Urteile und Deutungen /Erster Teil Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Sechstes Kapitel
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Den andern Morgen sagte Eduard zu Charlotten: »Es ist ein angenehmes, unterhaltendes Mädchen.« - »Unterhaltend?«, versetzte Charlotte mit Lächeln; »sie hat ja den Mund noch nicht aufgetan«.
Nach einer Mitteilung von B. R. Abeken hat Wieland über diese Stelle gesagt: "Für dieses Wort würde ich, wenn ich der Herzog wäre, Goethen ein Rittergut schenken". Das ist zumal deshalb bemerkenswert, als Wieland den Roman sonst in Bausch und Bogen verurteilt hat. Es sei, schreibt er im Juni 1810 in einem Brief, "ein desto tadelhafteres Kunstwerk", als nur die Nebensachen "für den Verdruß und Eckel an einer so bisarren, mit Inkonsequenzen, Unwahrscheinlichkeiten u. Ungereimtheiten so angefüllten, unsittlichen und scandalosen Geschichte einiger maßen entschädigen" könnten.
Benutzte Literatur: Härtl, Heinz
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Sie eilten, besonders abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte bemerkte das wohl und ließ beide nicht unbeobachtet. Sie suchte zu erforschen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlass gäbe; aber sie konnte keinen Unterschied bemerken.
Für Isabella Kuhn ist das eine der ersten von vielen Stellen, an denen sich das grundsätzlich Böse in Charlottes Charakter zeigt. Anstatt sich über das geselligere Verhalten der Männer zu freuen, lauere sie auf verborgene Absichten, heimliche Gründe, um möglicherweise Gegenmaßnahmen einleiten zu können. "Lautlos legt sich das Netz haltloser, und doch verhaftender, den Anwesenden, Arglosen, verborgener und gerade in dieser Verheimlichung unbesieglicher Vorausverdächtigungen über den Raum und spinnt die vier Personen erst recht ein. Der spinnengleiche, angstvolle Überwachungstrieb eines jede kleinste Veränderung wie den Tod fürchtenden ... gesicherten Ich zieht eben hier, da alles in schönster Ordnung ist, den dunklen Faden der Schuld ein."
Charlottes Motiv nach dieser Deutung: Sie will alles kontrollieren, damit es in den Grenzen des Üblichen bleibt. Ottilies natürliche Liebenswürdigkeit ist ihr ein Dorn im Auge, sie versucht sofort, ihr Verschiedenes an- und abzugewöhnen. Auch der Zuneigung Eduards zu Ottilie widersetzt sie sich nur, weil er sich damit ihrer Herrschaft entzieht, nicht weil sie ihn liebt. Sie brauchte nur in die Scheidung einzuwilligen, und alles könnte sich zum Guten wenden.
Benutzte Literatur: Kuhn, Isabella
Ähnlich hat 1834 schon Bettina von Arnim in ihrem Erinnerungsbuch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde geurteilt. Selbst empfindlich gegenüber den Ansprüchen von Goethes Christiane schreibt sie zu den Wahlverwandtschaften: "Ich begreife nicht, warum sie alle sich unglücklich machen, warum sie alle einem tückischen Dämon mit stacheligem Szepter dienen; und Charlotte, die ihm täglich, ja stündlich Weihrauch streut, die mit mathematischer Konsequenz das Unglück für alle vorbereitet. Ist die Liebe nicht frei? - sind jene beiden nicht verwandt? - warum will sie es ihnen wehren, dies unschuldige Leben mit- und nebeneinander?"
Benutzte Literatur: Arnim, Bettina von
Ist diese Deutung richtig? Trifft sie das mit dem Roman Gemeinte? Zweifellos tut sie das nicht. Charlotte soll uns nicht böse erscheinen, sie verhält sich nur angemessen weiblich. "Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte", heißt es in Goethes Torquato Tasso. Natürlich kann man schon die Sitte an sich - in diesem Falle die der christlich unauflösbaren Ehe - für "böse" halten und folgern, dass der Roman in der Person Charlottes diese Bösartigkeit erkennbar mache. Nur muss man hinzufügen, dass Goethe das nicht bezweckt hat. Hier wie überhaupt ist zwischen dem vom Autor Gemeinten und dem zusätzlich Erkennbaren zu unterscheiden. Andernfalls läuft man Gefahr, außer der Autorintention auch sogar das seinerzeit Denkbare noch aus den Augen zu verlieren.
An einer Stelle tritt das bei Isabella Kuhn auch ein. Gleich zu Beginn der Handlung wird über die Größe der Mooshütte gesprochen und geäußert, sie sei für zwei doch geräumig genug, "für einen Dritten ist auch wohl noch Platz". Dazu Kuhn: "Man hätte erwartet: 'Für ein Drittes - ist auch wohl noch Platz.' Ein Kind ist gleich ausgeschlossen." Alle Pläne, die das Paar machte, verzichteten darauf, sich mit einem "neuen Leben" einzulassen. "Charlottens Kind ist hier eigentlich schon totgeboren." Dass es Zeiten gab, in denen man Kinder nicht plante, sondern sie entweder bekam oder nicht bekam, scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Und darüber hinaus: Ein ungeborenes Kind war von vornherein nichts Kalkulierbares, sein Überleben lag wirklich "in Gottes Hand". Es wäre zu Goethes Zeiten nichts als sonderbar gewesen, würden Eduard und Charlotte sich in der Mooshütte Gedanken darüber machen, dort auch demnächst ein gemeinsames Kind mit aufnehmen zu können. Goethes Christiane bekam fünf Kinder, außer dem ersten starb jedes weitere kurz nach der Geburt.