Vierzehntes Kapitel
Der Major entfernte sich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne jedoch das arme abgeschiedene Kind bedauern zu können.
Ein solches Opfer schien ihm nötig zu ihrem allseitigen Glück.
Die Gleichgültigkeit, mit der hier von allen über den Tod des Kindes hinweggegangen wird, hat etwas Befremdliches. Auch Eduard,
anstatt das arme Geschöpf zu bedauern, sah diesen Fall ... als eine Fügung an, wodurch jedes Hindernis an seinem Glück auf einmal beseitigt
wäre.
Selbst Charlotte scheint mehr die Frage zu beschäftigen, wie Ottilie mit dem von ihr verschuldeten Unglück fertig werden wird, als dass sie nach den Folgen für
sich selbst fragt. Und Ottilie? Ihr ganzes Schuldbewusstsein richtet sich auf ihre Antastung von Charlottes Ehe.
~~~~~~~~~~~~
»Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin.«
Dass sie auf das Kind vielleicht besser hätte Acht geben müssen, überhaupt viel zu wenig Interesse an ihm hatte, kommt ihr nicht in den Sinn. Der Tod des Kindes
ist Schicksal, ein Wink Gottes an sie, ihre ehebrecherischen Hoffnungen auf Eduard aufzugeben.
Man muss dazu aber bedenken, dass in jener Zeit der Tod eines Kleinkindes wegen der Häufigkeit, in der er vorkam, nicht so schwer wog. In nahezu allen Familien mit Kindern,
so stellt man bei näherem Hinsehen fest, gab es früh verstorbene Geschwisterkinder, und nicht einmal die nächsten Angehörigen wurden davon immer unterrichtet.
Goethes Christiane bekam fünf Kinder, doch nur das erste, der Sohn August, überlebte. Starb ein Kind, konnte ein neues kommen, auch hinsichtlich Ottilies richten sich
die Gedanken sofort darauf, dass sie Eduard bald "
den vollkommendsten Ersatz" für das ertrunkene Kind würde
leisten können.
Ist schon für den Erzähler dieser Todesfall von nur mittelbarem Interesse, so erst recht für die damaligen Leser. Die meisten verstehen in als einen "unglücklichen
Zufall" und nehmen nur Anstoß an dem Lakonismus, mit dem Goethe die Angelegenheit behandelt. Böttiger schreibt im Januar 1810 in der Zeitung für die elegante Welt, er
habe einige Mütter "mit ungewöhnlichem Affekt darüber sich auslassen hören". Wie man sich das zu denken hat, lässt sich dem Oesterreichischen Beobachter
vom März 1810 entnehmen. Man wisse nicht, heißt es dort, ob das Kind "ersäuft worden, weil es geboren, oder ob es zur Welt gekommen, damit die mütterlich liebende Ottilie
es ins Wasser werfen könne, bey welcher unglücklichen Begebenheit die Gleichgültigkeit des Vaters eine widerliche Wirkung thut". Überhaupt fällt auf Eduard wegen
seiner "Unempfindlichkeit, ja vielleicht sogar gewissermaßen Freude" über den Tod seines Sohnes - so die Formulierung im Morgenblatt für gebildete Stände vom März 1810 - hier ein besonders schlechtes Licht. Gegen die Wahrheit der Figur spricht das aber nicht.
