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Am 12. September.
Dieser in der Erstfassung noch nicht enthaltene Brief nimmt sicherlich auf eine von Goethe erlebte Situation Bezug, allerdings gewiss nicht auf ein Erlebnis mit Charlotte Buff und sicherlich auch nicht auf eins mit Frau von Stein (1742-1827), wie vermutet worden ist. Auch wenn Goethe in den Jahren nach 1780 bis in die Zeit der Umarbeitung des 'Werther' in dem vertrautesten Umgang mit dieser gestanden hat, hätte sie ihn schwerlich in dieser Weise herausgefordert. Es gab aber allerlei andere 'Miesels' - so nannte Goethe seine harmlosen Liebschaften -, die für eine solche Herausforderung bzw. Ermutigung infrage kommen.
Dass die Übertragung dieser Situation auf die jung verheiratete Lotte und ihr Verhältnis zu Werther nicht unproblematisch ist, macht Thomas Mann in einer Besprechung der Szene deutlich:
Nicht nur der Haß, auch die Liebe führt ihn an Abgründe. Das Schicksal des unglückselig liebenden Bauemburschen, das unheimlich neben dem seinen herläuft, drängt seinem doch so reinen, so vornehm gewissenhaften Gemüt den Gedanken der Vergewaltigung auf. Der Knecht ist vom Hofe gejagt worden, weil er in einem Augenblick verzweifelter Leidenschaft versucht hatte, sich des Weibes mit Gewalt zu bemächtigen, - eine Tollheit, an der sie nicht ganz unschuldig ist, da sie, bewußt oder unbewußt, seine Leidenschaft durch ein halbes Gewähren, durch kleine Vertraulichkeiten genährt hat. Und Lotte? Ist es bei ihr nicht dasselbe? Es ist in dem Buch eine Szene, deren gefährliche Lieblichkeit etwas Himmelschreiendes hat und die in Unschuld gehüllte Koketterie charakterisiert, mit der das gute Mädchen Werthers Leidenschaft reizt: die Szene mit dem Kanarienvogel, von dessen Schnäbelchen sie sich vor seinen Augen küssen läßt, den sie von ihren Lippen zu seinen schickt und dem sie mit dem lächelnden Munde Brosamen reicht. Werther kehrt sein Gesicht weg. Sie sollte es nicht tun! denkt er; und das denken allerdings auch wir, da sie ja klug genug ist, um sich auf Werthers gefährdete Natur zu verstehen, und gütig genug, um besorgt um sie zu sein. Wenn sie ihn liebt, sollte das ein Grund mehr für sie sein, ihn zu schonen. Aber gerade die Liebe wieder, die sie trotz ihrer Treuebindung an Albert für ihn hegt, verführt sie zu den "kleinen Vertraulichkeiten", durch die jene Bauernwitwe den Knecht zum Äußersten treibt.
Benutzte Literatur: Mann, Thomas
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