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{BRIEFEINLAGE III}
Das als 'angefangener Brief an Wilhelm' bezeichnete Textstück steht in der Erstfassung schon im ersten Teil des Herausgeber-Berichtes.
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Die Änderungen am Bild Alberts, die Goethe in der Zweitfassung vornimmt, zwingen ihn zu einer differenzierteren Behandlung auch des Verhaltens von Lotte. In der Erstfassung versteht sich ihr bereitwilliger Umgang mit Werther von selbst: Da Albert sie vernachlässigt, ja sogar grob zu ihr ist, lässt sie sich Werthers Gesellschaft gern gefallen, und was sie darüber hinaus für ihn empfindet, kann sich der Leser nach seinen eigenen Eindrücken zurechtlegen.
Gegenüber einem rücksichtsvollen, sie liebenden Albert, der auch sogar Werther mit Schonung behandelt, bedarf ihr Verhalten jedoch der Erklärung. Warum hält sie Werther nicht mehr von sich fern, wie Albert es von ihr wünscht? Und was veranlasst sie überhaupt, sich so auf ihn einzulassen? Um hier nicht eine Trübung ihres Bildes zu riskieren, zieht sich der Herausgeber geschickt auf sein männlich-beschränktes Einfühlungsvermögen zurück und erklärt, dass man sich wohl einen stillen Begriff von ihrem seelischen Zustand machen könne und jedenfalls "eine schöne weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihr empfinden kann". Dieses Wohlwollen für Lotte wurde allerdings schon hinsichtlich der Erstfassung nicht allgemein geteilt. Johann Christian Kestner schreibt im Oktober 1774 an Goethe:
Der wirklichen Lotte würde es in vielen Stücken leid sein, wenn sie Eurer da gemalten Lotte gleich wäre. Ich weiss es wohl, dass es eine Composition sein soll; allein die H... (=Frau Herd) welche Ihr zum Theil mit hineingewebt habt, war auch zu dem nicht fähig, was Ihr Eurer Heldin beimesset. Es bedurfte aber des Aufwandes der Dichtung zu Eurem Zwecke und zur Natur und Wahrheit gar nicht, denn ohne das - eine Frau, eine mehr als gewöhnliche Frau immer entehrende Betragen Eurer Heldin - erschoss sich Jerusalem.
Auch späterhin wird gegen Lotte immer wieder einmal eingewandt, sie hätte sich als verheiratete Frau dem in sie verliebten Werther mehr entziehen müssen und trage deshalb an seinem Unglück eine Mitschuld. Nur ist es eben erst die in der Zweitfassung vorgenommene Aufwertung Alberts, die diese Problematik deutlicher in Erscheinung treten lässt - wobei nicht einmal ausgemacht ist, ob ihr Charakterbild nicht an Wahrscheinlichkeit dadurch sogar gewinnt.
ende