Dass die Übertragung dieser Situation auf die jung verheiratete Lotte und
ihr Verhältnis zu Werther nicht unproblematisch ist, macht Thomas Mann
in einer Besprechung der Szene deutlich:
Nicht nur der Haß, auch die Liebe führt ihn an Abgründe. Das
Schicksal des unglückselig liebenden Bauemburschen, das unheimlich
neben dem seinen herläuft, drängt seinem doch so reinen, so vornehm
gewissenhaften Gemüt den Gedanken der Vergewaltigung auf. Der Knecht
ist vom Hofe gejagt worden, weil er in einem Augenblick verzweifelter
Leidenschaft versucht hatte, sich des Weibes mit Gewalt zu bemächtigen, -
eine Tollheit, an der sie nicht ganz unschuldig ist, da sie, bewußt
oder unbewußt, seine Leidenschaft durch ein halbes Gewähren, durch
kleine Vertraulichkeiten genährt hat. Und Lotte? Ist es bei ihr nicht
dasselbe? Es ist in dem Buch eine Szene, deren gefährliche Lieblichkeit
etwas Himmelschreiendes hat und die in Unschuld gehüllte
Koketterie charakterisiert, mit der das gute Mädchen Werthers
Leidenschaft reizt: die Szene mit dem Kanarienvogel, von dessen
Schnäbelchen sie sich vor seinen Augen küssen läßt, den sie von
ihren Lippen zu seinen schickt und dem sie mit dem lächelnden
Munde Brosamen reicht. Werther kehrt sein Gesicht weg. Sie
sollte es nicht tun! denkt er; und das denken allerdings auch
wir, da sie ja klug genug ist, um sich auf Werthers gefährdete
Natur zu verstehen, und gütig genug, um besorgt um sie zu
sein. Wenn sie ihn liebt, sollte das ein Grund mehr für sie sein,
ihn zu schonen. Aber gerade die Liebe wieder, die sie trotz ihrer
Treuebindung an Albert für ihn hegt, verführt sie zu den "kleinen
Vertraulichkeiten", durch die jene Bauernwitwe den Knecht zum
Äußersten treibt.