein hatte er nur ein Glas getrunken. Hin und wieder lagen Bücher und von seinen eignen schriftlichen Aufsätzen. Emilia Galotti lag auf einem Pult am Fenster aufgeschlagen; daneben ein Manuscript ohngefähr Fingerdick in Quart, philosophischen Inhalts, der erste Theil oder Brief war überschrieben: Von der Freyheit, es war darin von der moralischen Freyheit die Rede. Ich blätterte zwar darin, um zu sehen, ob der Inhalt auf seine letzte Handlung einen Bezug habe, fand es aber nicht; ich war aber so bewegt und consternirt, daß ich mich nichts daraus besinne, noch die Scene, welche von der Emilia Galotti aufgeschlagen war, weiß, ohngeachtet ich mit Fleiß darnach sah.
Gegen 12 Uhr starb er. Abends 3/4 11 Uhr ward er auf dem gewöhnlichen Kirchhof begraben, (ohne daß er seciret ist, weil man von dem Reichs-Marschall-Amte Eingriffe in die gesandtschaftlichen Rechte fürchtete) in der Stille mit 12 Lanternen und einigen Begleitern; Barbiergesellen haben ihn getragen; das Kreutz ward voraus getragen; kein Geistlicher hat ihn begleitet.
Es ist ganz ausserordentlich, was diese Begebenheit für einen Eindruck auf alle Gemüther gemacht. Leute, die ihn kaum einmahl gesehen, können sich noch nicht beruhigen; viele können seitdem noch nicht wieder ruhig schlafen; besonders Frauenzimmer nehmen großen Antheil an seinem Schicksal; er war gefällig gegen das Frauenzimmer, und seine Gestalt mag gefallen haben etc.
Goethe schickte diesen Bericht am 19. Januar 1773 an Sophie von La Roche, die nähere Auskünfte zu dem Selbstmord Jerusalems gewünscht hatte, und bemerkte dazu:
Von Jerusalems Todte schrieb ich nur das pragmatische Resultat meiner Reflecktionen, das war freylich nicht viel. Ich hoffte auf eine umständliche avtenthische Nachricht, die ich nun überschicken kann. Sie hat mich so offt innig gerührt als ich sie las, und das gewissenhaffte Detail der Erzählung nimmt ganz hin.
ende