Urteile und Deutungen /Erster Teil Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Viertes Kapitel
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»... ich würde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhältnisse, wie sie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkörpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloß in den Händen des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt. Sind sie aber einmal beisammen, dann gnade ihnen Gott!«
Was Charlotte hier wie in einer Vorahnung beschreibt, muss sie selbst am Schluss resignierend anerkennen:
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»Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt. Vergebens, dass Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen: es soll etwas geschehen, was ihm recht ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns gebärden, wie wir wollen.«
Die in diesen Sätzen sich aussprechende Überzeugung, dass das zwischenmenschliche Verhalten und zumal die Liebe naturgegebenen Prägungen unterliegt, ist von Anfang an als die Kernbotschaft der Wahlverwandtschaften begriffen worden. Im Gegensatz zu der Idee der Aufklärung, dass der Mensch sich selbst bestimmen kann und muss, sah man hier das Bindungsbedürfnis für ganz und gar naturgesteuert erklärt. In einer von Goethe besonders geschätzten Rezension schreibt im Januar 1810 Bernhard Rudolf Abeken:
"Daß es Menschen gibt, die ihrer Natur nach verwandt sind, daß diese Verwandtschaft Liebe erzeugt ... ist das Thema fast aller Romane. ... Jeder Leser hat dergleichen gesehn und erlebt; er wird bewegt und fühlt, daß auch er dem Loose unterworfen ist, welches die Liebe trifft. ... Hier sehen wir, wie dieselben ewigen Gesetze, die in dem walten, was wir Natur nennen, auch über den Menschen ihre Herrschaft üben und ihm oft mit unwiderstehlicher Strenge gebieten; wie es nur  eine, nur gesteigerte, Kraft ist, die leblose Stoffe zu einander zwingt und diesen Menschen zu einem andern zieht."
Benutzte Literatur: Härtl, Heinz
Wenn heute in der wissenschaftlichen Ergründung des Liebesgefühls Hormone und Botenstoffe separiert werden und womöglich noch mit Psychopharmaka experimentiert wird, wäre Goethe über so viel Chemie allerdings doch wohl entsetzt. Das Gleichnis von Kalk und Schwefelsäure war ihm nur ein Symbol für etwas, das er sicherlich bis in alle Ewigkeit der Natur als Geheimnis belassen wollte. In der letzten Konsequenz könnte solches Wissen nämlich ausschließen, was der Roman als 'Lösung' noch beibehält: des Menschen - Ottilies - selbstbestimmten Verzicht.