Urteile und Deutungen /Erster Teil Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Zweites Kapitel
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Charlotte benutzte des andern Tags auf einem Spaziergang nach derselben Stelle die Gelegenheit, das Gespräch wieder anzuknüpfen, vielleicht in der Überzeugung, dass man einen Vorsatz nicht sicherer abstumpfen kann, als wenn man ihn öfters durchspricht.
Für Peter Suhrkamp hat das gesamte Gesprächsverhalten der Beteiligten etwas Unnatürliches. "Etwas Praktisches zu besprechen; einen Wunsch zu äußern; rechtzeitig eine Warnung zu geben oder eine notwendige Aufklärung, eine Zurechtweisung; einen Sachverhalt mitzuteilen; ja zu einer Sache sich mit einem einfachen Ja oder Nein zu stellen - davor besteht eine auffällige Scheu." Den Grund sieht Suhrkamp darin, dass diese Gesellschaft "kein Verhältnis zum tätigen Leben und zu einer tätigen Welt hat. Äußerlichkeiten wie die, daß das Schloßpersonal so gut wie nicht vorhanden erachtet wird, oder die hochmütige Ablehnung, auf die Gestaltung der Verhältnisse bei den Bürgern des Ortes am Fuße des Schloßbergs einzuwirken, deuten zunächst darauf hin."
In dieser Gesellschaft ist man sich deshalb auch nie sicher, was man kann, will, muss, und wird so zum Spielball zufälliger Einflüsse und Launen. Der Ausgang des Romans sei in dieser Hinsicht pessimistisch, als hätte Goethe den Untergang dieser Welt, als hätte er "den heutigen Weltzustand vorausgesehen. Und diese Ironie: eine Gesellschaft, die zum Gehalt ihres Lebens die Zivilisation gemacht hat, betreibt den Zusammenbruch der Zivilisation!" Dass Goethe an der Verstellung in der adligen Gesellschaft von Weimar selbst gelitten hat, ist zumal in seinen Briefen an Charlotte von Stein immer wieder zu lesen. Zugleich war er aber auch ein Teil dieser Gesellschaft und konnte sich eine Alternative zu ihr schwerlich vorstellen. Fraglich ist jedenfalls, wie nicht nur Suhrkamp es einschätzt, dass Ottilie demgegenüber ein Beispiel unverfälschter, wahrer Menschlichkeit sein soll.
Benutzte Literatur: Suhrkamp, Peter