Allgemeines
Im Unterschied zu allen anderen Werken des etablierten Goethe wurden die Wahlverwandtschaften von einem nicht kleinen Teil der ersten Lesergeneration ausdrücklich missbilligt.
Dass in dem Roman die Liebe zwischen Eduard und Ottilie so verständnisvoll behandelt wird, war nach christlichen Begriffen ein Skandal. Noch zwanzig Jahre nach Goethes Tod sprach
Eichendorff tadelnd von einer "ausführlichen Geschichte geistigen Ehebruchs ... und es nützt wenig, daß zuletzt nach dem Gemeinspruch: 'wer nicht hören will, muß
fühlen', jedem Mitschuldigen sein tragisches Ende gehörig zugemessen wird".

Mit der Säkularisierung der Ehe verlor diese Kritik aber an Gewicht, und auch andere kritische Einwände verblassten. Die Wundertätigkeit der verstorbenen Ottilie, die
Unwahrscheinlichkeit der doppelten Ähnlichkeit des Kindes, das eigentlich Uneingelöste des chemischen Gleichnisses - je später je weniger ging man auf solche
einst beanstandete Stellen noch ein. Und nicht nur das. In der Idee, dass jedes Werk von Goethe vollkommen ist, begann man auch das vermeintlich
Unplausible tiefgründig zu bedenken, etwa das Tagebuch Ottilies, das demnach subtil ihre geheimsten Seelenregungen erkennen lassen soll.
Vor allem aber wurde der Roman in immer weiteren gedanklichen Brückenschlägen mit anderen Erkenntnissen verbunden, mythologischen,
philosophischen, sozialgeschichtlichen, sodass nicht selten zweifelhaft ist, was diese Beiträge eigentlich klären wollen. Der erste und zugleich
namhafteste von ihnen, der umfangreiche Essay "Die Wahlverwandtschaften" von Walter Benjamin aus dem Jahr 1924, galt ausdrücklich nicht dem "Sachgehalt" des
Romans, sondern seiner "Wahrheit", nicht seinem zeitlichen Wirken, sondern seinem "ewigen Sein". Gefunden hat Benjamin es im mythischen Urgrund des Geschehens, einer dunklen
Gebundenheit aller Beteiligten, von der sich nur die "wunderlichen Nachbarskinder" in heller Selbstbestimmtheit unterscheiden sollen.

Das mag sich vertreten lassen oder auch nicht - es ist nicht möglich, auf das Stimmengewirr aus solchen Überlegungen hier einzugehen. Es handelt sich dabei mehr um ein Sprechen
aus Anlass des Romans, als um ein Sprechen über ihn, wobei man oft genug den Eindruck hat, dass nicht die Genialität Goethes als vielmehr die der Interpreten damit vorgezeigt werden soll. Nur wo sich
Einzelnes markant auf bestimmte Textstellen beziehen lässt, wird deshalb auf solche Beiträge hingewiesen.
Eine Arbeit, weil sie gleich mehrere solcher Auslegungsrichtungen bündelt, soll allerdings genannt werden. Es ist Waltraut Wiethölters Abhandlung "Legenden. Zur Mythologie
von Goethes Wahlverwandtschaften". Nach ihrem Verständnis sind es drei Mythen, die dem Romangeschehen bedeutungserweiternd unterlegt sind. Der erste ist der Mythos von Narziss
und Echo. Narziss, der in sich selbst verliebte Jüngling, ist Eduard, die Nymphe Echo, die ihn liebt, aber nichts sagen, sondern nur "echoen" kann, ist Ottilie. In der Legende stirbt sie,
weil Narziss sie nicht erhört, und er, weil er sein im Wasser schwebendes Abbild nicht ergreifen kann. Die Wahlverwandtschaften lösen diesen Mythos nach Wiethölter
in viele Einzelmotive auf und zeigen auf diese Weise das Unfeste aller Sinnbezüge an, lassen "die Struktur des Textes noch deutlicher zutage treten".
Die zweite mythische Schicht ist die Marienlegende: Ottilie als christliche Heilige, die aber auch eine unheilvolle Eva ist, die erst durch ihren Verzicht auf einen Mann und
tiefe Selbsterkenntnis zu einer wahren Heiligen wird. Auch dieser Bezug stellt sich nach Wiethölter aber vielfach selbst in Frage, sodass die christliche Schlussbotschaft
des Romans keineswegs als dessen letzter Sinn verstanden werden darf.
Schließlich nimmt Wiethölter über das chemische Gleichnis hinaus einen großen alchimistischen Hintergrund in dem Roman wahr. Neben den vier Personen stehen die
vier Elemente, die vier Jahreszeiten, die vier Himmelsrichtungen, und es wohnen Männer und Frauen paarweise aufgeteilt auf des Schlosses rechtem und linkem Flügel. "Otto"
als Wort hat zudem genauso viele Buchstaben wie "Gott" und wird, mit dem heidnischen "Stein der Weisen" - lapis - verbunden, zu "Lotto", sodass Mittler mit seinem Lotteriegewinn
eigentlich Mephisto ist. Seine falsche Heilsbotschaft für das Kind Otto kostet den Pfarrer denn auch das Leben. Alles zusammen bewirkt, dass aus dem Roman wie in einem
alchimistischen Experiment ein ebenso wunderbares wie rätselhaftes poetisches Gleichnis wird.

Gustav Seibt und Oliver R. Scholz haben dem Fazit dieser Analyse, nämlich auf jede Sinnfestlegung für den Roman zu verzichten, entschieden widersprochen, auch wenn
sie deren Befunde nicht pauschal in Zweifel ziehen wollten. Dem ganzheitlichen Verstehen genüge eine "Doppelstruktur", machen sie geltend, eine Ebene des
bewussten Handelns der Romanfiguren einerseits und eine ihres hintergründigen Bestimmtseins andererseits.

So richtig das im Prinzip ist - ein viel grundsätzlicherer Einwand gegen das Motivausloten à la Wiethölter ergibt sich bei Seibt und Scholz aus einem
Nebenargument. Es ließen sich nur "viel zu geringe Teile des Romans" für eine dreifache mythologische Aufschlüsselung der
Handlung verwerten, wenden sie beiläufig ein. Und in der Tat: Nicht nur hier, sondern bei allen solchen Tiefschürfungen müssen neunzig Prozent des Textes als Abraum oder
Ballaststoff zur Seite gelegt werden, um die sogenannten "Früchte" zu bergen. Wozu ist der Roman dann da? Dass man das erzählte Geschehen
über die mythologische Grundierung besser begreift, wird nicht einmal von den Interpreten behauptet, und wer sich über Narziss und Echo, über Heiligenlegenden oder Alchimie
informieren möchte, wird sich ja wohl lieber anderen Büchern zuwenden.
Der einzige Zweck dieses Erschließungsaufwandes ist es, die Kunstqualität des Romans zu beweisen. Je mehr Anspielungen, Verknüpfungen, Hintersinnigkeiten darin
nachgewiesen werden können, desto besser soll das Werk sein. Dass sich Goethe alle diese Finessen und Spitzfindigkeiten tatsächlich ausgedacht hat, kann man mit guten Gründen
bezweifeln, hat er selbst sich doch schon über solchen Findefleiß lustig gemacht. "Im Auslegen seid frisch und munter! / Legt ihr's nicht aus, so legt was unter!" lautet ein Spruch aus den
Zahmen Xenien von 1821. Doch darauf kommt es nicht einmal an. Wichtiger ist: Selbst wenn er die Mehrfach-Symbolik in dem behaupteten Ausmaß in dem Roman angelegt hätte -
wäre das Ergebnis wirklich zu loben? Wird sein Werk dadurch eindringlicher, überzeugender, besser? Können uns gewisse Gezwungenheiten - die Ähnlichkeit der Namen, die Gleichheit
der Handschriften, das Aussehen des Kindes, Ottilies unverweslicher Leichnam usw. - dadurch interessanter werden? Schon bei den Zeitgenossen - und zumal den literarisch gebildeten - hat diese
Symbolik nicht funktioniert. Und heute sollen wir sie als große Kunstleistung bewundern? Es spricht nicht für die Literaturwissenschaft, dass sie das Vernunftgebot, dem sich jeder Nachdenkende eigentlich verpflichtet fühlen sollte, zugunsten einer sich selbst genügenden Gescheitheit so außer Acht lässt.
Erstes Kapitel
»... und wir dachten es uns so bequem, so artig, so gemütlich und heimlich, die Welt, die wir zusammen nicht sehen sollten, in der Erinnerung zu durchreisen. ... Dann hast du die
Abende deine Flöte wieder vorgenommen, begleitest mich am Klavier; und an Besuchen aus der Nachbarschaft und in die Nachbarschaft fehlt es uns nicht.«
Achim von Arnim schrieb am 5. November 1809 an seine spätere Frau Bettina über das Lebenskonzept von Eduard und Charlotte: "Diese Langeweile des unbeschäftigten,
unbethätigten Glückes ... hat er [Goethe] mit vieler Beobachtung in das Haus eines gebildeten Landedelmannes unserer Zeit einquartirt. Ich habe manchen der Art kennen
gelernt, und alle leiden an einer ganz eigenthümlichen Hypochondrie. Durch ihre Bildung von dem Kreise eigentlicher Landleute geschieden, ... ohne eine mögliche Richtung ihrer
Thätigkeit zur allgemeinen Verwaltung kochen sie ihre häusliche Suppe meist so lange über, bis nichts mehr im Topfe. Nirgends finden sich mehr Ehescheidungen als unter
diesen Klassen."
Während Arnim anscheinend für möglich hält, dass Goethe solchen Lebensverhältnissen eine Mitschuld an dem
Unglück der Beteiligten geben will, mit anderen Worten: eine Art Gesellschaftskritik übt, wird in einer Tagebuchaufzeichnung von Eduard Meißner, Teplitzer Badearzt,
eine solche Absicht ausgeschlossen. Für ihn findet Goethe an diesem Milieu viel zu viel Gefallen, als dass er es tadeln wollte. "Schon dieser Titel! Welche
Affektation darin! ›Müßiggang, aller Laster Anfang‹ wäre ein passenderer." In der Tat kann von einer Infragestellung von Eduards
untätigem Wohlleben nicht die Rede sein. Wenn auf ihn kein so gutes Licht fällt, dann nur wegen seines Charakters. "Ich mag ihn selber nicht leiden", sagte
Goethe im Januar 1827 zu Eckermann, "aber ich musste ihn so machen, um das Faktum hervorzubringen. Er hat übrigens viele Wahrheit, denn man findet in den
höhern Ständen Leute genug, bei denen ganz wie bei ihm der Eigensinn an die Stelle des Charakters tritt."