Siebzehntes Kapitel
So bewegte sich auch in dem täglichen Zusammenleben unserer Freunde fast alles wieder in dem alten Gleise. Noch immer äußerte
Ottilie stillschweigend durch
manche Gefälligkeit ihr zuvorkommendes Wesen, und so jedes nach seiner Art. Auf diese Weise zeigte sich der häusliche Zirkel als ein
Scheinbild des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob noch alles beim Alten sei, war verzeihlich.
Eine Tochter Gottfried Körners, Emma Körner, schrieb im November 1809 in einem Brief aus Dresden, sie verstehe nicht nur nicht, dass Ottilie
gegenüber Charlotte kein schlechtes Gewissen habe, sie könne auch nicht begreifen, "wie vier Menschen, welche in einer so äußerst gespannten
Situation sind, als gegen Ende des Romans die vier Hauptpersonen sind, wie diese wieder ihr altes Leben vornehmen und ganz gelassen Clavier spielen
können".

Diese Äußerung einer Zwanzigjährigen, also einer anderen Ottilie, sollte einen zögern lassen, die geschilderten
Verhaltensweisen als "normal" oder "bezeichnend" für die damalige Zeit anzusehen. Burkhardt Lindner tut das, wenn er verallgemeinernd
erklärt, dass die 'bürgerliche Gesellschaft' - denn dafür steht ihm dieser Kreis - in dem Bemühen um humanen Takt aller
Wahrheit ausweicht und nur noch Verletzungen und Verstörungen hervorbringt. "Der Umgang der Gebildeten ist, weit entfernt Zwänge
aufzulösen, zu einem Mittel der Verstellung und der Verleugnung geworden."
Bürgerlich erzogene Menschen sahen in einem solchen Verhalten offenbar doch eher eine Deformierung als ein Beispiel für Selbstbeherrschung, und vielleicht hätte Goethe
das sogar verstanden. Irritierend ist nur, dass er das gemeinschaftliche Verdrängen "verzeihlich" nennt.