Urteile und Deutungen /Zweiter Teil Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Dreizehntes Kapitel
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Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab ... Das Ruder entfährt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich erhalten will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser. Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen.
Goethes Zeitgenossen haben sich über den Ablauf des Unglücks keine Gedanken gemacht, nur der lakonische und dem Eindruck nach herzlose Bericht davon wurde hin und wieder beanstandet. Es genügte anscheinend, dass ein junges Mädchen ein Ruderboot überhaupt bestieg, um jedes Unglück für möglich zu halten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts änderte sich das jedoch. Rudern wurde populär, als Sport wie als Freizeitvergnügen, und je mehr die Menschen damit ihre Erfahrungen machten, desto mehr verwunderte, was sich in der betreffenden Szene abspielt.
Friedrich Spielhagen griff in seinem Aufsatz Die Wahlverwandtschaften und Effi Briest von 1896 die Diskussion darüber auf - sogar das Berliner Tageblatt hatte sich beteiligt - und erklärte das Geschehen von Anfang bis Ende für unwahrscheinlich. Schon dass Eduard Ottilie beim Ablegen des Kahnes nicht hilft, ist ihm unbegreiflich, dann, dass sie mit dem Kind auf dem Arm in diesen hinein "springt" und schließlich sich stehend mit dem Kind mit einem der Ruder abzustoßen versucht - alles eigentlich unfasslich. Und warum kann sie das Kind nicht sofort bergen? "Ein junges elastisches Mädchen ist doch keine unbehilfliche Matrone; das schnellt doch, unverletzt, wie sie selber ist, mag sie so 'unbequem' liegen, wie sie will, im Nu empor. Doch nein! »Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend, sich umzuwinden, sich aufzurichten; endlich gelingt's« - Endlich! Will sagen, nachdem das arme Kind, das nun einmal durchaus ertrinken sollte und mußte, ertrunken ist."
Benutzte Literatur: Spielhagen, Friedrich
Noch sarkastischer hat sich Uwe Johnson 1980 in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung Begleitumstände über die Szene mokiert. Es sei wohl "vor allem das starrsinnige Festhalten der Kindeshüterin an dem Buch" die Ursache des Unfalls gewesen, führt er aus, nur habe es sich leider nicht um eine unersetzbare Bibel oder die 'Beyträge zur Optik' in der Erstausgabe von 1791" gehandelt. Der "Regisseur und Autor der Szene" sei offenbar entschlossen gewesen, "an dieser Stelle einen Eingriff des Schicksals herbeizuführen, und notwendig muss es zu dem Unfall kommen genau so, wie er es verständnisvoll und unausweichlich vor uns ausbreitet."
Benutzte Literatur: Johnson, Uwe
Der ironische Umgang mit dieser Unzulänglichkeit läuft allerdings ins Leere, weil er außer Acht lässt, dass die erste Lesergeneration hier noch nichts auszusetzen fand. Spielhagen spricht das unbeabsichtigt aus, wenn er resümiert: "Sonderbar, daß noch niemand die Bemerkung gemacht hat, wie unsicher der auf dem Lande so sichre Goethe jedesmal wird, wenn er aufs Wasser kommt!" Eben, möchte man hinzufügen, weil diese Erfahrung ihm wie den meisten seiner Leser noch fehlte.