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{ABSCHIED}
Mit diesem Teil findet die Umwertung des Verhältnisses von Lotte und Albert in der Zweitfassung ihren Abschluss. Albert lässt Lotte seinen Ärger über Werthers letzten Besuch nun weniger spüren als in der Erstfassung, und Lotte leidet mehr als zuvor unter der Unaufrichtigkeit, zu der sie sich wegen dieses Besuches gezwungen sieht. Im einzelnen sind folgende Passagen für den Vergleich aufschlussreich:
Die Feststellung "Wider ihren Willen fühlte sie tief in ihrer Brust das Feuer von Werthers Umarmungen" wird abgeschwächt zu der Frage: "War es das Feuer von Werthers Umarmungen, das sie in ihrem Busen fühlte? war es Unwille über seine Verwegenheit?"
Dass Lotte den Urheber ihrer Beunruhigung "weder hassen, noch sich versprechen (konnte), ihn nie wieder zu sehn" wird abgeschwächt zu der Feststellung, dass Werther "für sie verloren war, den sie nicht lassen konnte, den sie leider! sich selbst überlassen mußte".
Die Mitteilung, dass Lotte die Gegenwart ihres am Morgen zurückkehrenden Mannes "zum ersten Mal ganz unerträglich ist", weil sie seine 'halb spöttischen, halb verdrüßlichen Fragen' fürchtet, wird abgeändert zu der Überlegung, ob sie hoffen konnte, "daß ihr Mann sie ganz im rechten Lichte sehen, sie ganz ohne Vorurteil aufnehmen" würde.
Die Feststellung, dass Lotte "sich nie verstellt, nie gelogen hatte", wird erweitert zu der Frage, wie sie sich sollte verstellen können "gegen den Mann, vor dem sie immer wie ein kristallhelles Glas offen und frei gestanden, und dem sie keine ihrer Empfindungen jemals verheimlicht noch (hat) verheimlichen können".
Alberts ironische Bemerkung, Werther wisse die Zeit für seine Besuche 'gut zu nehmen', wird ersatzlos gestrichen, und der Zusatz des Herausgebers, dass er sich bei der Bitte Werthers um die Pistolen "ganz kalt nach seiner Frau wendete", wird abgemildert zu der Form, dass er sich "gelassen" an seine Frau wendet.
Lotte zeigt stärker als in der Erstfassung das Bedürfnis, sich mit Albert auszusprechen; es ist nur das schon zu lange dauernde Schweigen, das sie nicht dazu kommen lässt.
Dass Albert die Pistolen an Werther aushändigt und Lotte dies nicht verhindert, wird gegenüber der Erstfassung ausführlicher erklärt. Nicht nur ist Albert jetzt durch unangenehme Briefnachrichten abgelenkt, es wird auch daran erinnert, dass er Werthers Selbstmord-Drohungen nie ernst genommen und auch Lotte in diesem Sinne zu beruhigen vermocht hat.
Die Folge dieser zusätzlichen Ausführungen ist wie schon zuvor, dass Albert zwar weniger rücksichtslos erscheint, Lotte aber dadurch mehr belastet wird. In der Erstfassung lässt ihr Alberts Grobheit kaum eine andere Wahl, als zu der Übergabe der Pistolen zu schweigen. Sie ist ein Opfer der eingetretenen Verhältnisse. In der zweiten Fassung erscheint ihr Schweigen jedoch als Schuld. Hätte sie den Mut zur Offenheit gefunden, heißt es jetzt ausdrücklich, wäre vielleicht "unser Freund noch zu retten gewesen". Ihre Kennzeichnung sonst außer acht gelassen, könnte man sogar zu dem Ergebnis kommen, dass sie Werthers Selbstmord zur Erlösung aus ihrer Verstrickung billigend inkauf nimmt.
Benutzte Literatur: Saine, Tomas Peter
Das einzige Fragment, das sich von Goethes Hand aus der ersten Fassung des 'Werther' erhalten hat, lässt erkennen, dass der Text auch schon bis hin zur ersten Veröffentlichung einer gewissen Bearbeitung unterzogen worden ist. Er ist also nicht so in einem Zug niedergeschrieben worden, wie Goethe in "Dichtung und Wahrheit" erklärt.
Fragment aus der ersten Werther-Niederschrift, im Besitz des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar.

Das Textstück lautet:
Sie sind durch ihre Hände gegangen, sie hat den Staub davon geputzt, ich küßte sie tausendmal, sie hat euch berührt. Und du Geist des Himmels begünstigst meinen Entschluß. Und sie reicht dir das Werckzeug, Sie von deren Händen ich den Todt zu empfangen wünschte und ach nun empfange. Sie zitterte sagte mein Bedienter als sie ihm die Pistolen gab. O Herr sagte der gute Junge eure Abreise thut euern Freunden so leid. Albert stand am Pulten, ohn sich um zu wenden sagte er zu Madame. Gieb ihm die Pistolen, sie stund auf und er sagte: ich lass ihm glückliche Reise wünschen, und sie nahm die Pistolen und putzte den Staub sorgfältig ab und zauderte und zitterte {wie sie sie meinem Buben gab und das Lebe wohl blieb ihr am Gaumen kleben. Leb wohl leb wohl! Hier hab ich die fleischfarbene Schleife vor mir die sie am Busen hatte als ich sie kennen lernte, die sie mir mit so viel Liebenswürdigkeit schenckte. Diese Schleife! Ach damals dacht ich nicht, dass mich der Weg dahin führen sollte.}
{...} = nicht mit abgebildet
ende