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Am 22. Mai.
Mit der Schlusswendung, dass jeder Mensch in seinem Herzen das Gefühl hat, "daß er diesen Kerker verlassen kann, wann er will", deutet sich das erste Mal die Möglichkeit des Selbstmordes an. Abgesehen davon, dass dies der Stimmung Goethes während der Niederschrift des 'Werther' auch nahekam (siehe unter ENTSTEHUNG), zeugt die frühe Anlage dieses Motivs auch von erzählerischem Kalkül. Da es ein Vorauswissen des Geschehens durch Werther selbst nicht geben kann, muss der Leser gewissermaßen hinter seinem Rücken auf den Gesamtverlauf vorbereitet und eingestimmt werden, und eben das wird durch den hier eigentlich unerwartet düsteren Schlussgedanken angestrebt.
Doch noch ein anderer Aspekt ist bemerkenswert: Im Unterschied zu dem Selbstmord-Gespräch mit Albert am 12. August 1771, wo der Selbstmord wie eine unheilbare Krankheit gedeutet wird, und im Unterschied auch zu Werthers eigener Tat, die zusätzlich das Ansehen eines Opfers hat, wird hier der Aspekt der Freiheit betont. Das kennzeichnet Werther als einen Menschen, der sich niemandem - weder Freunden, noch der Familie, noch Gott - verpflichtet fühlt, der gemäß Sturm-und Drang-Begriffen wirklich allein über sich bestimmt.
ende