Achtzehntes Kapitel
Charlotte gab ihm seinen Platz neben Ottilien und verordnete, dass niemand weiter in diesem Gewölbe beigesetzt werde.
Unter dieser Bedingung machte sie für Kirche und Schule, für den Geistlichen und den Schullehrer ansehnliche Stiftungen.
Für
Richard Faber verstößt Charlotte damit eklatant gegen die von ihr vertretene Auffassung einer "endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigstens nach dem Tode"
(siehe
ZWEITER TEIL, ERSTES KAPITEL), mit der sie im Vorjahr die Neuordnung des Friedhofs durchgesetzt hat.
Es beweist ihm, dass Goethe "seinen Elitarismus, der die Ständegesellschaft zur affirmativen Folie hat", über den egalitären Standpunkt Charlottes keineswegs in Frage stellen wollte.
In der Tat kann man wohl kaum die Figur - Charlotte - für das Sonderbegräbnis in Anspruch nehmen. Nicht nur fehlt jeder Hinweis darauf, dass sie sich an ihre frühere Einstellung zum Tod
erinnert, es würde auch zu nicht auflösbaren Widersprüchen führen, wenn ihr Meinungswechsel erklärt werden müsste. Am Ende könnte die herausgehobene Bestattung sogar
wie eine Verhöhnung der Toten aussehen. Man kann also nur folgern, dass Goethe diesen Schluss auf Charlotte hin nicht durchdacht hat.

Zu welch abenteuerlichen Folgerungen es führt, wenn man die Bestattung in der Kapelle von der Handlung trennt, zeigt sich bei Michael Mandelartz. Er nimmt eine
historische Sortierung der Gebäude des Romans vor und leitet aus ihr ein jeweils anderes Verhältnis des Menschen zur Welt ab. Für einen langen Zeitraum sieht er
eine Entwicklung hin zu immer mehr Harmonie. "Mühle, Kirche, Schloss und Mooshütte stehen noch in [einem] Zusammenhang kontinuierlicher Steigerung." Das neue
Lustgebäude hingegen bezeichne "den historischen Punkt, an dem die in sich selbst versenkte Subjektivität die Wirklichkeit aus dem Auge verliert". Man suche und bezwecke
nur noch das Schöne, löse das Ästhetische "aus dem Wirkungszusammenhang der Natur, und so folgt notwendig seine Erstarrung, der Tod".
Die selbstbezogenste, am meisten nur noch ästhetisch angelegte Figur ist ihm Ottilie, und ein Indiz dafür auch ihre Bestattung. Ihre Grablegung in einer gotischen
Kapelle bedeute "einen Rückgriff auf frühere historische Epochen, eine Regression innerhalb der an den Baukörpern ablesbaren Entwicklungsfolge". Durch ihre
Aufbahrung werde sie zu einem Menschen des Mittelalters oder gar des alten Ägypten, Beispiel für eine orientierungslos gewordene Moderne, die wieder zum Anfang der
"mühsamen Integration von Natur, Mensch und Kunst" zurückkehre. "Das Endprodukt der europäischen Zivilisation, das aufgeklärte Subjekt, fällt zurück
in die Barbarei."

Wollte man das alles mit Charlotte verbinden, die die Aufbahrung in der Kapelle schließlich arrangiert, würde es sich tatsächlich um nichts anderes handeln, als
dass sie das Paar bestraft. Sie, die immer das Praktische, Nützliche, Schickliche im Blick hat, ist gerade nicht der Mensch, sich auf eine rein ästhetische Weltsicht
einzulassen. Sie würde die beiden Toten dann geradezu höhnisch in einen "schönen" Wartezustand versetzen, von dem sie ganz genau weiß, dass er nie enden wird, eben weil die beiden nicht "dereinst wieder zusammen erwachen". Zweifellos hat das aber der Erzähler, hat das Goethe nicht gemeint. Gemeint ist vielmehr, dass es eine Liebe gibt, die den Tod überdauert.