Dreizehntes Kapitel
»Großer Gott!«, ruft er aus, »wenn ich Ursache hätte, an meiner Frau, an meinem Freunde zu zweifeln, so würde diese Gestalt fürchterlich
gegen sie zeugen ...«
Es ist nicht leicht zu beurteilen, ob die doppelte Ähnlichkeit eines Kindes, weil die Eltern bei seiner Zeugung an jemand anderen gedacht haben, unter den frühen
Lesern des Romans noch für möglich gehalten wurde. Dass man Schwangeren den Anblick von verkrüppelten Menschen ersparen sollte, damit das erwartete Kind
keinen solchen Schaden nehme, war als Auffassung noch verbreitet. Aber auch eine Gesichtsbildung des Kindes je nachdem, wen die Eltern in der Umarmung vor Augen hatten?
In einer der ersten Besprechungen des Romans,
erschienen im Januar 1810 in der Halle'schen Allgemeinen Literatur-Zeitung, heißt es: "Die unbegreifliche Aehnlichkeit eines Kindes mit zwey Personen,
welche die Herzen der Aeltern in dem Augenblicke beschaeftigten, da der wunderbare Zwitter entstand, wird vielen Leserinnen Angst machen", doch würde "unser
ungläubig-abergläubisches Zeitalter" auch wohl davon angezogen sein. Das Morgenblatt für gebildete Stände vom 23. März 1810 bemerkt
demgegenüber, dass kaum jemand "sich mit der empörenden Idee wird vertragen können, daß zwey Gatten den gegenseitigen Liebesgenuß beyde
in der Einbildungskraft auf den Gegenstand ihrer strafbaren Neigung übertragen". Und Wieland schreibt im Juli 1810 an Böttiger, diese Erfindung hätte
eher in eine "Mönchslegende aus dem 14ten Jahrhundert" gehört als in einen Roman der Gegenwart.
Andere finden die behauptete Folge allerdings weniger deshalb empörend, weil sie sie für unwahrscheinlich, als weil sie sie für moralisch verwerflich
halten. Es werde "in dieser moralischen Hinsicht bey der Ähnlichkeit von Charlottens Kinde mit Ottilien und dem Major zu lange verweilt, zu oft darauf zurück gesehen",
schreibt der Oesterreichische Beobachter vom 23. März 1810. Aber auch, dass überhaupt bei einem Säugling eine solche Ähnlichkeit ins Auge fällt,
wird beanstandet. "Ein neugeborenes Kind sieht eher einem Laubfrosch als einem Menschen, viel weniger einer bestimmten Person ähnlich", bemerkt ein Leser aus Göttingen
am 18. März 1810. Die meisten jedoch lassen die Sache mit einem 'Der Dichter hat es so gewollt' auf sich beruhen. In der Epoche der Romantik und des Wunderglaubens, die
damals in der deutschen Geisteswelt anbrach, ließ sich auch mit einer solchen Konstruktion zurechtkommen.

Nur noch Spott allerdings hat 1827 Heinrich Heine in
seinen Reisebildern für diese Konstruktion übrig. Unter Hinweis auf Goethes Roman erklärt er in dem Nordsee-Teil, er habe in dem Haus eines
Geldwechslers festgestellt, dass die Kinder, weil die Frau die Münzen immer so sorgfältig betrachte, "eine erstaunliche Ähnlichkeit hatten mit
den größten Monarchen Europas". Und er fährt fort: "Deshalb ist das Gepräge der Münzen kein gleichgültiger Gegenstand für den Politiker.
Da die Leute das Geld so innig lieben und gewiß liebevoll betrachten, so bekommen die Kinder sehr oft die Züge des Landesfürsten, der darauf geprägt ist,
und der arme Fürst kommt in den Verdacht, der Vater seiner Untertanen zu sein."