Gegenüber einem rücksichtsvollen, sie liebenden Albert, der auch sogar
Werther mit Schonung behandelt, bedarf ihr Verhalten jedoch der Erklärung.
Warum hält sie Werther nicht mehr von sich fern, wie Albert es von ihr
wünscht? Und was veranlasst sie überhaupt, sich so auf ihn einzulassen?
Um hier nicht eine Trübung ihres Bildes zu riskieren, zieht sich der Herausgeber
geschickt auf sein männlich-beschränktes Einfühlungsvermögen zurück und erklärt,
dass man sich wohl einen stillen Begriff von ihrem seelischen Zustand machen
könne und jedenfalls "eine schöne weibliche Seele sich in die ihrige denken
und mit ihr empfinden kann". Dieses Wohlwollen für Lotte wurde allerdings schon
hinsichtlich der Erstfassung nicht allgemein geteilt. Johann Christian Kestner schreibt
im Oktober 1774 an Goethe:
Der wirklichen Lotte würde es in vielen Stücken leid sein, wenn sie
Eurer da gemalten Lotte gleich wäre. Ich weiss es wohl, dass es eine
Composition sein soll; allein die H... (=Frau Herd) welche Ihr zum Theil
mit hineingewebt habt, war auch zu dem nicht fähig, was Ihr Eurer Heldin
beimesset. Es bedurfte aber des Aufwandes der Dichtung zu Eurem Zwecke und zur
Natur und Wahrheit gar nicht, denn ohne das - eine Frau, eine mehr als
gewöhnliche Frau immer entehrende Betragen Eurer Heldin - erschoss
sich Jerusalem.
Auch späterhin wird gegen Lotte immer wieder einmal eingewandt, sie hätte
sich als verheiratete Frau dem in sie verliebten Werther mehr entziehen müssen
und trage deshalb an seinem Unglück eine Mitschuld. Nur ist es eben erst die
in der Zweitfassung vorgenommene Aufwertung Alberts, die diese Problematik deutlicher
in Erscheinung treten lässt - wobei nicht einmal ausgemacht ist, ob ihr Charakterbild
nicht an Wahrscheinlichkeit dadurch sogar gewinnt.